themenrezensionender jüdische könig von Warschau

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DRUCKVERSION Der jüdische König von Warschau

In seinem Roman "Der Boxer" taucht der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch ein ins Warschau des Jahres 1937 – und zeigt eine zerrissene Stadt, die nichts mit den eleganten Bildern eines "Paris des Ostens" zu tun hat

von UWE RADA

1937 ist ein Jahr, das in vielen Ländern Europas für eine Momentaufnahme gut ist, wenn es gilt, den Sturz einer Demokratie in Richtung Autokratie oder Diktatur zu beschreiben. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat die Geschichte Moskaus in seinem Stadtporträt "Terror und Traum" am Beispiel dieses Jahres erzählt. In Berlin hat Paul Spies, Direktor der Stiftung Stadtmuseum, den Alltag im Nationalsozialismus in der Ausstellung "Berlin 1937. Im Schatten von morgen" in Szene gesetzt. Mit Szczepan Twardochs Roman "Der Boxer" tritt nun das Jahr 1937 in Warschau auf die Bühne. Mit einem Paukenschlag, der dank der Übersetzung von Olaf Kühl nun auch hierzulande zu vernehmen ist. Im polnischen Original heißt der Roman "Król", "Der König".

Der Boxer ist die Geschichte des jüdischen Unterweltkönigs Jakub Shapiro, der im Dienste von Jan Kaplica, dem nichtjüdischen "Paten" von Warschau, den Handel auf dem Schwarzmarkt Kercelak kontrolliert, Schutzgelder eintreibt und auch nicht vor grausamen Morden zurückschreckt, wenn es darum geht, Konkurrenten oder säumige Zahler aus dem Weg zu räumen. Doch der "Boxer" ist kein Roman über die Warschauer Unterwelt, sondern das Sittengemälde einer Stadt und eines Landes, das, der Demokratie längst müde, auf einen Bürgerkrieg hinsteuert.

Und gerade das ist, im politisch zerrisenen Polem von heute, ein Tabubruch. Denn der Einmarsch der Deutschen, so suggeriert es Twardoch, der bereits in seinem Roman "Morphin" Warschau zum Schauplatz gemacht hat, zerstörte keine heile, sondern eine kaputte Welt. Selbst die Demonstrationen, bei denen Shapiros Leute an der Spitze stehen, sind in dieser Dystopie einer zutiefst gespaltenen Stadt, längst bewaffnete Aufmärsche gewesen. "Wir zogen los. Voran die Kampftruppe, erst dann die Arbeiter. Also wir voran, Shapiro, Pantaleon, die anderen, diszipliniert wie eine Armee, in Viererreihen. Die ersten fünf Vierer mit den Händen in Hosen- und Jackentaschen, am Griff der Pistolen und Automatikwaffen." Die Warszawianka singend, das Arbeiter- und Kampflied, das in der Revolution von 1905 berühmt geworden war, greifen Shapiros Leute die Falangisten des Nationalradikalen Lagers ONR an – und schlagen sie in die Flucht. "Sie sehen, mit wem sie es zu tun haben. Sie haben niemanden wie Shapiro, Pantaleon, Munja, Kaplica. Die Falangisten sind Idealisten, sogar die harten Kerle, die Arbeiter unter ihnen. Wir sind Professionelle. Also ziehen sie sich zurück."

Auf der einen Seite der zerrissenen Stadt stehen Shapiros Leute, aber auch jüdische Organisationen wie die Bundisten und die Poale-Zion-Linken, dazu die nichtjüdischen Demonstranten der Sozialistischen Partei PPS. Auf der anderen der ONR, der auch heute wieder auf Polens Straßen marschiert, und die Schlägerbanden der vom ONR abgespaltenen rechtsextremen Falanga. Die Polizei tritt meist sehr spät in Erscheinung, dann aber auf Seiten Shapiros und des Paten. Denn nichts fürchtet das Regime des zwei Jahre zuvor verstorbenen Marschall Piłsudski, der sich im Mai 1926 an die Macht geputscht hatte, mehr als den wachsenden Einfluss der extremen Rechten. "Die gepanzerten und die berittenen Polizisten setzen sich in Richtung Nationale in Bewegung. Die Nationalen ergreifen die Flucht, die Berittenen traktieren sie mit dem flachen Säbel, wir schauen uns das mit einigem Vergnügen an."

Mit Shapiro im Zentrum des Jahres 1937 in Warschau beschreibt Twardoch nun jenen Monent, in dem sich die über Jahre ausbalancierte (aber auch autokratische) Ordnung aufzulönsen und das Bündnis zwischen den Gefolgsleuten Piłsudskis, Sozialisten und jüdischen Organisationen auseinanderzubrechen beginnt. Unter Piłsudskis Nachfolger Edward Rydz-Śmigły bestimmt bald die extreme Rechte die Agenda, setzt in den Hörsälen der Universitäten jüdische "Ghettobänke" durch, plant sogar einen (historisch nicht verbürgten) faschistischen Putsch. So groß ist die Furcht vor einem "polnischen Hitler", dass Emilia, die Frau von Jakub Shapiro, ihren Mann samt Kindern zur Auswanderung nach Palästina drängt. "Die Jungs werden in einem Land leben, in dem sie keine schlechtere Sorte sein werden. Sie werden in Tel Aviv aufwachsen, werden dort leben wie die Polen in Warschau, werden bei sich zu Hause sein. Nicht wie wir hier."

Ein polnischer Hitler? Harter Tobak für die Nationalkonservativen, für die der bekennende Schlesier Twardoch freilich längst ein Nestbeschmutzer ist. Im Polen der Zwischenkriegszeit, so lautet die heute gerne verbreitete Erzählung, war Warschau eine elegante und blühende Metropole, ein "Paris des Ostens", eine durch und durch europäische Stadt, in der Polen und Juden gut miteinander auskamen. Mit dieser Erzählung räumt Twardoch gründlich auf. Alleine die detailliert beschriebene soziale Topografie lässt ahnen, wie segregiert die polnische Hauptstadt war, in der damals jeder dritte Bewohner Jude war. "Die polnischen Viertel", das waren der Bankenplatz, das Żoliborz der Offiziere und Journalisten, Mokotów, die Saska Kępa und Warschaus Boulevard, die Marszałkowska. Allen ihnen ist laut des Erzählers gemeinsam, dass Jom Kippur dort nicht gefeiert wird. Ganz anders ist es in der Gęsia, der Karmelica, der Miła, der Leszna "und allen anderen Straßen des Nordbezirks". Hier, wo unter den Nazis das Ghetto entstand, waren vor dem Krieg die Warschauer Juden zu Hause. Statt Polnisch wurde dort meist Jiddisch gesprochen.

Es war eine Parallelwelt, in denen das polnische und jüdische Warschau in Twardochs "Der Boxer" lebten: "Mein Vater", lässt Twardoch den 17-jährigen Mojżesz Bernstein erzählen, hatte überhaupt nichts für das Polnische übrig, auch wenn er es ganz gut beherrschte; die polnische Welt interessierte ihn nicht, Polen und die Polen waren ihm ebenso fremd wie, sagen wir, die Portugiesen, nur, dass sie eben hier waren, um ihn herum." Doch es ist nicht nur die ethnische und religiöse Spaltung Warschaus, die Twardoch detailliert beschreibt, sondern auch eine soziale: "Wo links der Weichsel in Warschau die Armut herrschte – und abgesehen von einigen Inseln Europas und des Reichtums herrschte die Armut überall –, dort herrschte auch der Pate."

Kein Wunder, dass es nicht nur Shapiros Frau aus diesem Elend wegzieht, sondern auch seinen Bruder Moryc, der sich einer zionistischen Organisation angeschlossen hat. Shapiro selbst freilich zögert. "Mir geht es gut, Emilia", sagt er einmal seiner Frau. "Ich bin bei mir zu Hause. Mir reicht meine Stadt." Emilia entgegnet freilich, dass Warschau den Polen gehöre, worauf Jakub Shapiro antwortet: "Nein, Emilia. Warschau gehört nicht den Polen. Warschau gehört dem Paten. Warschau gehört mir." Und dann sagt er noch. "Ich will König dieser Stadt sein und ich werde König dieser Stadt sein."

Das ist, wie sich am Ende herausstellt, der große Irrtum des jüdischen Königs der Unterwelt von Warschau. Denn je stärker die Faschisten werden, desto mehr verliert der Pate an Einfluss. Am Ende landet er in einem Lager und stirbt. Im Laufe des Jahres 1937 sind nicht nur die Rechten auf der Straße auf dem Vormarsch, sondern auch die im Präsidentenpalast.

Große Literatur ist der "Boxer" aber nicht nur wegen dem, was er erzählt, sondern auch wie er es erzählt. Es ist nicht Jakub Shapira selbst, dessen Stimme zu vernehmen ist, sondern die von Mojżesz Bernstein, Sohn von Naum Bernstein, den Shapiro grausam ermordet und gevierteilt hat. Das zumindest legt Twardoch gleich zu Beginn nahe, wenn er den jungen, damals 17-jährigen Bernstein davon erzählen lässt, wie Shapiro (Makkabi) im Boxring den Faschistenanführer Andrzej Ziembiński (Legia) besiegt. Immer wieder aber lässt der Ich-Erzähler Zweifel an seiner Identität aufkommen, die allerdings auch daher rühren könnten, dass Shapiro den Sohn nach dem Mord an seinem Vater bei sich zu Hause aufnimmt und vor einem Leben in Armut bewahrt. Erst am Ende erfährt man, dass alles ganz anders kommt, dass, soviel sei verraten, Mojżesz Bernstein Shapiros schlechtes Gewissen ist.

Dass die polnische Rechte heute gegen Twardochs Roman Surm läuft, zeigt, wie hübsch der Autor die Nachahmer der ONR in die Falle gelockt hat. Polnische Nazis, das sitzt, und manche wünschen Twardoch als ersten das neue Holocaust-Gesetz an den Hals, das eine Mitschuld Polens an der Shoa zu nennen unter Strafe stellt. Doch Twardochs fulminanter Roman hält eine andere Botschaft parat. Im teils antisemitischen Polen des Jahres 1937 konnte der Boxer noch für zwei Jahre die Nachfolge Jan Kaplicas antreten und Pate und "König von Warschau" werden. Unter der deutschen Besatzung ist er zerbrochen.

Szczepan Twardoch: Der Boxer. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, 464 Seiten, 22,95 Euro


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