themenstadtim wedding was neues

Teaser
DRUCKVERSION Im Wedding was Neues

Das Berliner Brunnenviertel ist längst nicht so schlecht wie sein Ruf

von UWE RADA

Es war auch der Blick. Wenn Jesko Fezer aus dem Fenster seiner Wohnung in der Hussitenstraße schaut, sieht er neben dem ehemaligen AEG-Gelände weißgetünchte Siedlungsbauten aus den siebziger Jahren. "Endlich mal keine Gründerzeitbauten", freut sich der 40-Jährige. "Nach zehn Jahren Altbau war es Zeit für etwas Neues."

'Das Neue' für Jesko Fezer und seine Familie ist für viele in Mitte und Prenzlauer Berg eine No-go-Area das Brunnenviertel im Süden des Wedding. Gerade erst hat das Quartier zwischen Nordbahnhof, Bernauer Straße und Mauerpark seinen Platz am unteren Ende des 'Monitorings soziale Stadtentwicklung' behauptet. Arbeitslosigkeit, Schulen mit hohem Migrantenanteil, Abwanderung – das ist die unheile Datenwelt der Statistiker. Jesko Fezer hat anderes im Blick: "Fensterbretter aus Naturstein, die offene Küche, die Durchreiche, das fand ich alles total entzückend. Zum ersten Mal lebe ich in einer Wohnung, die die Handschrift eines Architekten trägt."

Jesko Fezer ist selbst Architekt und Mitinhaber des Buchladens Pro Quadratmeter. Bevor er ins Brunnenviertel zog, hat er am Rosenthaler Platz gelebt, am Südende der Brunnenstraße, das früher zum Osten gehörte und heute den Backpackern. Seine Freundin wohnte in der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg. Mit dem Einzug in eine gemeinsame Wohnung haben sie sich sozusagen in der Mitte getroffen und dennoch den Schritt an den Rand gewagt – in eine andere Welt. Fezer sagt bewusst eine andere Welt, nicht eine schlechtere. "In Mitte hast du immer die gleichen Leute getroffen, im Buchladen, im Café, auf der Straße. Irgendwann kriegst du nicht mehr mit, was sonst noch passiert in der Stadt." Der Wegzug in die Hussitenstraße war auch eine Rückkehr in die Normalität.

Brunnenviertel heißt der südliche Teil des Weddinger Ortsteils Gesundbrunnen erst, seit die landeseigene degewo ihre Mieter über einen identitätsstiftenden Namen abstimmen ließ. Zuvor war das Viertel namenlos, Hinterlassenschaft der größten Kahlschlagsanierung in der Berliner Geschichte. Als aus dem lebendigen Quartier nach dem Mauerbau ein Krisenfall geworden war, waren die Bagger gekommen. Nach ihnen kamen die Architekten und die Betonmischer. Das Ende der verhassten Mietskasernen sollte den Beginn einer neuen Ära einläuten. Als in Kreuzberg Studenten und Auszubildende bereits gegen die Abrissbirne auf die Straße gingen, gewann Josef Paul Kleihues noch 1971 den Wettbewerb zur Neugestaltung des Vinetaplatzes. So kommt es, dass der degewo mit 5.100 Wohnungen fast das ganze Brunnenviertel gehört. Was von den einen als Schutz vor Gentrifizierung gesehen wird, gilt andern als die Wurzel allen Übels. Nur wenige, wie Jesko Fezer, sehen die Wahrheit in der Mitte.

Einer davon ist Eduard Heußen. Als ehemaliger Mitarbeiter des Forschungsinstituts empirica und Autor einer Studie zum Brunnenviertel hat er die Veränderungen im Gebiet beobachten können. "Mit einer aktiven Vermietungspolitik hat die degewo den Leerstand reduziert und das Viertel stabilisiert", freut er sich. "Auf der anderen Seite ziehen immer noch Familien weg, wenn die Kinder vor der Einschulung stehen." Diese 'Bildungsmigration' ist für Heußen das größte Hindernis für eine positive Entwicklung im Brunnenviertel.

Heußen ist nicht nur Analytiker, er handelt auch. 2003 hat er im Auftrag der degewo den Bildungsverbund Brunnenviertel ins Leben gerufen. Heute kann die großen Transparente an den sieben Schulen im Gebiet keiner übersehen. "Das sind wir" steht auf den Plakaten. In der Mitte haben die Schulen ihr Motiv angebracht, unten steht der Schulname. "Das schafft Zusammengehörigkeit", ist Heußen überzeugt.

Die hat das Viertel auch nötig. Bislang haben nur wenige Eltern aus Mitte und Prenzlauer Berg ihre Kinder auf einer Schule im Brunnenviertel angemeldet. Das soll sich ändern. An der Gustav-Falke-Grundschule in der Strelitzer Straße soll künftig eine spezielle Leistungsklasse eingerichtet werden. Dort kann lernen, wer im Sprachstandstest 'Bärenstark' mindestens 90 Prozent der Fragen richtig beantwortet hat. "Ein Angebot", nennt Heußen das, "für die bildungsorientierten Eltern, egal ob mit oder ohne Migrationshindergrund." Immerhin: Die Hälfte der Anmeldungen kommt aus Alt-Mitte – wohl auch, weil in der neuen Deutschklasse nur 24 Kinder lernen sollen. Sonst sind es in der Regel über 30.

Wenn in den Medien vom Brunnenviertel die Rede ist, dann meistens im Zusammenhang mit seiner Grenze im Süden. Die Bernauer Straße war einst Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin. Das Deutschlandradio hat sie unlängst Berlins "sozialer Äquator" genannt, nur dass die Sonnenseite nun im ehemaligen Osten liegt und über dem Westen der Schatten. Am Mauerpark ist die Grenze zwischen Gewinnern und Verlierern sogar physisch vorhanden. Ein 50 Meter breites und drei Kilometer langes Gewerbegebiet trennt den Prenzlauer Berg im Osten vom Brunnenviertel im Westen. Manch einem im hippen Szenebezirk ist das nicht unrecht. Türken- und Araberkids haben im Mauerpark bislang Seltenheitswert.

Selbst die junge Architektenszene hat um das Brunnenviertel bisher einen Bogen gemacht. Das Baugruppenprojekt 'Wohnen am Mauerpark', für die das Büro Ebers Architekten zusammen mit dem angrenzenden Wohn- und Geschäftshaus Strelitzer Straße 53 von Fat Koehl Architekten den Architekturpreis Berlin 2009 erhalten hat, entstand in Sichtweite zum Brunnenviertel auf der südlichen Seite der Bernauer Straße. So ungemütlich scheint der Blick auf die andere Seite, dass sich die Reihenhäuser fast wie eine Wagenburg um die innere Erschließungsstraße gruppieren. Lieber drin als draußen, so die unmissverständliche Botschaft.

An der Brunnenstraße 9 am Rosenthaler Platz haben Brandlhuber b&k+ Architekten ein Wohn- und Galeriehaus entworfen, das mit seiner Fassade in Form gestapelter Container eher einer "horizontalen Favela" (Slab Magazine) gleicht als der Wohlfühlarchitektur, die die kreative Szene sonst bevorzugt. Dennoch wurde es gleich nach Fertigstellung zum Ereignis. Wo es brummt, ist jedes – auch noch so kontroverse – Statement Teil des Brummens. Wo es abwärts geht, hilft nicht einmal Architektur. Selbst die architektonischen Highlights im Wedding – Gartenstadt Atlantic, Uferhallen, Rotaprintgelände – strahlen außerhalb des Brunnenviertels.

Wo aber liegen die Chancen des Gebiets? Gibt es tatsächlich Hoffnung, dass die Karawane, die sich an der Grenze zwischen Mitte und Wedding staut, den Weg über die Demarkationslinie findet? Bläst der Wind eher von Osten, also aus dem Prenzlauer Berg? Oder kann sich das Quartier aus eigener Kraft entwickeln?

Ein Lockangebot für die kreative Klasse aus Mitte hatte die degewo schon 2002 mit Wedding Dress # 1 geschaffen, einem Modeevent, für das die landeseigene Gesellschaft zahlreiche leerstehende Geschäfte in der Brunnenstraße zur Verfügung stellte. Ganz altruistisch war dieser Versuch der Norderweiterung von Mitte nicht, schließlich sollten die Designer den Boden für ein Outletcenter bekannter Modelabels ebnen. Nachdem aber mittlerweile auch Wedding Dress # 2, 3 und 4 ins Land gegangen sind, weiß jeder: Die Pläne sind gestorben. Hugo Boss und andere Labels hätten in der Brunnenstraße am eigenen Ast gesägt. Mitte mit seinem Flagship-Stores ist schließlich nur einen Katzensprung entfernt. Für die Designer, die in der Brunnenstraße bleiben wollen, ist es dagegen weit weg. "Wenn es gut läuft, kommen hier am Tag zehn Leute vorbei", sagt die Mitarbeiterin der auf ‚Character Design’ spezialisierten Westberlin Gallery. Bleibt die Hoffnung auf die Zukunft. Früher oder später, darauf bauen viele im Brunnenviertel, wird die Strahlkraft von Mitte den Norden erreichen.

Vorher aber könnte das Gebiet bereits Frischluft aus dem Osten bekommen. Nach jahrelangem Hin und Her hat der Bezirk Mitte einen Kompromiss zur Bebauung des Gewerbegeländes am Mauerpark gefunden. Damit ist nicht nur die Erweiterung des Parks von acht auf 14 Hektar gesichert. Auch einem Zugang zum Park vom Brunnenviertel steht nichts mehr im Wege. Als "Durchbruch" im wahren Sinne des Wortes feiert Mittes Baustadt Ephraim Gothe den Kompromiss, wohl wissend, dass da künftig zwei Milieus aufeinandertreffen, die das Kennenlernen noch vor sich haben. Das gilt nicht nur für die Seite in Prenzlauer Berg, weiß Gothe. Auch im Wedding gibt es große Vorbehalte gegen das Szenepublikum vom Kollwitzplatz. "Prenzlwichser" nennt mancher die in die Jahre gekommene Landjugend aus dem Schwäbischen, angelehnt an die Erfolgs-Soap "Gutes Wedding, schlechtes Wedding". Dennoch will Gothe als erste Baumaßnahme die Öffnung von der Lortzing-Straße vorantreiben. Wo heute zwei Zäune längs zur Erschließungsstraße des Gewerbegebiets an den Todesstreifen der Mauer erinnern und den Wedding vom Prenzlauer Berg trennen, soll ein Fuß- und Radweg bald den tatsächlichen Durchbruch bringen.

Gegen frischen Wind, etwa von den Touristen, die zum neuen Besucherzentrum der Mauergedenkstätte am Nordbahnhof strömen, hat auch Brita Wauer nichts. Ihre Hoffnung aber sind die, die schon heute im Brunnenviertel leben. Wauer ist Geschäftsführerin des Sanierungsträgers L.I.S.T. und als solche zuständig für das Quartiersmanagement Brunnenstraße. "Wir halten den Leuten nicht vor, was sie nicht können. Wir fragen sie, was sie können." Nach dieser Philosophie handelt auch das Projekt Wir im Brunnenviertel. Es führt Jugendliche an die Geschichte des Viertels heran: an die brummende Phase vor dem Mauerbau, als die Brunnenstraße der Ku'damm des Nordens war und die Lichtburg eines der größten Kinos der Stadt, aber auch an die Zeit nach der Teilung als die Leute ins Märkische Viertel mussten und die Bagger anrückten. "Wenn man genauer hinschaut", ist Wauer überzeugt, "löst sich das Stigma Wedding auf. Dann kann man das Brunnenviertel auch als Kleinod sehen, in dem die Leute sich aufrappeln und sich eben nicht in der Hoffnungslosigkeit einrichten."

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Was nicht nur Politiker und Planer wie Ephraim Gothe oder Gebietsenthusiasten wie Brita Wauer Sorge macht, ist die Infrastruktur. Während sich überall sonst, wo Medienleute arbeiten, Cafés mit Business Lunch und Coffee Shops ausbreiten, herrscht in der Voltastraße tote Hose. Die Mitarbeiter der Deutschen Welle haben sich in ihren Klinkerbau zurückgezogen wie in einen Bunker. Keine guten Aussichten, weder für die Mitarbeiter, noch für das Quartier.

Auch Jesko Fezer kennt die Geschichten. "Wenn ich in den Edeka nebenan gehe, brauche ich nach Espressocafé oder Balsamico-Essig gar nicht erst zu fragen." Dennoch freut er sich, dass immer mehr Bekannte in seine Nachbarschaft ziehen. Inzwischen hat sich sogar eine 'antibürgerliche Plattform Brunnenviertel' gegründet. Für Fezer ein sicherer Hinweis: "Das Brunnenviertel wird langsam cool."

DRUCKVERSION
nach oben