themenstadtzwischen börse und basar

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DRUCKVERSION Zwischen Börse und Basar

Die Zukunft der Stadt liegt in Osteuropa

von UWE RADA

I.

Wo liegt Warschau?

Wo lag es? Wo wird es liegen?

Solche Fragen stellt man sich derzeit mehr als sonst in der polnischen Hauptstadt. Warschau, das ehemalige "Paris des Ostens" feiert nämlich Geburtstag, fünfzigjährigen Geburtstag. "Caly naród buduje swoja stolice" - "Das ganze Volk baut seine Hauptstadt". So hatte es schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg geheißen, in dem das alte Warschau dem Erdboden gleich gemacht worden war. Im Juli 1953 war es schließlich soweit. Die polnische Regierung übergab den Warschauern die wiederaufgebaute Altstadt.

Doch das war erst der Startschuss für eine der wohl eindrucksvollsten Stadtgründungen des 20. Jahrhunderts. In den Jahren darauf sollten auch noch die aus dem 16. Jahrhundert stammende Stadtmauer wiederaufgebaut werden, die Patrizierhäuser und Adelspaläste entlang der Krakowskie Przedmiescie, die elegante Flaniermeile Nowy Swiat, die über den Lazienki-Park bis zum Schloss Wilanów führt, sowie, als Schlusspunkt 31 Jahre nach der feierlichen Übergabe der Altstadt, das Warschauer Königschloss.

Wo liegt Warschau?

Die Frage schien vorerst beantwortet. Das war nicht immer so. Nachdem die deutschen Besatzungstruppen zuerst das jüdische Ghetto und ein Jahr später die gesamte Stadt am westlichen Weichselufer in Schutt und Asche gelegt hatten, nachdem nur wenige der 360.000 Juden der Stadt den Holocaust überlebt hatten und 150.000 Widerstandskämpfer bei der Verteidigung des Warschauer Aufstands gefallen waren, hatte man nicht mehr gewusst, wo Warschau lag. Deshalb hatte es erbitterte Debatten um die Zukunft der Stadt gegeben. Sollte man Warschau wieder nach historischem Vorbild aufbauen und damit auch der bürgerlichen Stadtbaukunst die Ehre erweisen? Oder sollte man die Zerstörungen der Nazis, die "tabula rasa" zum Anlass nehmen, die Stadt ganz nach den Regeln des modernen Städtebaus neu zu erfinden? Oder sollte man gar die polnische Hauptstadt an anderem Ort wiederaufbauen, in den masowischen Wäldern zum Beispiel oder bei Lódz ?

Dass sich auch die polnischen Kommunisten - wie später in Danzig und im Gegensatz zu Stettin - für die historische Rekonstruktion entschieden hatten, hatte seinen Grund darin, dass die Bedeutung des kulturellen Erbes für die Wiederfindung der polnischen Identität schwerer wog als die städtebaulichen Ideen einiger Architekten und Städtebauer.

Warschau, das vom ganzen Volk als seine Hauptstadt gebaut wurde, war wieder auferstanden, auch wenn die Generation der Eltern und Großeltern darin umgekommen war. Die Unesco sollte dieser Geschichts- und Identitätspolitik 1980 sogar einen späten Triumph verschaffen. Als einzige Kopie weltweit wurde die wiederaufgebaute Warschauer Altstadt zum Weltkulturerbe erklärt.

Doch gibt es da nicht noch ein anderes Warschau, das der Marzalkowska und der Jerozolimskie, da Warschau des sozialistischen Städtebaus mit dem Kulturpalast als Stadtkrone? Noch immer heißt es, sei dieses Geschenk der Sowjetunion den Warschauern verhasst. Für viele Jugendliche ist es dagegen schon Pop. Da unterscheidet sich Warschau nicht von Berlin.

Wo also liegt Warschau? Heute?

Wer die Altstadt und die Marzalkowska hinter sich lässt und über einer der sieben Weichselbrücken nach Praga geht, hat ein anders Warschau vor sich als das der Touristen am Altstadtmarkt oder das geschäftige Leben rund um den Kulturpalast. Im weitgehend unzerstörten Stadtteil Praga beginnt "Polen B", der östlich der Weichsel gelegene Teil des Landes, das polnische Armenhaus. In Praga steht auch das Stadion Dsiesieciolecia.

Hier haben Händler ihre Waren ausgebreitet, Schmuggelgut zumeist oder gefälschte Markenprodukte. Sie verkaufen Zigaretten, Wodka, Unterwäsche, Hundefutter, Plastikpalmen, Fahrräder, Hochzeitskleider, Levis-Jeans. Manchmal stehen alte Frauen zwischen den Händlern, mit nichts als einem Sack Kartoffeln oder ein paar Zwiebeln in der Hand.

Weiter unten, vor dem Stadion, geht es geordneter zu. Statt wackliger Tische gibt es richtige Marktstände, Gassen, geordnet nach dem Sortiment der Waren. Hier findet man Elektroartikel, Autozubehör, Textilien.

Alle Sprachen des Ostens sind rund um das Stadion in Praga vertreten: Polnisch, Russisch, Ukrainisch, Lettisch, Vietnamesisch. Der "Jarmark Europa", wie der Markt ganz offiziell heißt, ist einer der großen Basare Osteuropas. Nachdem er vom Plac Defilad rund um den Kulturpalast Anfang der Neunziger in das Stadion umgezogen war, war er umsatzmäßig sogar einmal das größte Unternehmen in Polen. Und er ist ein Teil einer grenzüberschreitenden Basarwirtschaft, die vom chinesischen Markt in Budapest über den Textilmarkt in Tuszyn bei Lódz bis zum Markt "am siebten Kilometer" in Odessa reicht.

Auf dem Oberring des Stadions sieht man aber noch ein anderes, das neueste Warschau. Es ist ein grandioser Anblick. In der Ferne, am andern Weichselufer, erhebt sich die Warschauer Skyline. Hier sitzen all die Global Player, die man sich in Berlin so sehr gewünscht hat. Man kann sich richtig vorstellen, wie sie in ihren gläsernen Hochhäusern rund um den Kulturpalast sitzen, die Osteuropaexperten der multinationalen Konzerne, die Marktscouts und die Investoren, und über die nächsten Stationen ihrer Eroberung grübeln. Ist Minsk zu unsicher? Was wird aus der Ukraine? Nicht lieber gleich nach China?

Zwischen dem "Jarmark Europa" mit seinen ukrainischen, weißrussischen und vietnamesischen Händlern und den Chefetagen in den Hochhäusern im Geschäftszentrum liegt nicht nur die Grenze zwischen "Polen A" und "Polen B". Hier zeigt sich auch die Entwicklung der osteuropäischen Metropolen in ihren Extremen. Hier der gläserne Protz der Global Player, dort die Armseligkeit osteuropäischer Überlebensökonomie. Hier die Börse, dort der Basar.

II.

Als im November 1989 in Berlin die Mauer fiel, war nicht nur das Ende der deutsch-deutschen Teilung besiegelt, sondern auch das Ende der Teilung Europas. Am Ende des 20. Jahrhunderts mit seinen Millionen von Toten und seinen zerstörten Städten sollte fortan der Bau eines neues Europa beginnen. Dieses neue Europa hatte viele Gesichter: die Demonstrationen am Wenzelsplatz in Prag und am Alexanderplatz in Berlin; die Hunderttausenden Händler aus Polen, die den Potsdamer Platz beinahe über Nacht in einen Polenmarkt verwandelt hatten; die Heimattouristen, die nun in Breslau und Stettin unterwegs waren; und nicht zuletzt die Dichter und Dissidenten an den Runden Tischen in Prag, Warschau und Budapest, die nicht nur Demokratie und Pressefreiheit forderten, sondern auch die "Rückkehr" ihrer Länder nach Europa.

Dieser Rückkehr nach Europa, meint der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, folgte bald auch die Rückkehr der Städte dieser Länder nach Europa: "Wer derzeit in den Städten des östlichen und mittleren Europa unterwegs ist", sagte Schlögel in einem Vortrag beim Berliner Stadtforum 1996, "traut seinen Augen nicht. In Riga werden die Jugendstilviertel renoviert, die Altstadt ist schon fertig, das Schwarzhäupterhaus, von dem nichts geblieben war, wird derzeit wieder aufgebaut. Vilnius: das 20-stöckige einstige Intourist-Hotel 'Lietuva' jenseits des Flusses ist fast leer, denn die Touristen ziehen die vielen neu entstandenen Pensionen und kleinen Hotels am Gediminas-Prospekt vor. Prag: 40 Millionen Touristen pro Jahr wollen die mitteleuropäische Metropole sehen und treffen sich logischerweise an dem Punkt, wo sie am mitteleuropäischsten ist: auf der Karlsbrücke." Man könnte, so Schlögel, noch viele Beispiele anführen: "den Boom in Breslau und Posen, den neuen Glanz in den Wolgastädten, sogar Kaliningrad, jene Stadt ohne Zentrum, die mit der Wiederherstellung des Königsberger Doms begonnen hat."

"Alles hat sich verändert", war Schlögel begeistert, "der Rhythmus, das Verkehrsaufkommen, die Lebens- und Umgangsformen, die Schaufenster. Wir sind Zeugen der Wiedergeburt des Cafés, der städtischen Tugenden wie Distanz und Höflichkeit, des schamlosen Elends und Verbrechens. Die größte Sehenswürdigkeit, die man derzeit in den östlichen Städten besichtigen kann, ist: das Ende der Stadt als staatlicher Veranstaltung die Wiedergeburt der Stadt der Bürgerschaft."

III.

Sind die Städte des Ostens also in Ordnung? Zurückgekehrt nach Europa und voller Bürgersinn?

Werfen wir einen Blick auf Vilnius. Die 316 Zimmer des Hotels "Lietuva" sind inzwischen renoviert. Und sie sind ausgesprochen beliebt. Vom nördlichen Ufer der Neris aus hat man einen wunderbaren Blick auf das Stadtzentrum der litauischen Hauptstadt.

Der Gediminas-Prospekt dagegen war vor einigen Jahren noch eine Großbaustelle. Nicht, dass die Gründerzeithäuser am Prachtboulevard nicht schon renoviert worden wären. Doch das hatte Arturos Zuokas nicht gereicht. Der junge, dynamische Bürgermeister von Vilnius wollte mehr. So wurde 2001 mit dem Bau eines unterirdischen Parkplatzes begonnen, 4.850 Quadratmeter groß mit Platz für 260 Autos. Die Kosten betrugen 23 Millionen Euro. Das ganze war, wie Zuokas offen zugab, auch eine Vorleistung gegenüber der Novotel-Gruppe, die damit gedroht hatte, ohne die öffentlichen Investitionen ihr geplantes Hotelprojekt nicht zu realisieren. Bei der Rückkehr nach Europa sollte, wenn schon, denn schon, nicht gekleckert, sondern geklotzt werden. Nicht nur in Warschau und Moskau, sondern auch in den baltischen Staaten.

Diese Form von Public-Private-Partnership, bei dem die Gewinne privatisiert, die Verluste aber sozialisiert werden, kennen wir auch von unseren Städten. In Vilnius aber sollte nicht nur die Kommune die Verluste zahlen, sondern auch der Staat, und zwar zu 65 Prozent. Kein Wunder, dass Zuokas nicht nur die Bürger seiner Stadt gegen sich aufbrachte, sondern auch die in der Provinz. Es hagelte Proteste, und so kam es, dass Arturos Zuokas wenigstens auf eines seiner Prestigeprojekte verzichten musste - den Einbau einer Bodenheizung unter dem Gediminas-Prospekt. Die hatte sein Planungsstab bis zu diesem Zeitpunkt noch tapfer projektiert.

Beispiele wie dieses gibt es viele im östlichen und mittleren Europa. Im boomenden Breslau, das Karl Schlögel erwähnte, entstand trotz zahlreicher Proteste auf dem Gelände eines ehemaligen Dominikanerkloster eines der größten innerstädtischen Einkaufscenter in Polen. In Warschau wollte man Michael Jackson sogar eine eigene Konzerthalle bauen. Auch in Berlin bietet die öffentliche Hand den Investoren am Alexanderplatz nicht nur den Baugrund für Hans Kollhoffs Hochhaustürme, sondern auch Platz für 340.000 Quadratmetern Einzelhandelsfläche, also sieben Mal so viel, wie man am Potsdamer Platz findet. Noch immer, scheint es, ist die Stadt eine staatliche Veranstaltung, allerdings nicht mehr zum Wohle ihrer Bürger, sondern dem privater Investoren.

Doch es gibt auch noch ein anderes Vilnius. Am südlichen Ende der Stadt dominiert kein gründerzeitlicher Stuck das Stadtbild und auch kein barocker Zauber wie in der Altstadt. Dennoch gibt es hier einen Ort, der europäischer nicht sein könnte. Am Autobusu Stotis, dem Busbahnhof von Vilnius, liegt es noch in der Luft, das babylonische Sprachgewirr, das die Vielvölkerstädte Osteuropas einmal ausgemacht hat. Dann etwa, wenn die Wirtin hinter dem Tresen der "Busas Baras" sagt, sie spreche neben litauisch noch russisch, polnisch, ukrainisch, weißrussisch und sogar tatarisch. Nur englisch, meint sie augenzwinkernd, hätte sie in der Schule gelernt.

Die anderen Sprachen hat sie also auf der Straße aufgelesen, hat sie gelernt von den Reisenden aus Minsk und Kiew, aus Kaliningrad und Bialystok, jenen Europäern also, die am Autobusu Stotis ankommen, ohne sich allzu lange in der Stadt aufzuhalten. Fliegende Händler sind es zumeist, die hier einen ihrer Umschlagplätze haben, und sich und ihre Familien mit dem "Ameisenhandel" über Wasser halten. Und das ist auch nötig, nicht nur in Vilnius und Warschau, sondern auch in Budapest, in Czernowitz und selbst an der Grenze zu Deutschland, in Slubice, Kostrzyn und im "Odercenter Berlin" in Osinów Dolny.

IV.

In den letzten zehn, zwanzig Jahren ist viel geschrieben und gesagt worden über den Zustand der Städte, ihre Auflösung ins Global Village oder die Rückkehr ihrer Urbanität, auch über ihre neuen Ränder, die man, je nach Blickwinkel als Nichtstädte begreifen kann, als Zwischenstädte oder als Kerne einer neuen Urbanisierung.

Die "informelle Stadt" aber, die sich im Stadion von Praga oder am Busbahnhof von Vilnius als Spiegelbild der jeweiligen Geschäfts- oder Touristenzentren zeigt, ist erst seit einiger Zeit in den Blickpunkt der Urbanisten gerückt. Und noch immer ruft sie Unbehagen hervor, wird sie, wie etwa bei Elmar Altvater und Brigitte Mahnkopf, als "Neoliberalismus von unten" und damit als Bedrohung empfunden. Oder er wird gleich als Betriebsunfall des europäischen Urbanismus in den Aktenordner "Osteuropa/Transformation/Mafia" abgeheftet.

Karl Schlögel immerhin macht es sich nicht so einfach. Sein Ton gegenüber der "informellen Stadt" ist weder ängstlich noch denunziatorisch, er setzt vielmehr auf das "Botom Up", die Metamorphose vom Markt zur Marktwirtschaft, vom Basar zur Börse.

"Der Markt suchte sich den Ort und die Gebäude", sagt er, "es gab sie, nur zweckentfremdet und auf ihre ursprüngliche Nutzung wartend. Banken, die zu Mensen und Museen umfunktioniert worden waren, werden wieder Banken; ein mondänes Pelzgeschäft, das zu einem Fischladen geworden war, wird wieder Pelzgeschäft, ein Palais, das als Kindergarten genutzt wurde, wird Kulturzentrum, eine Börse wieder Börse".

Doch Schlögel beschrieb mit diesen Etappen nur die halbe Wahrheit. Die Wiederkehr der europäischen Stadt in Osteuropa und mit ihr die Politik der Privatisierung verlief nicht nach dem urbanistischen Lehrbuch. Sie hat neben den Zentren neue europäische Städte und Parallelwelten hervorgebracht. Offenbar reicht die Marktwirtschaft nicht aus, um den Markt zu bändigen oder gar zu verbannen, wie es ein anderes Beispiel zeigt.

V.

Wo liegt Budapest?

Wie ist die Rückkehr nach Europa in einer Stadt verlaufen, die europäischer nicht sein könnte, einer Metropole, größer noch als Wien und manche sagen auch - schöner?

Liegt Budapest an den Ufern der Donau mit dem Postkartenblick auf das vielleicht prächtigste Parlamentsgebäude des Kontinents? Liegt es auf dem Burgberg, der den Vergleich mit Prag nicht scheuen muss, obwohl dort noch immer die Hinterlassenschaften des sozialistischen Städtebaus zu finden sind? Liegt es in der Váci utca, in der man schon vor dem Ende des Kommunismus Levis-Jeans und andere Verheißungen des Westens erstehen konnte?

Oder liegt es weiter östlich, im achten Bezirk, in der Josefstadt, dem ehemaligen jüdischen Viertel von Budapest. In etwa zur gleichen Zeit, in der Karl Schlögel die "Wiederkehr der Städte" feierte, leistete Elisabeth Lichtenberger Trauerarbeit. Bei ihren zahlreichen Forschungsaufenthalten in Budapest stellte die inzwischen emeritierte Lehrstuhlinhaberin für Geografie an der Universität Wien fest: "Der politische Systemwechsel hat auch alle Parameter der Stadtentwicklung verändert. Die abrupte Einstellungen der Erneuerungsmaßnahmen im Jahr 1990 bedeutet, dass die Inseln der Erneuerung von einem Meer von verfallenden Bauten umgeben sind. Die Privatisierung der Mietwohnungen hat in erster Linie die Häuser in besserem Bauzustand erfasst und damit zu einer weiteren Akzentuierung der Slumbildung geführt", meint sie, wenn auh reichlich zugespitzt.

"Während im kommunistischen System", so Lichtenberger weiter, "diese Slumbildung noch keineswegs mit sozialen Desintegrationserscheinungen verbunden war, beginnen unter kapitalistischen Vorzeichen die Phänomene der sozialen Desintegration um sich zu greifen, es öffnet sich die Schere in den Einkommensverhältnissen."

Das betreffe vor allem den achten Bezirk. Hier, unmittelbar neben der City, so Lichtenberger, "stoßen die sozialen Kontraste hart aufeinander. Der achte Bezirk ist nahezu zur Gänze zu einem Slumbezirk geworden. Während in anderen Städten wie zum Beispiel in Wien gegenwärtig eine Stadtwanderung einer neuen City-Bevölkerung erfolgt und Hand in Hand damit eine bauliche Aufwertung beobachtet werden kann, scheint der Stadtverfall in Budapest derzeit im Osten der City ein unaufhaltsamer Prozess zu sein. Die erschreckende Tatsache einer ‚zentralen Armut' erinnert an nordamerikanische Verhältnisse."

Im achten Bezirk gibt es aber nicht nur Stadtverfall, es ist auch Neues entstanden, zum Beispiel an der Kobanyai utca, unweit des Josefstädter Bahnhofs. Hier hat sich seit Mitte der neunziger Jahre ein gigantischer Basar entwickelt. Anders als auf dem "Jarmark europa" wird der aber nicht von Russen, Ukrainern, Weißrussen und Vietnamesen dominiert, sondern von Einwanderern aus China. Zwischen 30.000 und 60.000 von ihnen sind nach der Aufhebung der Visumspflicht für Chinesen und wegen der niedrigen Steuersätze für Gewerbetreibende nach Budapest gekommen.

Auch in der ungarischen Hauptstadt hat sich, kaum zwanzig Minuten vom Stadtzentrum und den noblen Geschäften an der Váci utca entfernt, ein Zentrum der osteuropäischen Überlebensökomomie etabliert.

Es ist weniger die Versorgung der Budapester mit Billigwaren, Textilien, Plastikfeuerzeugen, Zigaretten, die sich am "Chinesenmarkt" in Budapest verfolgen lässt, auch wenn jüngste Studien ergeben haben, dass 20 Prozent der Budapester mehr oder wenige regelmäßig auf dem Chinesenmarkt einkaufen. Seine Bedeutung bekommt der Budapester Basar erst als eine der zentralen Stationen des osteuropäischen "Ameisenhandels". Nach Budapest kommen die Händler aus Rumänien, Makedonien und Bosnien und füllen ihre karierten reißfesten Taschen mit jenen Waren, die sie auf den Basaren in ihren Heimatländern weiterverkaufen.

Die in Berlin lebenden Belgrader Filmemacher Zoran Solomun und Vladimir Blazevski haben die verschiedenen Etappen dieses informellen Netzwerks in einem beeindruckenden Dokumentarfilm festgehalten. Sein Titel: "Der chinesische Markt" . In diesem Film werden nicht nur eine Chinesin porträtiert, die aus New York nach Josefstadt gekommen ist, um hier das große Geld zu machen, sondern auch vier Händler und Händlerinnen. Einer von ihnen kommt aus der bosnischen Hauptstadt Sarajevo, einer aus dem rumänischen Resita, ein dritter aus dem makedonischen Tetovo. Die vierte Händlerin ist Ungarin, sie kommt aus Samogyfaijsz. Allesamt waren die Porträtierten in der Phase vor der "Transformation" und der "Wiederkehr der Städte" keine Händler, sondern Ingenieure, Betriebsleiter oder Intellektuelle wie der einst in Kabul tätige Hochschullehrer Rasid Selimic-Rasa.

Woche für Woche unternimmt der 63-jährige Rentner heute die beschwerliche Reise von Sarajewo nach Budapest, trotz eines schweren Rückenleidens. Zum Verdienst aus der Basarwirtschaft haben die "Europareisenden", wie die polnische Ethnologin Malgorzata Irek die Akteure des Ameisenhandelns nennt, keine Alternative. Nur als Schmuggler wollen sie nicht immer erkennbar sein. Jedes Mal, bevor er mit dem Bus die ungarische Grenze erreicht, zieht sich Selimic-Rasa in die Toilette zurück, um sich zu rasieren. Danach kauft er auf dem "Chinesenmarkt" Damenunterwäsche, darauf hat er sich spezialisiert. Die wird er nicht in Sarajewo weiterverkaufen, sondern im Nordosten von Bosnien-Herzegowina, auf dem Arizona-Market nahe Tuzla.

Vielleicht wird man, wenn man die informelle Stadt nicht mehr als Bedrohung empfindet, auch den Arizona Market als europäische Stadt bezeichnen, auch wenn die 1997 von den Amerikanern gegründet wurde. Es waren die SFOR-Truppen, die den Bedarf an einem Markt begründeten und ihm seinen Namen gaben, und es war das Interesse der regionalen Behörden, mit einem Markt, und sei es einem Schwarzmarkt, für soziale Ruhe zu sorgen. So entstand auf den Felder vor Tuzla ein gigantischer Basar, "eine Chaosstadt, in der sich doch eine innere Ordnung gebildet hat", wie es die österreichische Architektin Margareth Ottl beschreibt.

Der Arizona-Markt, schreibt Ottl, "hat im Laufe seiner Entstehung ein selbstorganisiertes System mit verschiedenen Zonen, besondere bauliche Prototypen und architektonische und soziale Organisations- und Informationssysteme gebildet. Der Arizona-Markt ist ein Netzwerk, es existieren unabhängige elemente, die Gesamtheit ist aber ein vernetzter, sich verändernder Organismus."

Bis zu 10.000 Menschen kommen täglich in die Stadt, Käufer und Händler allesamt, die meisten aus Bosnien, Ungarn und Kroatien. Was sie vorfinden, beschreibt Ottl so: "Die etwa 2.500 Gebäude, von Holzbuden, deren Verkaufsraum direkt in den öffentlichen Raum der Straße übergeht, bis zu zweifamilienhausähnlichen Ziegelbauten, bilden eine dichte, funktional gewachsene Struktur. Neben den Verkaufsständen gibt es 60 Cafés und Restaurants, 16 Motels und Nachclubs und einen Bereich, in dem direkt aus LKWs verkauft wird. Die LKWs reihen sich aneinander und bilden Einkaufsstraßen, die Ladezone wird zum Verkaufsraum. Die Infrastruktur ist improvisiert, es gibt zwei Toiletten, zwei Stromgeneratoren und ein offenes Wasserversorgungs- und Kanalisationsnetz."

Am Arizona Market bei Tuzla findet man es tatsächlich, das "Ende der Stadt als staatliche Veranstaltung". Die Preis liegen hie deutlich niedriger als in den Geschäften von Tuzla oder Sarajewo. Es ist ein Handel ohne Umwege, der hier stattfindet, auch ohne den Umweg über Steuern. Am Arizona Market zeigt sich das informelle Europa in seiner ungeschminkten Gestalt. Seine Bewohner, das sind nicht nur Händler wie Rasid Selimic-Rasa, sondern auch Prostituierte, die hierher verschleppt wurden sowie Mafiabanden, die versuchen, die informelle Netzwerkstruktur nach und nach unter ihre Kontrolle zu bringen. Das zumindest hat die Postmoderne mit der Vormoderne gemeinsam - Deregulierung ist immer auch Entrechtlichung.

Am Arizona Market wird sich aber auch zeigen, wohin es geht mit dem informellen Europa. Ob es sich tatsächlich formalisieren lässt, ob es eine Rückkehr nach Europa auch in Bosnien gibt. Oder ob das Ende der Stadt als staatliche Veranstaltung tatsächlich nur noch in der Lage ist, Börse und Basar, aber kein Bürgertum mehr hervorzubringen.

Aus dem Arizona Market soll nämlich eine Shopping-Mall werden, keine normale, wie wir sie aus Warschau, Berlin oder Budapest kennen, sondern die größte in ganz Südosteuropa, mit mehrere Hallen von mehr als 20.000 Quadratmetern Verkaufsfläche.
Ob es gelingen wird? Eigentlich hatte man den Arizona Market ja schließen wollen. Doch davon war man schnell abgekommen. Selbst in Regierungskreisen fürchtete man sich vor bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Shopping-Mall ist also, wenn man so will, ein Kompromiss. Und sie wird beileibe nicht formal sein. Der Investor namens "Italproject", ein italienisches-bosnisches Joint-Venture, arbeitet selbstverständlich mit den lokalen Mafiabossen zusammen.

VI.

Westeuropa, Osteruopa, Balkan. Wo liegt die europäische Stadt? Oder gibt es in Zukunft nur noch europäische Städte. So wie es auch das eine Europa nicht mehr gibt. Ist der Gegensatz von Börse und Basar schon zum Antagonismus geworden, der sich nicht nur in den Raum der Städte schreibt, sondern auch in den des Kontinents? Ist er vielleicht sogar zu einer Metapher geworden für das Europa der Gewinner und Verlierer, von Zentrum und Peripherie, Wachstum und Schrumpfung? Oder sogar von drinnen und draußen?

Schauen wir in die Ukraine, jenen Teil des Kontinents also, von dem nicht nur Exbundeskanzler Helmut Schmidt, sondern auch ein überzeugter Europäer wie Daniel Cohn-Bendit sagt, dass er auch in Zukunft nicht zur Europäischen Union gehören wird.

Für viele von uns ist Lemberg, auf Polnisch Lwów, auf Russisch L'vov und auf Ukrainisch L'viv, noch immer ein weißer Fleck. Der Fall des Eisernen Vorhangs hat daran wenig geändert. Noch ist L'viv nicht nach Europa zurückgekehrt, zumindest nicht in der Wahrnehmung der Europäer.

Wer aber einmal den Weg dahin gefunden hat und auf dem Rynok, dem Marktplatz steht, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Man findet dort nicht nur das spätklassizistische Rathaus aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern auch Bürgerhäuser und Adelspaläste aus der Renaissance. Auch in den Straßen rund um den Rynok ist es noch spürbar, das habsburgische Europa, dessen Grenzstadt zum Osten, zu Halbasien, wie es der Schriftsteller Karl Emil Franzos gesagt hat, Lemberg einmal gewesen war. Der Prospekt Svobody, der Freiheitsprospekt, die Grenze zwischen Altstadt zur gründerzeitlichen Stadterweiterung, ist jedenfalls wieder zur Flaniermeile geworden. Vor allem in den Sommermonaten zeigen sich hier die jungen Lemberger und Lembergerinnen und demonstrieren wie selbstverständlich, dass man in solcher Umgebung küssen kann. Sie tragen westliche Kleidung, lässig bauchfrei die Jungen, elegant geschäftig die anderen.

Selbst die Alten gehören noch dazu. Am Freiheitsprospekt sitzen sie auf den Parkbänken und spielen, von Zaungästen umzingelt, Schach.
Wenn es ein Lehrbuch der europäischen Stadt gäbe, eines seiner Kapitel müsste von Lemberg handeln. Wo sonst lässt sich die "Wiedergeburt des Cafés, der städtischen Tugenden wie Distanz und Höflichkeit, die Wiedergeburt der Stadt der Bürgerschaft", die Schlögel so eindringlich beschwor, in solcher Reinheit bestaunen.

Und wirklich: Sieht man einmal von der russischen Minderheit ab, orientieren sich hier alle nach Europa. Kein Wunder, liegt dieses Europa doch keine achtzig Kilometer weg. So weit ist es bis Przemysl, der ersten Stadt in Polen hinter der Grenze. Selbst eine Schmalspurverbindung wollen die Lemberger nach Przemysl bauen, weil sie wissen, dass es auch auf Metaphern ankommt. Schmalspur, das ist Europa, Breitspur dagegen Russland oder Halbasien.
Nirgendwo ist Europa so spürbar wie hier. Und nirgendwo ist es soweit weg. Es ist keine normale Grenze, die Lemberg von Przemysl trennt, es ist die künftige Außengrenze der europäischen Union. Und die wirft bereits heute ihre Schatten voraus, wie Oleg erzählt. Oleg sitzt im Wiener Café am Freiheitsprospekt, hat ein Bier vor sich, und ist nicht besonders optimistisch. "In fast jeder Familie in L'viv gibt es jemanden, der in Przemysl, Krakau oder Warschau arbeiter", sagt Oleg. Er selbst hat sich sein Studium an der Universität von L'viv auf den polnischen Baustellen verdient. "Die Nähe zur Grenze", ist er überzeugt, "gibt uns nicht nur Arbeit, sie hilft auch beim Aufbau der Zivilgesellschaft."

Doch nicht nur jede Lemberger Familie weiß, wo es in Polen Arbeit gibt. Auch in Przemysl und anderen Städten Ostpolens lebt jeder zweite vom Grenzhandel mit der Ukraine. Doch damit könnte es bald zu Ende sein. Seit 1. Oktober diesen Jahres ist diese Grenze nicht mehr offen. Er herrscht Visumspflicht. Nicht nur für Oleg und die 500.000 Schwarzarbeiter aus der Ukraine, sondern auch für Weißrussen und Russen. So will es Schengeneuropa von Polen, obwohl der polnische EU-Beitritt erst im nächsten Jahr erfolgt. Noch bevor die Europäische Union in die Nähe von Lemberg, dieser europäischen Stadt aus dem Bilderbuch rückt, wird eine neue Mauer errichtet.

Das gleiche erfährt man auch in Grodno und Brest, in Kaliningrad und auch in Budapest. Wenn Ungarn der Europäischen Union beigetreten sein wird, wird Rasid Selimic-Rasa, der 63-jährige Rentner aus Sarajewo nicht mehr ohne weiteres auf den chinesischen Markt am Josefstädter Bahnhof reisen können. Das wird nicht nur für viele Händler aus der Non-EU eine neue Runde des Überlebenskampfes einleiten, sondern auch für den achten Bezirk in Budapest und den Stadtteil Praga in Warschau.

VII.

Börse und Basar, das sind die Chiffren einer neuen Spaltung nicht nur der Städte, sondern auch des Kontinents. Nicht nur die Stadt des Bürgertums ist am "Ende der Stadt als staatlicher Veranstaltung" wiederauferstanden, sondern auch die Stadt der Global Player und die Stadt der Kofferhändler, die Stadt der Börse und die des Basars. Wie aber ist sie zu bewerten, diese informelle Stadt, die so ganz anders ist als aus dem Lehrbuch des Urbanismus? Ist sie tatsächlich eine Bedrohung oder bietet sie auch Chancen?

Diese Fragen stellt derzeit eine Ausstellung in den Räumen der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin. "Learning From?" ist ihr Titel, versehen mit einem Fragezeichen. Es sind andere Bilder als die von Karl Schlögel, die hier gezeigt werden. Europäische Stadt, das sind hier nicht nur das Schwarzhäupterhaus in Riga, der Gediminas-Prospekt in Vilnius, das Parlament in Budapest oder die Wiederaufbauprojekte in Warschau.

Europäische Stadt, das sind in den Räumen der NGBK auch die polnischen Pendelmigranten in Berlin, die Bewohner der Gececondu in Istanbul, die Russlanddeutschen in Marzahn und immer wieder die "Ameisen", die Kleinschmuggler, die "Kofferhändler". Die informelle Stadt, sie ist, anders als in den Lehrbüchern der europäischen Stadt, in den Räumen der NGBK tatsächlich angekommen. Und wer genau hinsieht, sieht sie auch draußen, wenn er die Ausstellungsräume verlässt, in der Kreuzberger Oranienstraße. Zum Beispiel im Phone-Shop an der Ecke Adalbertstraße, wo nicht nur Türken billig in die alte Heimat telefonieren und damit auch Geschäfte abwickeln können, sondern auch Polen, Kroaten, Russen, Ukrainer.

Gleichzeitig ist die informelle Stadt in der NGBK aber auch ideologischem Verdacht ausgesetzt. Nicht nur eine türkische Sozialwissenschaftlerin formuliert ihn im Interview auf einem der Bildschirme, wenn sie sagt, der Kofferhandel werde in Istanbul nicht nur geduldet, sondern auch gefördert, als Stimulans für die brachliegende Welt des formalen Handels in den Geschäften, Einkaufsstraßen und Shopping Malls.

Bedenken tragen auch Elmar Altvater und Brigitte Mahnkopf. Im Eingangsessay des Ausstellungskatalogs beschreiben sie das rasante Wachstum des informellen Sektors in den europäischen Städten nicht nur als "Schwamm für all jene Arbeitskräfte, die in der Folge des globalen Standortwettbewerbs überflüssig geworden sind". Der informelle Sektor, so Altvater und Mahnkopf, "stellt auch einen "Schockabsorber der Globalisierung dar, weil er erstens der Subsistenzsicherung der urbanen Haushalte dient; in dieser Funktion leistet er einen wichtigen Beitrag zur Feminisierung der Überlebenssicheurng - wie im übrigen auch die grenzüberschreitende Migration. Zweitens trägt der informelle Sektor zu einer faktischen Lösung der Arbeitsmarktkrise bei."

Altvaters und Mahnkopfs Fazit: "Der informelle Sektor ist Ausdruck eines 'Neoliberalismus von unten', der darauf beruht, dass die Menschen in ihrer Alternativlosigkeit gerade jene Wege beschreiten und Maßnahmen ergreifen, die ihnen das neoliberale Projekt bietet: die Übernahme individueller Verantwortung und die Entfaltung individueller Initiative sowie spiegelbildlich dazu die Ablehnung kollektiver, sozialstaatlicher Hilfen wegen ihrer Ineffizienz und Kostspieligkeit, auch wenn der neoliberal inspirierte Individualismus scheitert. Doch für das Scheitern sind weder Staat noch System verantwortlich, Schuld trägt jeder selbst."

Hier scheint sich der Kreis wieder zu schließen. Europäische Stadt, das ist die Stadt ihrer Bürger und des sozialen Ausgleichs. Daran ist nicht zu rütteln, selbst dann nicht, wenn das Andere, die informelle Stadt des Basars wie auch die neoliberale Stadt der Börse, längst Realität sind.

VIII.

Zu dieser Realität gehört auch eine neue Geografie. Es gilt inzwischen ja als Binsenweisheit, dass die globalisierte Welt der Produktion und Dienstleistungen auch eine neue Produktion des Raums hervorgebracht hat. Niemand hat darauf so früh hingewiesen wie Manuel Castells, der diesen Raum in den "Space of Place", also den Raum des Ortes, und den "Space of flows", den Raum der Ströme aufgeteilt hat. Der Space of Flows hat inzwischen, auch das gehört zur Realität, halb Europa erfasst - das der Global Player ebenso wie das der "Ameisen" und Kofferhändler.

Aber, auch das gehört zur neuen Geografie, es gibt auch die anderen Räume, die der Zurückgebliebenen, die der schrumpfenden Städte, die der neuen Peripherie, der neuen weißen Flecken unserer Wahrnehmung. Es gibt auch das Europa des Space of Place. Zum Beispiel in Lódz.

Auch Lódz, mit knapp einer Million Einwohnern die zweitgrößte polnische Stadt, liegt im Abseits. Dass sie nicht an das europäische Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, geht auf die russische Regierung zurück. Die sorgte Mitte des 19. Jahrhunderts dafür, dass ihr westliches Herrschaftsgebiet weitestgehend unzugänglich blieb. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Wer mit der Bahn nach Lódz fährt, muss aufs Nebengleis umsteigen, zum Beispiel in der westlich von Warschau gelegenen Kleinstadt Kutno. Es hat sich so das böse Wort ergeben, Lódz liege bei Kutno. Soweit zum Thema funktionelle Irrelevanz.

Doch nicht nur geografisch liegt Lódz im Abseits, auch seine Bewohner leben inzwischen am Rande der Existenz. Einst war Lódz die Textilhauptstadt Polens, das "Manchester des Ostens", heute ist es die Hauptstadt der Kioske.

Wie ein engmaschiges Netz haben sie sich über den Stadtkörper
gelegt und definieren ihn neu. Nicht um Schönheit geht es hier, sondern um schiere Funktionalität. Was zuweilen an einen Strandkorb erinnert, ist in Wirklichkeit ein Vordach mit zweierlei Funktionen. Einmal soll es dem Kunden Schutz vor Regen bieten und zum andern nach Feierabend zur Schließzeit heruntergeklappt werden können. Andere Kioske lassen sich nicht zuklappen, sondern haben, wie die meisten Geschäfte in Lodz, vergitterte Scheiben. Auch die tief liegenden, kleinen Verkaufsschlitze dienen der Sicherheit. Es bedroht sich einfach schlecht mit gebeugter Schulter und geneigtem Haupt. Und wenn, dann wäre nicht allzu viel zu holen.

Der Kiosk in Lodz ist die bauliche Form des Provisoriums, die
architektonische Chiffre einer in eine ungewisse Zukunft entlassenen Stadt. Hergestellt aus Plaste und nur mit ein paar Schrauben auf die Gehwege montiert, sind die kaum mehr als zwei Quadratmeter Fläche großen Kioske die Lódzer Variante eines neuen, flexiblen und mobilen Kapitalismus. Wie viele dieser Ein-Personen-Handelsunternehmen zu den 90 000 nach der Wende neu gegründeten Firmen in Lódz zählen, weiß nicht einmal die Stadtverwaltung. Immerhin aber sollen 82 000 Firmen des neuen Gründerbooms aus weniger als fünf Beschäftigten bestehen. Dass die Kioske nicht nur den Arbeitsmarkt entlasten, sondern auch eine wirtschaftliche Zukunft haben, ist nicht einmal mehr unter westlichen Analysten umstritten. So geht der Lebensmittelbranchendienst AC Nielsen davon aus, dass Kioske, Basare und offene Märkte werden auch mittelfristig "eine zentrale Stellung für die meisten Verbraucher einnehmen, vor allem in Polen, wo sie den Großteil des Bedarfs der ärmeren Bevölkerung abdecken".

Zwischen Lódz und Lemberg liegt zwar die neue Außengrenze der Europäischen Union. Aber beide Städte haben auch etwas gemeinsam. Sie liegen, gleich ob in oder außerhalb der EU, am Rande der Wahrnehmung. Auch dafür hat Manuel Castells eine eindrucksvolle Metapher gefunden: Nicht mehr durch "soziale Ausbeutung" würden die Städte geschädigt werden, sondern durch "funktionale Irrelevanz". Castells wörtlich: "Wir werden einen Tag sehen, an dem es ein Privileg sein wird, ausgebeutet zu werden, denn noch schlimmer als Ausbeutung ist, ignoriert zu werden." Während man in Städten wie Hamburg oder München das Wort von der "funktionalen Irrelevanz" allenfalls mit Kopfschütteln quittieren dürfte, versteht man in Städten wie Lódz, aber auch den schrumpfenden Städten in Ostdeutschland, in Schwedt und Hoyerswerda, genau, was damit gemeint ist.

IX.

Wo liegt die Zukunft der Städte im Osten Europas? Die Beispiele, die ihn Ihnen bei dieser kleinen Reise in die andere, die informelle Welt der Städte gezeigt habe, zeigen tatsächlich einen neuen Takt der Städte, eine Stadtentwicklung zwischen Börse und Basar, die inzwischen sogar Städte wie Berlin erreicht hat. Jeder fünfte Euro, so hat es der Linzer Ökonom Friedrich Schneider errechnet, wird in der deutschen Hauptstadt inzwischen schwarz erwirtschaftet. Auch in Berlin hat sich, wenn auch noch abseits der herrschenden Wahrnehmung eine informelle Parallelwelt herausgebildet, von der der Wirtschaftswissenschaftler Stefan Welzk sagt, sie sei die einzige Chance, die Berlin, das Armenhaus der Republik überhaupt habe:

In Berlin kann man aber auch sehen, wie man auf diese Informalisierung reagiert. Es gibt da, grob gesagt, drei Reaktionsmuster.

Das erste ist der Rückzug in die heile Welt der europäischen Stadt, eine Politik des Revival, für die nicht nur Karl Schlögel steht, sondern auch die Berliner Stadtentwicklungspolitik. Schlögels Rede von der Wiederkehr der Städte wurde immerhin auf jener Sitzung des Berliner Stadtforums gehalten, auf der das Planwerk Innenstadt vorgestellt wurde, ein gigantischer Masterplan, der nicht nur ideologisch mit den Resten der "Stadt als staatlicher Veranstaltung" aufräumen möchte, sondern auch städtebaulich. Der Rückbau zur Bürgerstadt ist seitdem offizielles Leitbild der Innenstadtentwicklung.

Nicht zwischen Börse und Basar bewegt man sich damit in Berlin, sondern im ideologischen Raum der Geschichts- und Identitätspolitik. Was die Akteure des Revival aber übersehen: Anders als Warschau, wo der Aufbau des Altstadtmarktes, der Krakowskie Przedmiescie und der Nowy Swiat tatsächlich ein nationales Identitätsprojekt war, ist Berlin längst eine Einwandererstadt. Die gebaute europäische Stadt ist zu einer gelebten Europäischen Stadt geworden.

Das zweite Reaktionsmuster ist der Versuch, die Europäische Stadt nicht baulich neu zu erfinden, sondern sie als das zu bewahren, was sie in ihrer Geschichte immer auch war - eine Integrationsmaschine. Für diesen Versuch stehen auch Elmar Altvater und Brigitte Mahnkopf. Aber auch hier gilt: Das Bewahren des einen bedeutet nicht selten das Ausgrenzen des Anderen. Die neue Geografie mit ihren Räumen der "funktionalen Irrelevanz" wird mit einem solchen Ansatz nicht zurückgenommen. Im Gegenteil: Sie wird womöglich noch verstärkt.

Denkt man Altvater und Mahnkopf weiter, müsste man die europäische Stadt als Burg auf der Festung Europa nicht erst vor den Toren Lembergs verteidigen, sondern bereits an der Oder. Vielleicht müsste man sogar das Rad der Geschichte ganz zurückdrehen, und die Festung schon an der Elbe dicht machen. Dann müsste man sich nicht mit so unangenehmen Gestalten wie den Berliner Barbaren und denen in Hoyerswerda, in Praga oder auf dem Arizona Market bei Tuzla herumschlagen?

X.

Eine dritte Denkfigur versucht, die in informelle Stadt als Teil unserer Wirklichkeit zu begreifen und nicht sofort als "Neoliberalismus von unten" abzutun, sie als Teil einer neuen Geografie zu verstehen und auch als eine mögliche Strategie des Surival und damit auch als Antwort auf eine Politik des Revival.

Hier gilt es weniger Antworten zu formulieren als Fragen zu stellen, die uns vielleicht den Weg aus dem Dilemma weisen, einem Dilemma, in dem sich auch die Macher der Ausstellung "Learning From?" befanden, indem sie die informelle Stadt in den Räumen der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst ausgestellt, im Katalog aber als Problem dargestellt haben.

Eine dieser Fragen stammt von der Stadtplanerin und Soziologin Marlene Zlonicky. Zlonycky hat die Frage gestellt, warum man nicht in der Betrachtung der Städte auf die Erfahrungen zurückgreift, die man in der Betrachtung ihrer Kultur seit einigen Jahren gemacht hat. Warum nicht die Diskussionen aus dem Migrantenmilieu um kulturelle Autonomie, die ganze Literatur der Cultural oder Postcolonial Studies auf die Stadtentwicklungsdebatte erweitern? Nicht um eine Hilfestellung für das neoliberale Projekt ginge es da, auch um keinen Rückbau der Räume der Ungleichheit von oben, sondern um eine neue Wahrnehmung. Und vielleicht sogar einmal zu einer neuen Kultur der Partizipation.

In der Migrationsdebatte in Großbritannien, Frankreich und den USA ist es jedenfalls längst üblich, von zwei gleichberechtigten Blickwinkeln auszugehen: dem der Einwanderer und dem der Mehrheitsgesellschaft. Das Interesse gilt hier einem third place, einem Sozialraum, den beide Gruppen gleichermaßen mit Nutzungsansprüchen und kulturellen Praktiken ausformulieren können. Nicht Integration oder Urbanität ist dabei das Ziel, sondern ein Dialog der Kulturen um die Entwicklung städtischer Räume, der es am Ende allen ermöglicht, sich mit "ihrer" Stadt zu identifizieren.

Dazu bedarf es freilich zweier Voraussetzungen. Zum Ersten braucht ein solcher Ansatz die Fähigkeit, die Perspektiven zu wechseln und die Stadt auch einmal mit den Augen des Anderen zu sehen. Zum Zweiten muss sie das "Hybride" anerkennen, die städtischen Zwischenwelten, die zum Bestandteil künftiger städtischer Identitäten wird.

Doch das wäre erst der Anfang. Wir müssten uns in unserer Suche nach der Zukunft der Städte nicht nur nach Osteuropa begeben, sondern vielleicht auch in die Mega-Cities nach Asien und Lateinamerika. Dort hat sich seit einigen Jahren ein überraschender Wandel vollzogen. Die Politik des "bulldozing" von informellen Siedlungen ist einer Politik ihrer schrittweisen Formalisierung gewichen. Welche Beteiligungsmodelle es da gibt, und welche Rolle die Zivilgesellschaft dabei spielt, können wir dort lernen, wenn wir es wollen.

Wir könnten sogar von den polnischen Putzfrauen lernen, wie sie sich organisieren und ihre Lohnforderungen durchsetzen. Es gibt, so steht zu vermuten, auch ein Leben nach dem "Ende der Stadt als staatlicher Veranstaltung" und dem Ende der Bürgerstadt, das ihr folgte. Ein Leben in europäischen Städten, die die Städte der in ihr lebenden Europäer, Europareisenden und auch der vielen anderen Migranten geworden sind. Noch allerdings wissen wir über dieses Leben viel zu wenig.

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