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DRUCKVERSION Sonderwohlfahrtszone

Im Rahmen der Ausstellung "Schrumpfende Städte" – "Shrinking Cities" der Kulturstiftung des Bundes wurde das Konzept der "Sonderwohlfahrtszone" entwickelt. Die Autoren Uwe Rada, Jesko Fezer und Stephan Lanz schlagen darin für eine schrumpfende Stadt wie Forst in der Lausitz eine Kombination von radikaler Deregulierung und bedingungslosem Grundeinkommen vor. Die "Sonderwohlfahrtszone" wurde in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig, dem Deutschen Architekturmuseum Frankfurt am Main und der Akademie der Künste in Berlin ausgestellt und hat eine breite Diskussion ausgelöst.

Regeln der Sonderwohlfahrtszone
Ein Plädoyer - Sonderwohlfahrtszone Ost
Sonderwirtschaftszonen in Polen
Presseberichte, Filme

 
Regeln der Sonderwohlfahrtszone

#1
DIE SONDERWOHLFAHRTSZONE IST EIN ORT LOKALER SELBSTVERWALTUNG UND DIREKTER DEMOKRATIE.
Der Bund setzt mit Hilfe eines Gesetzes die Sonderwohlfahrtszone ein. Staat und Kommune schließen den Sonderwohlfahrtszonen-Vertrag, der deren Regeln definiert. Die Kommune ist im Rahmen dieses Experiments ein  weitgehend eigenständiges lokales politisches System, das keiner allgemeinen Rechtsaufsicht übergeordneter Ebenen unterliegt. Die Sonderwohlfahrtszone gibt sich als Ergebnis einer basisdemokratischen Verhandlung eine Verfassung, die auf lokaler Selbstverwaltung und direkter Demokratie gründet.

#2
DIE SONDERWOHLFAHRTSZONE GARANTIERT EIN VORBEHALTSLOSES, EXISTENZSICHERNDES GRUNDEINKOMMEN FÜR ALLE EINWOHNER.
Hauptmerkmal der Sonderwohlfahrtszone ist das garantierte Grundeinkommen. Die Kommune verpflichtet sich, für ihre Mitglieder eine Daseinsvorsorge als vorbehaltlose soziale Grundsicherung in einer auskömmlichen Höhe zu gewährleisten. Dieses Grundeinkommen sichert die nötigen Lebenshaltungskosten auf einem einfachen Niveau, ermöglicht damit die Teilhabe an der Gesellschaft ohne den Zwang zur Erwerbsarbeit, steht  allen Einwohnern zu und wird zusätzlich zu allen Einkommen oder Verdiensten gewährt. Es besteht keine Arbeitspflicht. Gemeinwesenarbeit in Bildung, Sozialem und Gesundheit ist bezahlt und nicht geringer zu werten als Erwerbsarbeit
oder Tätigkeiten in der freien Wirtschaft.

#3
DIE SONDERWOHLFAHRTSZONE GRÜNDET AUF RADIKALER KOMMUNALISIERUNG UND DEREGULIERUNG VON ARBEITS-, BAU-, WIRTSCHAFTS- UND SOZIALRECHT.
Das dritte Grundprinzip der  Sonderwohlfahrtszone ist die weitgehende Kommunalisierung und dann Deregulierung von Arbeits-, Bau-, Wirtschafts- und Sozialrecht, soweit dies auf lokaler Ebene möglich ist. Bestimmte öffentliche Dienste, die bislang in der Hoheit übergeordneter staatlicher Ebenen liegen, werden auf die Kommune übertragen. Dies gilt etwa für Schulen oder das komplette Bauwesen auf dem Territorium der Sonderwohlfahrtszone. Nicht sinnvoll kommunalisierbare Regulierungen wie Straf- und Zivilrecht, Umweltschutz oder ähnliches bleiben davon unberührt. Der Kommune kommt lediglich die vertraglich mit dem Staat fixierte allgemeine Pflicht zu, mit Hilfe der pauschalierten staatlichen Mittel die notwendige Infrastruktur für eine Daseinsvorsorge einschließlich eines existenzsichernden Grundeinkommens zu garantieren. Sie bestimmt aber dessen Standards selbst. Diese Festlegung beruht auf der These, dass die bestehende Regulierungsdichte und die überlokale Zuständigkeit für viele Bereiche des Alltags das Tätigsein der Einwohner blockiert. Gleichzeitig definieren bestehende Regeln etwa im Bau- oder Wirtschaftsrecht Standards, deren Höhe und finanzieller Aufwand in keinem Verhältnis zum Schrumpfen und Sterben ganzer Städte steht. Das neue soziale Recht eines Grundeinkommens ermöglicht die Deregulierung etwa des Arbeitsrechts und produziert so eine neue Dynamik ökonomischer und gemeinnütziger Aktivitäten. Gleichzeitig wird allein dadurch eine komplette Bürokratie überflüssig, nämlich jene zur Verwaltung von Beziehern sozialer Transfers.

#4
DIE SONDERWOHLFAHRTSZONE ERHÄLT WEITERHIN STAATLICHE MITTEL IN GLEICHER HÖHE, ABER NICHT MEHR ZWECKGEBUNDEN SONDERN PAUSCHALIERT.
Die Sonderwohlfahrtszone geht davon aus, dass die bisherigen öffentlichen Mittel in ihrer Höhe dafür ausreichen, eine öffentliche Daseinsvorsorge auf lokaler Ebene zu gewährleisten, wenn sie anders eingesetzt und verteilt werden als dies der Fall ist. Daher wird die Summe der staatlichen Mittel, seien es Förderprogramme, Investitionsmittel oder soziale Transferleistungen, EU-, Bundes, oder Landesmittel, künftig als Pauschale an die Kommune überwiesen, die über ihre Verwendung selbst entscheidet. Die Mittelvergabe ist somit Sache eines partizipativen Bürgerhaushaltes. Für den Staat bleibt die Ausgründung einer Sonderwohlfahrtszone kostenneutral. Er leistet keine Mehrzahlungen und erhält zunächst auch keine Steuereinnahmen mehr. Da das Szenario von der Situation einer zusammengebrochenen Ökonomie ausgeht, verliert er allerdings auch keine Einnahmen.

#5
ÜBER DIE MITTEL DER SONDERWOHLFAHRTSZONE ENTSCHEIDET EIN RADIKAL PARTIZIPATIVER BÜRGERHAUSHALT.
Die pauschalierten staatlichen Zahlungen und die selbst erwirtschafteten städtischen Mittel verwaltet ein Bürgerhaushalt. Dieser geht weit über aktuelle Konzepte hinaus, die sich meist auf verbesserte Transparenz, öffentliche Beratung und Rechenschaft der Haushaltsaufstellung beschränken. Vielmehr bedeutet Bürgerhaushalt in der Sonderwohlfahrtszone lokale Selbstverwaltung in direkter Demokratie und damit die direkte Partizipation der Bewohner an der Aufstellung, der Entscheidung, der Realisierung und der Kontrolle über den Haushalt. Die Erfahrung des Orçamento Participativo der brasilianischen Millionenstadt Porto Alegre zeigt nicht nur ein erhebliches ziviles Engagement sondern auch eine gerechtere Verteilung städtischer Ressourcen und Finanzen. Ähnliche Formen der Selbstverwaltung sind auch in den anderen Bereichen kommunalen Handelns anwendbar. Bisherige "Bürgerbeteiligung" verwandelt sich damit zu einer echten Selbstverwaltung, in der Experten der Stadtverwaltung nur noch beratende, moderierende und technisch ausführende Rollen innehaben.

#6
DIE SONDERWOHLFAHRTSZONE FÖRDERT EINE KOMMUNALE BEWIRTSCHAFTUNG BRACHLIEGENDER FLÄCHEN IM INTERESSE DER NUTZER.
Großer Leerstand und Brachflächen sind Hauptkennzeichen schrumpfender Städte. Eigentümer von unrentablen Immobilien, die auf unabsehbare Zeit lediglich laufende Kosten verursachen, können diese an die Kommune übergeben. Möglich sind hier Erbpachtlösungen, die eine spätere Rückgabe an die Eigentümer ermöglicht. Die Sonderwohlfahrtszone gründet einen "Liegenschaftsfonds" in Form einer Stiftung oder Genossenschaft, also in Form neutralisierten Kapitals, der auch alle öffentlichen Grundstücke und Immobilien verwaltet. Alle Bewohner haben das Recht, brachliegende Immobilien gegen eine minimale Gebühr zu nutzen. Die Aufhebung der Baugesetzgebung ermöglicht unkomplizierte, preisgünstige und temporäre Nutzungen wie Ackerbau, Wohnraumerweiterung, Tierzucht, Freizeit, kollektive Aktivitäten, kulturelle Nutzung, Kleingewerbe, Gastronomie, Handel und Autoreparaturen.

#7
IN DER SONDERWOHLFAHRTSZONE ENTSCHEIDEN DIE BÜRGER ÜBER DIE BESTEUERUNG VON EINKOMMEN UND VERMÖGEN.
Auch über die Erhebung und Verwendung von Steuern entscheidet die kommunale Selbstverwaltung. Es entsteht nicht per se eine Steueroase. Im Gegenteil sind eher höhere Abgaben für Einwohner und Unternehmen als im Bundesvergleich vertretbar und zu erwarten, da das Grundeinkommen zusätzlich zu anderem Einkommen und Eigentum zur Verfügung steht.

#8
DIE SONDERWOHLFAHRTSZONE IST GRUNDSÄTZLICH OFFEN FÜR ZUZUG.
Die Sonderwohlfahrtszone ist ein offenes System. Der Zuzug wird nicht begrenzt. Unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in Deutschland haben alle Einwohner uneingeschränkte Niederlassungs-, Arbeits- und Gewerbefreiheit sowie alle sozialen Rechte der Sonderwohlfahrtszone. Der Staat verrechnet für jede Person, die innerhalb Deutschlands in die Sonderwohlfahrtszone umzieht, den eventuellen Bezug individueller Transferleistungen gegen die eventuell gezahlten Steuern. Überwiegen Transferzahlungen, stehen diese der  Sonderwohlfahrtszone zu, überwiegen Steuern, hat die Sonderwohlfahrtszone die entsprechende Summe an den Staat abzuführen. So würde der Zuzug werktätiger Steuerzahler das  Gesamtbudget der Sonderwohlfahrtszone reduzieren, der Zuzug von Transferbeziehern dieses erhöhen.

#9
DIE SONDERWOHLFAHRTSZONE WIRD SCHRITTWEISE UND LOKAL MODIFIZIERT DURCH DIE BEWOHNER SELBST EINGEFÜHRT.
Die Sonderwohlfahrtszone wird schrittweise eingeführt. Zu jedem Zeitpunkt sind Änderungen möglich. Der Erprobung eines Schrittes folgt seine Modifikation und das Formulieren des nächsten. Die Verfasser gehen nicht davon aus, dass eine Sonderwohlfahrtszone automatisch Schrumpfung stoppt, auch entsteht dort von selbst kein glücklicheres Gemeinwesen und keine wirtschaftliche Prosperität. Die Vermutung ist jedoch, dass die Abhängigkeit von Transferleistungen und die damit verbundene Unmündigkeit überwunden werden kann und vorhandene Möglichkeiten oder Vorstellungen eine andere Stadt denkbar werden lassen, die schlechter als die bestehende Formation nicht sein kann. Die Sonderwohlfahrtszone ist kein Masterplan sondern ein offenes Experiment, das durch intensive Mitbestimmung und lokale Selbstverwaltung seine eigenen Modalitäten erarbeitet und die Chance der Abwesenheit einer funktionierenden lokalen Ausprägung des kapitalistischen Marktes nutzt.


Sonderwohlfahrtszone Ost. Ein Plädoyer

Wenn sich am 3. Oktober zum 15. Mal der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland jährt, wird allenthalben wieder Bilanz gezogen. Noch-Ostminister Manfred Stolpe wird die Erfolge der deutschen Einheit loben, auch wenn diese noch nicht vollendet sei. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck wird auf seinen Politikwechsel hinweisen, sich künftig auf die Wachstumskerne des Landes konzentrieren, auch wenn dieser Wechsel in den Mühen der Ebene ins Stocken gekommen ist. Und alle zusammen werden Politiker und Unternehmer davor warnen, die Fördergelder für den Osten in Frage zu stellen. Ohne Geld aus dem Westen, so geht das nun schon seit 15 Jahren, kein Aufschwung Ost.

Dabei ist längst klar: Dieser Aufschwung kommt nicht mehr. Die ihn mit ihrem Know-how und ihrem Engagement bewerkstelligen können, sind längst im Westen, der Rest "verödet und verblödet", wie es der Soziologe Ulf Mathiesen einmal drastisch formuliert hat. Außer einigen "Leuchttürmen" wie in Leipzig, Dresden oder Jena sind die ostdeutschen Regionen von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt, und zwar auf Dauer. Mitten in Europa ist damit ein deutscher Mezzogiorno entstanden, ohne dass die politisch Verantwortlichen auf die Herausforderungen, die sich daraus ergeben, vorbereitet wären.
Warum aber nicht in diese Lücke stoßen und im Osten probieren, was im Westen nirgends möglich wäre. Warum nicht das Wort vom "Osten als Avantgarde" ernst nehmen und mutig vorangehen? Dass im Osten die Uhren anders schlagen, ist bekannt: Gegen den Mainstream aus dem Westen fordern ostbrandenburgische Bürgermeister die Öffnung ihrer Arbeitsmärkte für Bürger aus den neuen EU-Ländern. Selbst für PDS-Politiker ist eine Sonderwirtschaftszone nichts Unanständiges, sondern eine letzte Chance mehr.

Sonderzone ist der Osten tatsächlich: politisch (Wahlverhalten), wirtschaftlich (hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne), kulturell und historisch. Sonderzone werden weite Teile Ostdeutschlands auch, wenn sich das Förderparadigma Wachstumskerne zwischen Rügen und Erzgebirge durchsetzen wird. Dann wird es Regionen geben, aus denen sich der Staat mit seinen Fördermitteln zurückzieht, Regionen, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch abgehängt, ja sogar sich selbst überlassen werden.

Bevor es so weit ist, sollten sich die Verantwortlichen Folgendes überlegen: Warum nicht eine Zeit lang in einem begrenzten Gebiet die Fördergelder in der bisherigen Höhe weiter gewährleisten, sie vor Ort aber nicht zum Bau beleuchteter Kuhwiesen benutzen, sondern ihren Einsatz den Bürgern überlassen? Warum nicht die Bewohner einer Stadt oder Kommune aus der kommunalen Hoheit von Bund und Land entlassen und ihnen die Möglichkeit geben, ein Gemeinwesen nach eigenen Vorstellungen und Regeln aufzubauen? Warum nicht, wenn es keine teuren Kreisabgaben oder Beamtenpensionen mehr zu zahlen gibt, ein Bürgergeld einführen, das deutlich höher ist als Hartz IV? Warum nicht darauf vertrauen, dass soziale Sicherheit die Menschen aktiviert, anstatt sie in die Hängematten zu treiben?

Und warum nicht auf der anderen Seite deregulieren? Warum nicht den Kündigungsschutz abschaffen und die Tarifbindung? Warum nicht auf die Dynamik einer Sonderwirtschaftszone hoffen, die etwa in Polen längst Wachstum gebracht hat. Eine solche Mischung aus Wohlfahrts- und Wirtschaftszone, also eine Sonderwohlfahrtszone, wäre 15 Jahre nach der Einheit ein Signal, dass man angesichts des gescheiterten Aufschwungs Ost bereit wäre, neue Wege zu gehen und das Wort vom Laboratorium ernst zu nehmen. Und es wäre eine Synthese des alten mit dem neuen Europa, zwischen rheinisch-kapitalistischer Sicherheit und osteuropäischem Tigerkapitalismus, die Synthese mithin der beiden kulturellen Lager, die sich in Deutschland gegenüberstehen: das der Bewahrer und das der Veränderer.

Die polnische Deutschlandkennerin und Leiterin des Westinstituts in Posen, Anna Powieska-Wolff, hat den ostdeutschen und polnischen Weg in den Kapitalismus einmal so formuliert: Die Polen seien zwar arm, aber mit einem Gewinn an Souveränität aus der Transformation hervorgegangen, die Ostdeutschen dagegen mit Milliarden an Transfergeldern, aber einem Verlust an Souveränität. Der Mut zu Experimenten ist somit ein Beitrag dazu, was im Osten nach dem Eingeständnis des Scheiterns auf der Tagesordnung stehen müsste: das Ringen um ein Mehr an Souveränität. Gedankenspiele wie das einer Sonderwohlfahrtszone Ost gehören dazu ebenso wie die Debatte um Schrumpfung oder die Zukunft nach dem Ende der Erwerbsarbeit.

Erschienen in der Bundeszentrale für Politische Bildung


Sonderwirtschaftszonen in Polen

Als im April 2004 eine Kommission unter Leitung des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi den Aufbau Ost für gescheitert erklärte, war nicht nur von einer Konzentration der Förderpolitik auf so genannte Wachstumskerne oder Leuchttürme die Rede. Gefordert wurde auch, in den ostdeutschen Grenzregionen zu Polen und Tschechien so genannte Sonderwirtschaftszonen einzurichten. "Wir werden sehr sorgfältig prüfen müssen, was wir dort an Deregulierung vornehmen können und was steuerlich machbar ist", sagte Dohnanyi. Zur Begründung sagte er, dass sich gerade die ostdeutschen Grenzregionen zu Polen und Tschechien wegen der EU-Erweiterung in einem besonders schwierigen Standortwettbewerb befänden.

Neu war die Forderung nach Sonderwirtschaftszonen (SWZ) in Ostdeutschland nicht. Schon im Herbst 1990 hatte der damalige Bundeswirtschaftsminister Helmut Haussmann (FDP) ein Niedrigsteuergebiet-Ost vorgeschlagen. Der Großteil der Steuern sollte im Vergleich zum Westen um ein Viertel gekürzt werden. Unterstützt wurde die Forderung vom damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und dem ehemaligen SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller. Was die Dohnanyi-Kommission 14 Jahre später erneut zum "Evergreen der Wirtschaftspolitiker" (Berliner Zeitung) greifen ließ, waren die Erfahrungen, die man in Polen mit solchen Sonderwirtschaftszonen gemacht hatte. Leuchtendes Beispiel war die Ansiedlung eines nagelneuen Opel-Werks in der Sonderwirtschaftszone Gliwice/Gleiwitz.

Schon 1994 hatte die Regierung in Warschau der Einrichtung von 14 Sonderwirtschaftszonen ("Strefa specjalna ekonomiczna") zugestimmt. Ausgangspunkt für die Entscheidung war die Erfahrung zunehmender regionaler Polarisierung im boomenden Polen der Nachwendezeit. Der Wirtschaftswissenschaftler Łukasz Burkiewicz hatte damals beobachtet: "Bestimmte Regionen, die an der Peripherie des Landes liegen und aus geografischen Gründen mit den großen Städten keine ökonomischen Beziehungen haben, sind mit erheblichen Problemen konfrontiert, die in vielen Fällen ohne die Hilfe des Staates nicht überwunden werden können."1 Auf die staatliche Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen, regional begrenzte Gebiete also, in die Unternehmer vor allem durch radikale Senkungen von Körperschafts- und Einkommenssteuer gelockt werden sollten, hatte man sich nach Ansicht von Burkiewicz vor allem deshalb verständigt, weil es an finanziellen Mitteln für eine aktive Wirtschaftsförderung fehlte.

Anders als in der deutschen Debatte 2004 konzentrierte Warschau seine SWZ allerdings nicht an der Grenze zu Deutschland, sondern verteilte sie auf das ganze Land. Sonderwirtschaftszonen entstanden in Mielec, Katowice, Suwałki, Legnica, Łódz´ , Wałbrzych, Kamienna Góra, Słupsk, Starachowice, Tarnobrzeg, Sopot, Olsztyn und als Technologiepark in Krakau. In Łódz´ zum Beispiel sollte die Ansiedlung von Hightechbetrieben und Forschungseinrichtungen den Verlust von Arbeitsplätzen infolge des Niedergangs der Textilindustrie kompensieren. Dieser war auch durch die Ausgründung von kleinen Textilklitschen nicht aufzuhalten. Vom einzigen Textilzentrum Polens war Ende der 1990er Jahre nur ein gigantischer Basar übrig geblieben – gelegen in Tuszyn an der Autobahn nach Katowice, untergebracht in ehemaligen Flugzeughallen, die aus der Ukraine importiert wurden.

Und siehe da: Die Sonderwirtschaftszone in Łódz´boomt: Vor kurzem erst konnte ein neuer Investor an Land gezogen werden. Der Computerhersteller Dell will sein zweites Werk in Europa in Polen bauen – und hat sich nicht für Warschau oder Posen entschieden, sondern für Łódz. 200 Millionen Euro sollen zunächst investiert werden, tausend Menschen sollen Arbeit finden. Wenn alles gut läuft, heißt es im Rathaus, könnte die Investition bei den Zulieferbetrieben 10.000 neue Jobs schaffen.

Mitt Billiglöhnen hat das nichts mehr zu tun, erklärt Martin Nowaki, der Chef der Sonderwirtschaftszone. Der 24-jährige sitzt in seinem Büro im Süden der Stadt und rechnet vor: 2005 konnte seine Sonderwirtschaftszone 16 Unternehmen nach Lódz holen, 2006 waren es bis zum Herbst bereits 25. Und der Boom wird weitergehen, verspricht Nowacki. "Krakau, das ist in Polen Vergangenheit, Warschau ist die Gegenwart, die Zukunft heißt Lódz."

Natürlich, räumt Marcin Nowacki ein, sind die niedrigen Löhne für die Hochqualifizierten ein weiterer Grund, ins Ausland zu gehen. Auf der anderen Seite ziehen billige Mieten und Lebenshaltungskosten auch junge Leute in die Stadt. "Lódz", sagt Nowacki, "ist inzwischen die beliebteste Studentenstadt in Polen. Nirgendwo lässt es sich mit wenig Geld so gut leben wie hier." Das haben inzwischen auch andere Unternehmen entdeckt. Nicht nur Dell kommt in die zweitgrößte polnische Stadt. In jüngster Zeit haben unter anderem Bosch-Siemens-Hausgeräte, General Electric, Gillette, Coca Cola, Philipps und ABB in Lodz investiert. Zu den Tausenden von kleinen und Kleinstunternehmern, die nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie und der Märkte in der Sowjetunion ihr Glück versuchten , bilden sie das Rückgrat des neuen Aufschwungs im "Hinterhof von Warschau."

Die einzige SWZ an der Grenze zu Deutschland wurde die Kostrzynsko-Słubicka Strefa Specjalna Ekonomiczna in Kostrzyn und Słubice (KSSSE). Kaum war Letztere 1997 ins Leben gerufen, wurden auf der deutschen Seite Befürchtungen laut, die polnische Seite der Grenzregion könnte die ostdeutsche an wirtschaftlicher Dynamik abhängen. Formuliert wurden diese Bedenken nicht selten im Gewand wohlwollender Ratschläge. Namentlich die mexikanische Maquiladora-Industrie, das heißt die Niedriglohnproduktion in Weltmarktfabriken an der Grenze zu den USA, wurde als Schreckensbild an die Wand gemalt. In Kostrzyn und Słubice zeigte man sich ob solcher Befürchtungen allerdings gelassen. Man setzte weniger auf Niedriglohnproduktion als, wie bei Opel in Gleiwitz, auf Qualität. Die polnische Seite behielt Recht. Rückblickend betrachtet habe sich an der deutschpolnischen Grenze keine Niedriglohnproduktion angesiedelt, bilanzierte der an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrende Wirtschaftsgeograf Stefan Krätke 2003. "Die so genannte Lohnveredelungsindustrie, also Firmen, die nur wegen des niedrigen Lohnniveaus investieren, haben Polen, aber auch Tschechien schon verlassen. Die findet man nun in Rumänien. Polen dagegen ist als Wirtschaftsstandort nur interessant, wenn es auch um qualifizierte Investitionen mit viel Knowhow geht."

Das betraf vor allem die SWZ in der Nähe der polnischen Großstädte und die Verfügbarkeit von hoch qualifizierten Arbeitskräften. In der Grenzregion zu Deutschland dagegen stagnierte die KSSSE. Bis 2002 hatte sich dort nur eine einzige deutsche Firma niedergelassen: der Bremer Wursthersteller Könecke, der in Słubice Salami verpacken lässt. Ähnlich wie der Vorzeigefirma der KSSSE, dem kroatischen Suppenhersteller Podravka, ging es Könecke bei der Standortentscheidung aber weniger um die Lohnvorteile als vielmehr darum, von Słubice oder Kostrzyn aus den polnischen Markt zu erschließen. Der Versuch, mit einer Sonderwirtschaftszone der strukturschwachen Region in der Woiwodschaft Lubuskie auf die Beine zu helfen, schien gescheitert.

Erschwerend kamen im Vorfeld des polnischen Beitritts die Wettbewerbsbestimmungen aus Brüssel hinzu. Eine Befreiung der Körperschaftssteuer auf zehn Jahre sowie eine weitere Ermäßigung um 50 Prozent für weitere zehn Jahre war nicht mit dem EU-Wettbewerbsrecht vereinbar. Auf Druck der Brüsseler Wettbewerbshüter mussten die Steuererleichterungen reduziert werden. Seit 2000 können nur noch 50 bis 65 Prozent der Investitionssumme steuerlich geltend gemacht werden.

Gescheitert sind die polnischen SWZ dennoch nicht. Auch nicht in Kostrzyn und Słubice. Im Gegenteil: Seit der EU-Osterweiterung ist ein neuer Aufschwung in der KSSSE zu beobachten. Vor allem deutsche Firmen zeigen nun besonderes Interesse, auf der polnischen Seite der Grenze zu investieren, sagt der Sprecher der KSSSE, Dariusz Lesicki. Im Vergleich zu 2002 seien die Investitionen um das Doppelte auf nunmehr 220 Millionen Euro gestiegen. Im gleichen Zeitraum seien 1.800 neue Jobs entstanden. Was die KSSSE für deutsche Investoren nun interessant macht, ist die Grenznähe. Seit dem Wegfall der Zollgrenzen sind auch die Staus an den Grenzübergängen verschwunden.

Der neuerliche Aufschwung aber kann nicht darüber hinwegtäuschen: Auch in Polen ist die Tertiarisierung in vollem Gange. Die SWZ sind Angebote für industrielle Fertigung internationaler Unternehmen, für die Dienstleistungsbranche spielen sie keine Rolle. Man kann es auch so sagen: Je mehr die Dienstleistungswirtschaft in den Vordergrund tritt, desto mehr findet der Ausgleich verschiedener Wohlstandsniveaus nicht in den Sonderwirtschaftszonen auf der polnischen, sondern auf der deutschen Seite statt.

Nicht die polnischen Sonderwirtschaftszonen sind heute das Schreckgespenst, sondern Dumpinglöhne für polnische Dienstleister in Deutschland. Die gegenwärtige Diskussion um die Dienstleistungsrichtlinie und das Entsendegesetz ist dafür beredtes Beispiel. Sonderwirtschaftszonen gibt es nicht nur in Polen, sondern auf jeder deutschen Baustelle und in jedem deutschen Haushalt.

Erschienen in Philip Oswalt (Hg.): Schrumpfende Städte. Band 2: Handlungskonzepte. Ostfildern 2005

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