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DRUCKVERSION Oder und Memel. Alte und neue Grenzen in Europa

Vortrag zum Abschluss der Veranstaltungsreihe "1990 als Epochenzäsur" im Haus der Brandenburgisch Preußischen Geschichte in Potsdam am 4. November 2010

von UWE RADA

I.
In seiner Laudatio für Martin Pollack, den Gewinner des Georg Dehio Buchpreises 2010, erinnerte der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch vor kurzem wieder einmal an sein Lieblingsthema: Mitteleuropa: Dieses "Mitteleuropa", sagte Andruchowytsch, ist im Grunde zweierlei. Einmal sei es ein "Dasein dazwischen", eine "Zone permanenter gesellschaftlich-historischer Nichtrealisierung", die eine besondere Sensibilität wecke, sogar bei geographischen Namen. Andererseits, so der Laudator, sei es "eine Weltengegend, in der Geographie unmerklich in Poesie übergeht. Daraus ist die Geopoetik entstanden."

Auch Martin Pollack, der Träger des Buchpreises, ist so ein Geopoet im Sinne Andruchowytschs und György Konrads, dem Erfinder des Begriffs, und auch er ist ein Bewohner der Weltengegend Mitteleuropa. Geboren im österreichischen Bad Hall war er lange Zeit Korrespondent des Nachrichtenmagazins Der Spiegel in Warschau. Als Autor, Herausgeber und Übersetzer lebt er seit dem Ende seiner journalistischen Karriere in Wien. Pollack kennt sie also, Weichsel und Donau, die großen Ströme, die das Rückgrat der Geopoetik Mitteleuropas bilden. Und auch Juri Andruchowytsch weiß um die poetische, geografische und auch um die politische Rolle der Ströme in seinem Mitteleuropa. Wer seine Epitaphe "29 Flusslieder" noch nicht gelesen hat, sie seien ihm ans Herz gelegt. Andruchowytsch beschreibt darin die westukrainische Stadt Lemberg, die alles hat – Vergangenheit, Schönheit, Zukunft – nur eines hat sie nicht: einen Fluss. Der wurde zu Sowjetzeiten unter die Erde verbannt, wie es auch in Paris mit der Bievre oder in Berlin mit der Panke geschah.

Andruchowytschs Flusslieder sind darum auch ein Stück Trauerarbeit: "Eine der vergessendsten Städte Europas mit ihren überraschenden und noch nicht ganz vernichteten, überwältigenden Panoramen ist einer der wichtigsten Komponenten der europäischen Urbanistik beraubt – des Flusses. Und das heißt, der Brücken beraubt (der echten, über Wasser), der Ufer, Auen, Anlegestellen, der Schiffe, Wassermühlen, Deiche, Inseln, Kanäle und der tausend anderen Reize, die einen schwindeln machen, besonders im Sommer."

So ist Lemberg also eine Stadt ohne Fluss, die es ohne geografisches Woher und ohne ein geopoetisches Wohin schwer hat, den Anschluss ans vereinte Europa verloren und seine Geopoesie zu finden.

Ich schicke ihnen, meine Damen und Herren, diese Anmerkungen voraus, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass Flüsse mehr sind als geografische Eintragungen in Atlanten oder Teil des hydrologischen Kreislaufs von Fließen, Münden, Verdunsten, Regnen, Fließen, der unser aller Leben aufrecht erhält. Flüsse, das sind immer auch Spiegel unseres Selbst. Seit jeher werden wir an Flüssen nachdenklich, auch unsere Vergänglichkeit lässt sich dann nicht mehr leugnen. Und doch spendet der Fluss auch Trost, an seiner Biegung schauen wir zurück auf unsere Vergangenheit und blicken in die Zukunft, wir denken an die Quelle, die zum Bach anschwillt und die Mündung des Stroms in die Ewigkeit von Zeit und Raum. Albert Camus hat einmal gesagt, dass der Mensch in seinem Leben immer auf ein oder zwei Bilder zurückkomme, angesichts derer sein Herz sich zum ersten Mal geöffnet habe: Der Fluss und seine Symbolik vom Werden und Vergehen gehört dazu.

Doch das, meine Damen und Herren, ist unsere persönliche Geschichte, unser individueller Blick, unsere menschliche Sehnsucht nach dem großen Ganzen. Doch die Flüsse und Ströme, die wir derzeit als Sinnsucher, Touristen und Stadtplaner wiederentdecken, haben auch ihre eigene Geschichte. Als "natürliche Grenzen" scheiden sie Räume, Regionen, Regentschaften voneinander. Das ist der Fluss, der trennt. Es gibt aber auch einen Fluss, der verbindet, der als Handelsstrom und Verkehrsweg das Rückrat von Räumen, Regionen und Regentschaften bildet. Flüsse sind also nicht nur Objekte der Geschichte, sondern auch deren Subjekt.

Nehmen wir sie also ernst, die Flüsse. Wenn man sagt, dass sie nicht nur trennen, sondern auch verbinden, kommt man mit einem persönlichen Blick, auch mit einem einzigen, nationalen Blick nicht weiter. Gerade grenzüberschreitende Flüsse fordern die Multiperspektive, einen europäischen Blick. Deshalb sind sie auch die besten Botschafter Europas. Oder wie es der Historiker Thomas Bremer formuliert: "Die europäischen Flüsse haben dazu beigetragen, dass die verschiedenen Kulturen auf dem Kontinent, auf dem sie so nahe beieinander leben wie sonst nirgends in der Welt, miteinander in Austausch treten und sich gegenseitig befruchten und bereichern konnten." Bremers Beitrag erschien übrigens in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "Ost – West. Europäische Perspektiven" mit dem Titel "Flüsse machen Geschichte." In dieser Zeitschrift wird nicht nur die Donau porträtiert, der Heimatfluss des Georg-Dehio-Preisträgers Martin Pollack, sondern auch die Oder und die Memel, jene beiden Ströme also, die, wenn man so will, die westliche und die östliche Grenze der Weltengegend Mitteleuropa bilden.

II.
Über die Oder, meine Damen und Herren, hat die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk einmal geschrieben. "Sollte es sich plötzlich erweisen, dass Staatsgrenzen entgegen allen Erwartungen beweglich und Fremdsprachen problemlos erlernbar sind, (…) dann rate ich jedem, sich auf den eigenen Fluss zu besinnen."

Auch so ein Stück Geopoesie ist das zweifelsohne, niedergeschrieben in der Zeitschrift Kafka im Jahre 2003, unmittelbar also vor der Erweiterung der Europäischen Union um zehn Länder in Ostmitteleuropa. Bis es soweit war, war die Oder freilich nicht nur Gegenstand der Poesie, sondern auch das Territorium der Grenzschützer. Vielleicht erinnert sich der ein oder andere von Ihnen noch an die Ereignisse am 8. April 1991. An diesem Tag trat das Abkommen über einen visafreien Reiseverkehr zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland in Kraft, überall an der deutsch-polnischen Grenze hoben sich die Schlagbäume. Die waren zwischenzeitlich wieder heruntergeklappt worden, weil mit dem Datum der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 nicht nur die Existenz der alten Bundesrepublik und der DDR endete, sondern auch eine Bestimmung des Alliierten Kontrollrats, derzufolge polnische Staatsbürger visafrei nach Westberlin und in die Bundesrepublik reisen konnten.

In Frankfurt an der Oder aber war dieser 8. April 1991 ein Tag der Neonazis. Mit Steinen empfingen sie die ersten Reisebusse, die über die Stadtbrücke von Słubice nach Frankfurt gekommen waren. Zuvor hatte auch die Lokalpresse gegen die Öffnung der Grenze Stimmung gemacht. Im Frankfurter Oderanzeiger etwa hieß es: "Schwappt die Händlerwoge, die zu einer sturmgepeitschten Welle ansteigen kann, in kürzester Zeit über Frankfurt?" Der Tag, an dem sich das deutsch-polnische Verhältnis ein für allemal normalisieren sollte, begann an der Oder mit einem Schock.

Aber auch in den Jahren danach blieb Frankfurt, die Grenzstadt zu Polen, in den Schlagzeilen. Über die Stadtgrenzen hinaus bekannt wurde der "Frankfurter Brötchenkrieg", jener Versuch einer Bäckerin aus Słubice, billige polnische Brötchen auch in Frankfurt zu verkaufen. Der Versuch, das lässt die Bezeichnung "Krieg" bereits ahnen, schlug fehl. Wochenlange Beschimpfungen und Schmierereien an den Ladenfenstern ließen das erste Experiment der "polnischen Wirtschaft", auf Frankfurter Boden Fuß zu fassen, scheitern.

Diese Momentaufnahmen aus den neunziger Jahren zeigen ganz gut, was die Oder damals in den Köpfen der allermeisten Deutschen und Polen war – ein Grenzfluss, scheinbar willkürlich festgelegt mit der Westverschiebung der polnischen Grenze in den Konferenzen von Jalta und Potsdam. So wurde ein Strom, den sich Mähren, Schlesier, Brandenburger und Pommern über Jahrhunderte teilten, 1945 zur politischen Grenze, die nicht nur Städte wie Frankfurt und Slubice schied, sondern, als "Eiserner Vorhang" ganz Europa. Dass dieser "Eiserne Vorhang" eigentlich an der Elbe verlief, verweist einmal mehr auf die Macht der gefühlten gegenüber der politischen Geografie. Für die meisten Polen nämlich war die DDR schlicht nicht existent. Man sah einfach über sie hinweg. Za Odra, jenseits der Oder, das begann eigentlich erst in Westberlin oder in Hannover. Das ist, wenn sie so wollen, der geopoetische Kern des "Eisernen Vorhangs" an der Oder.

Ein anderer ist der, wie schnell sich neue Grenzen im kollektiven Gedächtnis etablieren können. So hieß es in einer Meldung der Deutschen Presseagentur vom 24. Januar 2006:

"Wegen der starken Kälte sind schon 150 Kilometer der Oder zugefroren. 'Die Eisdecke reicht von Stettin bis südlich von Frankfurt (Oder), was fast drei Viertel der Oder entspricht', sagte der stellvertretende Amtsleiter des Wasser- und Schifffahrtsamts Eberswalde (Barnim), Sebastian Dosch, am Dienstag. 'Wir rechnen damit, dass sie bis zum Wochenende die Neiße erreicht.'"

Erstaunlich. 150 Kilometer entsprechen drei Viertel der Oder? Also hat sie statt 860 Kilometer Länge nur 200 Kilometer? Ein Paradoxon, aber eines, das sich erklären lässt mit dem Hinweis auf die gefühlte Geografie. Für das Wasser- und Schifffahrtsamtes Eberswalde reichte die Oder nicht hinein bis ins Schlesische und nach Mähren, wo sie auf einer Höhe von 633 Metern bei Kozlava entspringt. Vielmehr reicht die Oder nur von Stettin bis zu Mündung der Neiße. Die Grenzoder wird in dieser Verstümmelung zur realen Oder.

Meine Damen und Herren, wie aus diesem Schicksal als Grenzfluss und "Eiserner Vorhang" einmal ein "Wunder an der Oder" werden konnte und damit ein Strom, der Deutsche und Polen mitnimmt auf seinem Weg nach Europa, war im Juni 2010 Gegenstand einer kleinen Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung und des Willy-Brandt-Zentrums der Universität Breslau. Auf dieser Konferenz, die ebenfalls den Titel "Wunder an der Oder" trug, suchte der polnische Germanist Marek Zybura nach den Ursachen für diesen rasanten Imagewandel der Oder. Seine These will ich Ihnen nicht vorenthalten. Er sagt:

"Die Geschichte der Flüsse lässt sich nie ausschließlich auf deren wirtschaftlichen Aspekt, geschweige denn (grenz)politische Brisanz reduzieren. Die Geschichte eines Flusses, ist die Geschichte des Geistes (histoire de l’esprite – so seinerzeit Lucien Febvre über den Rhein), der jahrhundertelang sein Einzugsgebiet (in unserem Fall die sog. Terra Oderana) mit Leben und Sinn, also mit Zivilisation und Kultur befruchtet."

Zu diesem Geist der Oder gehört inzwischen auch jenes Wunder, das den Eisernen Vorhang Geschichte werden ließ. Seitdem er 1989 beiseite gezogen wurde, haben wir wieder den freien Blick auf den Lauf des Stroms und seine Geschichte. Wir sehen: den mährischen Lauf des Stroms und Ostrava, das ehemalige Ruhrgebiet der Habsburger, das als Armenhaus der Tschechischen Republik heute nach einer neuen Zukunft sucht; die oberschlesische Oder, in der die Bewohner der deutschen Minderheit, wie viele Polen auch, als Schlesier eine neue regionale Identität suchen; wir sehen Breslau, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Oderregion, das als "Stadt der Begegnung" zum Motor der deutsch-polnischen Versöhnung wurde; wir sehen junge Polen, für die das kulturelle Erbe der Deutschen nicht mehr Bürde ist, sondern Herausforderung; die Enkel der Vertriebenen sehen wir, die nicht mehr die Vergangenheit von Glogau Breslau und Crossen suchen, sondern die Gegenwart in Glogow, Wroclaw oder Krosno Odrzanskie. Über deutsche, polnische und tschechische Umweltschützer staunen wir, die gemeinsam gegen deutsche, polnische und tschechische Wasserbaubehörden kämpfen und über Kommunalpolitiker aus Stettin und Frankfurt, die ihrem Strom nichts sehnlicher wünschen als eine Zukunft im sanften Tourismus.

So kommt der ehemalige und verstümmelte Grenzfluss also wieder auf seiner ganzen Länge von 860 Kilometern auf eine Landkarte, die nicht mehr nur deutsch oder polnisch ist, sondern auch europäisch. Und er bildet wieder das Rückgrat der terra oderana, die im besten Sinne des Wortes zu einem narrativen Raum geworden ist. Der Grenzfluss hat Potsdam abgeschüttelt, er hat die Grenzen, die ihm die Geschichte in den Weg legte, überwunden, nun gehört er wieder dorthin, wo Ströme wie die Oder hingehören – ins Reich der Geopoesie. Um den Geist der Oder müssen wir uns keine Sorgen machen.

III.
Meine Damen und Herren, der Titel meines Vortrags lautet: "Oder und Memel. Alte und neue Grenzen in Europa." Interessant ist, dass dieser Titel sowohl vor einem deutschen als auch einem polnischen Publikum viele Assoziationen auslöst – und das nicht nur, weil die Oder der überwundene Grenzfluss zwischen Deutschen und Polen ist.

Aber auch der Memeldiskurs weist in Deutschland und Polen erstaunliche Parallelen auf. In beiden Ländern ist die Memel der Strom des verlorenen Ostens, in beiden Ländern wandelte sich dieser Osten von einem politischen zu einem kulturellen Begriff, in beiden Ländern wird dieser Osten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs wiederentdeckt, in beiden Ländern suchen Menschen an der Memel nach den Vielvölkerlandschaften der Vergangenheit und den Möglichkeiten des Zusammenlebens im Europa der Gegenwart. Sie sehen also, die Flüsse in Europa werden nicht nur wiederentdeckt. Diese Wiederentdeckung ist zugleich auch eine europäische Bewegung.

Eines aber unterscheidet die Wiederentdeckung der Oder von der der Memel. In dem Maße, in dem an der Oder seit nunmehr zwanzig Jahren die Grenzen verschwunden sind, sind sie an der Memel undurchlässiger geworden. Gleich zweimal markiert die Memel die Außengrenze der Europäischen Union. Zwischen Litauen und Belarus sowie zwischen Litauen und dem zu Russland gehörenden Kaliningrader Gebiet. Und dann kommt da, in Deutschland wie in Polen, noch eine anderen Grenze hinzu – die zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart.

In Deutschland hat diese letztgenannte Grenze zu einer eigentümlichen Verbannung dieses Stromes aus unserem Bewusstsein geführt. Zwei Beispiele: Vor einiger Zeit erschien ein Buch des Essayisten und Verlegers Wolf Jobst Siedler mit dem Titel "Weder Maas noch Memel". Siedler deklinierte darin die geistigen Zustände in Deutschland nach 1945 durch, und er legte Zeugnis ab von der Schwierigkeit der Deutschen, zur ersehnten Normalität zurückzukehren. Maas und Memel, die Titel gebenden Flüsse, blieben unerwähnt.

Gleiches gilt für einen, dem weniger an der Aufarbeitung als an der Irritation gelegen ist. Mittlerweile zum 75. Male gastiert Jürgen Kuttner an der Berliner Volksbühne mit seinem Videoschnipselvortrag "Von Mainz bis an die Memel". Der Berliner Hans Dampf auf allen Kanälen hat sich damit ein Format geschaffen, mit dem er, wie er sagt, die Welt erklären will – ein satirisches Gegenstück zum Wort zum Sonntag. Was das alles mit Mainz, und vor allem was es mit der Memel zu tun hat? Diese Antwort bleibt auch Kuttner schuldig.

So bleibt Deutschlands einst viertgrößtem Strom ein seltsames Schicksal: Die einen machen sich über ihn lustig, die andern gehen auf Distanz. Und das alles nur, weil ein Breslauer Professor für Germanistik am 26. August 1841 ein Lied geschrieben hat, dessen erste Strophe die beiden Zeilen "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt" beinhaltete.

"Lied der Deutschen" hatte August Heinrich Hoffmann von Fallerleben das Lied genannt, zum "Deutschlandlied" wurde es erst später. Dabei war die 937 Kilometer lange Memel alles andere als ein "deutscher Strom", wie der Schriftsteller Johannes Bobrowski einst ins Gedächtnis rief: Er sei beiderseits der Memel aufgewachsen, notierte er einmal, "wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit".

So gibt es also die Memel nicht nur einmal, sondern gleich viele Male. Die deutsche Memel, den litauischen Nemunas, den russischen Neman, den polnischen Niemen, den weißrussischen Njoman. Von wegen "Deutschland, Deutschland, über alles".

IV.
Das bedeutet aber auch, dass es an der Memel offenbar etwas komplizierter zugeht als an der Oder. Ganz so, wie es Juri Andruchowytsch übrigens für sein Mitteleuropa in Anspruch nimmt, wenn er sagt, dass sich der Mitteleuropäer durch eine besondere ästhetische Empfänglichkeit für Komplikationen auszeichne.

Die Memel wird, das kann ich Ihnen versprechen, diese Erwartungen nicht enttäuschen. So viele Namen es für den Strom gibt, so viele Geister ruft er hervor. In Weißrussland zum Beispiel ist der Njoman ein Mythos als der "Vater der Flüsse". An der Memel entstand mit Nahwahrudak als erster Hauptstadt das Großfürstentum Litauen. Dieses Großfürstentum war ethnisch gemischt, doch die orthodoxen Weißrussen bildeten die Mehrheit, zudem war das Alt-Weißrussische die Kanzleisprache. Viele weißrusissche Städte, unter ihnen Grodno, wurden von den Großfürsten gegründet. Für die nationalbewussten Weißrussen ist das Großfürstentum Litauen Teil der eigenen, weißrussischen Geschichte und die Memel der wichtigste Strom. Schließlich verbindet er, der in die Ostsee mündet, das Land mit dem Westen Europas. Mit der Memel halten die nationalbewussten Weißrussen Tuchfühlung mit Europa. Die Moskautreuen halten sich eher an den Dnjepr oder die Beresina.

In Litauen ist der Nemunas ein Mythos vor allem als Grenze zwischen dem Großfürstentum und den deutschen Ordensrittern. Fast 150 Jahre, von 1283 bis 1410, währte an der Memel der Dauerkrieg zwischen den Kreuzrittern und den zunächst heidnischen Litauern. Die Zeugnisse dieses Krieges, mächtige Burgen an den Steilufern des Stroms, kann man noch heute zwischen Kaunas und Jurbarkas bestaunen. Beendet wurde der Krieg erst mit der Niederlage des deutschen Ordens in der Schlacht von Tannenberg 1410, das bei den Litauern Zalgiris und bei den Polen Grunwald heißt, und dem 12 Jahre später geschlossenen Frieden vom Melnosee.

Der zweite Mythos des Nemunas ist das Ergebnis des Ersten Weltkriegs. Kaum waren Polen und Litauen unabhängig geworden, besetzten polnische Freischärler 1920 das Wilnagebiet und gliederten es 1922 als "Mittellitauen" in die zweite polnische Republik ein. Litauen war gezwungen seine Hauptstadt zu verlegen. Kaunas, die größte Stadt an der Memel, wurde zu provisorischen Hauptstadt und im Stil der Moderne ausgebaut. Die polnische Besetzung des Wilnagebiets ist in Litauen bis heute nicht vergessen.

Der polnische Mythos des Niemen hängt eng mit den Kresy wschodnie, den ehemaligen Ostgebieten der Adelsrepublik, zusammen. Dort lagen die mythischen Orte der polnischen Literatur: Wilna, Grodno, Lemberg. Für Polen war es nach dem Ersten Weltkrieg fast eine Selbstverständlichkeit, diese Orte zurückzuerobern. Dazu gehörte nicht nur die Besetzung des Wilnagebiets, sondern auch der polnisch-sowjetische Krieg, in dessen Folge auch Grodno und Lemberg wieder polnisch wurden. Der Niemen war nun über weite Teile ein polnischer Strom, beschrieben im Epos der Grodnoer Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa "Nad Niemnem" (An der Memel).

Und in Deutschland? Bis ins frühe 20. Jahrhundert nannte man Memel nur jenen 110 Kilometer langen Abschnitt der ostpreußischen Memel zwischen Schmalleningken und der Mündung ins Kurische Haff. Der 827 Kilometer lange russische (und nach dem ersten Weltkrieg litauische und polnische) Mittel- und Oberlauf des Stromes dagegen war Ausland und fremd. Nicht zuletzt deshalb wurde er auch im Deutschen bei seinem slawischen Namen genannt – Njemen. Memel und Njemen, das ist, als ob die Donau hinter Passau auch im Deutschen Dunaj, Duna, Dunav oder Dunarea hieße. Eine derartige Aufteilung eines Stroms in einen "eigenen" und den "fremden" war selbst im Europa des aufziehenden Nationalismus einzigartig.

Gleichzeitig verweist diese "semantische Teilung" bereits auf den deutschen Mythos der Memel. Dieser hängt stark mit der Gründung des Ordensstaates zusammen, aus dem später das Herzogtum Preußen und noch später die preußische und deutsche Provinz Ostpreußen hervorgingen. Allerdings ist diese Erzählung stark auf Königsberg fixiert, die Memel kommt darin nur am Rande vor. In den Mittelpunkt rückte sie erst nach dem Ersten Weltkrieg, als Deutschland das nördlich der Memel gelegene „Memelgebiet“ zunächst an den Völkerbund, später an Litauen abtreten musste. Am 23. März 1939, auch das gehört zum Mythos, wurde das Memelgebiet von Hitler wieder "heim ins Reich" geholt. Sechs Jahre später war die Memel für die Deutschen Geschichte. Was blieb, waren die Erinnerungen, die alten Fotografien, die Memel wurde zum verlorenen Strom Ostpreußens und zum Sehnsuchtsort der Heimwehtouristen.

Einen russischen Mythos der Memel, das will ich hier hinzufügen, gibt es übrigens nicht. Der Neman teilt das gleiche Schicksal wie das Kaliningrader Gebiet. Als Kriegsbeute Stalins markiert das Jahr 1945 im Norden Ostpreußens eine Zäsur. Weil die Geschichte dieser Stunde Null nur im Weg gewesen wäre, hat man sie einfach fortgeräumt. Neman heißt im russischen übrigens nicht nur die Memel, sondern auch das ehemalige Ragnit.

V.
Meine Damen und Herren, ich hätte Ihnen, um von den alten und neuen Grenzen an der Memel zu sprechen, nicht nur von der nationalen Narrativen und Mythen berichten können, sondern auch davon, wann und warum die Memel im Lauf ihrer Geschichte als Grenzfluss dienen musste. Ich vermute nur, dass ich in diesem Fall das Zeitlimit meines Vortrags gesprengt hätte. Aber auch in diesem Fall wäre es im Grunde um ein und die selbe Frage gegangen. Sie lautet: Gibt es überhaupt die Memel? Gibt es einen Geist, der über oder neben den nationalen Geistern steht. Oder verbirgt sich hinter den verschiedenen Namen für den Strom nur eine fortgesetzte Kultur der Abgrenzung und Grenzziehungen?

Lassen sie mich an dieser Stelle den memelländischen Dichter Hermann Sudermann zitieren. Der schreibt in seiner berühmten Erzählung "Die Reise nach Tilsit":

"„Und dann kommt mit einem Male Musik. Das sind die Dzimken, die ihre Triften während der Nacht am Ternpfahl festbinden müssen. Aber Gott weiß, wann die schlafen! Bei Tage rudern sie und singen, und bei Nacht singen sie auch. Ihr Feuerchen brennt, und dann liegen sie ringsum. Einer spielt die Harmonika, und sie singen. Da hört man auch schon das hübsche Liedchen 'Meine Tochter Symonene', das jeder kennt, in Preußen wie im Russischen drüben."

Litauische Dzimken, weißrussische Plyhatony: Die Memel war der Strom der Flößer. Selbst zur Zeit der litauischen Wittinen, russischen Boydaks und Kurischen Reisekähnen, allesamt Schiffstypen, die auf der Memel unterwegs waren, waren es immer noch diese Flößer, die seit jeher mit ihren "schwimmenden Wäldern" stromabwärts trifteten. Das muss ein atemberaubender Anblick gewesen sein. Aber nicht nur das.

Mit der Memel als Verkehrsweg für den wichtigsten Rohstoff an ihren Ufern, war das Verbindende erstmals stärker als das Trennende. Der Holzhandel auf der Memel hatte viele Zentren: die Zuflüsse am Oberlauf der Memel, an denen das frisch geschlagene Holz zu Flößen gezimmert wurde; Grodno als erste Großstadt, in der russische und jüdische Händler die Flöße auf ihre Zielhäfen verteilten; Kaunas mit seinem riesigen Bollwerk, an dem nicht nur Dutzende von Wittinen, Boydaks und Reisekähne lagen, sondern auch zahlreiche Flöße; Tilsit, das erste Zentrum des Holzhandels in Ostpreußen und schließlich Memel und Königsberg mit den Schneidemühlen und Kaufleuten, die das Holz über die Ostsee an den jeweiligen Bestimmungsort brachten.

So hat das Holz also die Grenzen überwunden, einen einheitlichen Wirtschaftsraum geschaffen und die vielen Memeln, die es gab, zu einem Strom vereint.

Doch die Flößer haben dieses Werk nicht alleine vollbracht. Zur Überwindung der Grenzen an der Memel haben auch die Juden beigetragen. In jüdischer Hand war nahezu die gesamte Wertschöpfungskette des Rohstoffs Holz an der Memel. Geschlagen von jüdischen Waldarbeitern, wurde es auch von jüdischen Flößern stromabwärts gebracht, von jüdischen Holzhändlern verkauft, weiter geflößt, und am Ende der Fahrt, zum Beispiel im Handelsstädtchen Ruß in Ostpreußen, fanden die Flößer bei jüdischen Wirtsleuten Kost und Logis. Auch zahlreiche Sägemühlen und Papierfabriken gehörten jüdischen Unternehmern. So ist die Memel, neben einem weißrussischen, litauischen, polnischen, russischen oder deutschen Strom, zuallererst ein jüdischer Strom gewesen. Nur eines hatten die Juden nicht – einen eigenen Namen für den Strom. Sie nannten ihn so wie die, mit denen sie zusammen lebten.

So gab es an der Memel also zwei Geister. Den der nationalen Narrative und der Grenzen, des Krieges, und der Vernichtung. Und den eines gemeinsamen Wirtschafts- und Kulturraumes, der, um mit Marek Zybura zu sprechen, jahrhundertelang sein Einzugsgebiet mit Leben und Sinn, also mit Zivilisation und Kultur befruchtet hat.

Meine Damen und Herren, die Juden als das verbindende Element an der Memel gibt es nicht mehr, sie wurden ermordet und vernichtet von Menschen aus einem Land, in dem die Memel heute als verlorener Strom betrauert wird. Bereits am 1. Dezember 1941, also nur ein halbes Jahr nach dem Beginn des Russlandfeldzugs berichtet der SS-Standartenführer Karl Jäger stolz von 137.346 Exekutionen. Seinen Bericht endet er mit den Worten.

Ich kann heute feststellen, dass das Ziel, das Judenproblem für Litauen zu lösen, vom EK. 3 erreicht worden ist. In Litauen gibt es keine Juden mehr, ausser den Arbeitsjuden incl. ihrer Familien. Das sind in Schaulen ca. 4.500, in Kauen 15.000, in Wilna 15.000. Diese Arbeitsjuden incl. ihrer Familien wollte ich ebenfalls umlgen, was mir jedoch scharfe Kampfansage der Zivilverwaltung (dem Reichskommissar) und der Wehrmacht eintrug und das Verbot auslöste: Diese Juden und ihre Familien dürfen nicht erschossen werden."

Dieses Dokument macht sprachlos, auch weil es verdeutlicht, mit welch kaufmännischer Akribie die Deutschen bei der Vernichtung der europäischen Juden vorgingen. Der Jägerbericht verdeutlicht aber auch, dass der SS willige Helfer zur Hand gingen. Eine Tatsache, die zu akzeptieren sich die Bewohner im seit 1990 unabhängigen Litauen lange Zeit schwer taten.

VI.
So gesehen ist 1989/1990 für die Memel gleich in doppeltem Sinne eine Epochenzäsur. Einmal, weil nun jenseits der ideologischen Verbote die Verbrechen der totalitären Regime an der Memel in ihrer Monstrosität deutlich werden. Und zweitens, weil dies die Voraussetzung dafür schafft, den Blick wieder auf den Lauf eines Stroms zu richten, der neben der Teilung in das "Eigene" und das "Fremde" immer auch Platz hatte für das Gemeinsame.

Damit kann die Memel heute wieder zu einem Symbol des Zusammenlebens der Kulturen werden. Ein Strom, an dem es nicht mehr nur die nationalen Narrative gibt, sondern auch andere Erzählungen. Erzählungen, bei denen nicht in "wir" und "die" unterschieden, sondern das Gemeinsame betont wird. Nicht die Grenzschützer sind die Helden dieser Erzählungen, sondern die Grenzgänger und Brückenbauer.

Lassen Sie mich drei dieser grenzüberschreitenden Erinnerungsorte nennen, die für die Memel von heute von Bedeutung sind. Der erste ist, das muss sein im Luisenjahr, die preußische Königin der Herzen. Sie alle kennen ihren – vergeblichen – Bittgang zu Napoleon am 6. Juli 1807. Drei Tage später war das Schicksal Preußens besiegelt. Über die Hälfte seines Territoriums verlor Friedrich-Wilhelm III. beim Frieden von Tilsit. Dass Preußen nicht völlig zerschlagen wurde, ging auf das Konto des russischen Zaren Alexander I. Wer heute durch das russische Sowjetsk an der Memel schlendert, wird gleich zweimal an diesen Frieden erinnert. Einmal durch einen Gedenkstein, an dem auf Russisch, Französisch und Deutsch von den Ereignissen 1807 die Rede ist.

Die zweite Erinnerung an den Frieden von Tilsit ist die Brücke über die Memel. 2007, also zweihundert Jahre nach dem denkwürdigen Ereignis, bekam die Memelbrücke ihren alten Namen zurück – Königin-Luise-Brücke. Anstatt Hammer und Sichel prangt nun am Brückenportal wieder die Büste der preußischen Königin.

Doch nicht nur im russischen Teil der Memel ist die Luise ein übernationaler Erinnerungsort, sondern auch in Litauen. Dort steht vor allem das Exil des preußischen Königshauses in Memel im Mittelpunkt. Mit großem Stolz erinnert man heute in Klaipeda daran, dass die preußischen Reformen, zum Beispiel das Edikt zur Bauernbefreiung vom Oktober 1807 in dieser Stadt ihren Anfang genommen haben. Dass Luise bei aller Zurückhaltung zu den Sympathisanten der Reformer gehörte, weiß man im heutigen Klaipeda nur zu gut. Auch Memel profitierte damals von der Einführung der kommunalen Selbstverwaltung, die ebenfalls zum Reformwerk gehörte. Wie in vielen Ländern Osteuropas blickt man heute auch in Litauen auf die Reformen als Teil einer Modernisierung und Dezentralisierung der Macht, die aus der Rückschau einer der Voraussetzungen dafür bildeten, was man heute als Europa der Regionen betrachtet.

Für Alvydas Nikzentaitis ist dies eine Entwicklung in Richtung Europa. Anders als die Bewohner im Kaliningrader Gebiet, betont er, haben sich die Litauer im Memelland schon zu Zeiten der Sowjetunion mit dem kulturellen Erbe Ostpreußens beschäftigt. Erkennbar ist dies zum Beispiel bei der Namensgebung für die ehemaligen ostpreußischen Städte und Dörfer. So geht Klaipeda auf den alten litauischen Namen für Memel zurück. Tilsit hingegen wurde – als Sowjetstadt – völlig neu benannt.

Das zweite Beispiel eines grenzüberschreitenden Erinnerungsortes kommt aus der Literatur und handelt von Adam Mickiewicz.

Geboren im heutigen Weißrussland besang Polens Nationaldichter in seinem Versepos Pan Tadeusz Litauen als sein Vaterland. Ein Kosmopolit also, der einmal seinem Freund Joachim Lewelel schrieb:

"Und wohin Du Dich auch wendest, zeigt jeder deiner Schritte, dass du vom Niemen bis, ein Pole, ein Bewohner Europas."

An Adam Mickiewicz wird in Belarus heute gleich zweimal erinnert. Einmal im Geburtshaus seines Vaters in Nahwahrudak, der ersten Hauptstadt des litauischen Großfürstentums. Dort wird vor allem ein nationales Erinnern gepflegt, demzufolge Mickiewicz ein Belarusse war, der nur versehentlich Polnisch geschrieben habe.

Ganz anders dagegen im Geburtshaus des Dichters in Zaossie. Dort begrüßt einen der Direktor des Museums mit einer regelrechten Performance. Eine herrliche Mischung aus Belarusissch und Polnisch spricht er dann, einige litauische Wörter sind auch dabei. "So hat Mickiewicz gesprochen", sagt der Direktor und seine Botschaft ist klar: Polens Nationaldichter gehört nicht den Polen und auch nicht den Weißrussen, er gehört allen, als ein Erinnerungsort der Literatur an der Memel.

Das dritte Beispiel gehört schon zur Gegenwart. Im Jahre 1958 verließ ein junger, 19-Jähriger Mann sein Geburtsdorf in Weißrussland, weil er zur Roten Armee eingezogen werden sollte. Weil er, wie viele in der Gegend, zur polnischen Minderheit gehört, kann er mit seinen Eltern als so genannter Repatriant in die Volksrepublik Polen aussiedeln. Dort wird der junge Mann bald Polens Rocklegende – und er schenkt der Memel, von der er stammt, seinen Namen: Aus Czeslaw Wydrzycki wird Czeslaw Niemen.

Verehrt wird Niemen, dessen Song "Dziwny jest ten swiat" - "Seltsam ist diese Welt", viele von Ihnen kennen, noch heute. Und zwar in Polen wie auch in Weißrussland. Als er, der 2004 an Krebs starb, am 16. Februar 2009 70 Jahre alt geworden wäre, gab es auch in Minsk und seinem Heimatdorf Stare Wasilischki Konzerte und Feiern. Für die Jugendlichen dort ist er heute, angesichts des autokratischen Regimes Alexander Lukaschenkos, ein Freiheitsidol.

VII.
Vielleicht, meine Damen und Herren, muss man die Existenz solcher grenzüberschreitender Erinnerungsorte auch deshalb so betonen, weil die Grenzen nach wie vor das beherrschende Thema an der Memel der Gegenwart sind.

EU-Außengrenze, Festung Europa, das bedeutet Visa-Pflicht, Wartezeiten bei der Beantragung von Visa, finanzielle Belastungen, lange Schlangen vor den Grenzübergängen. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, sagen sie in Grodno, ist an der Memel eine neue Mauer errichtet worden. Der Schiffsverkehr in den nur 40 Kilometer entfernten litauischen Kurort Druskininkai wurde eingestellt.

Ob die Memel einmal, ähnlich wie die Oder, die Menschen verbindet und tatsächlich zu einem europäischen Strom werden kann, ist also nicht nur eine Frage der gemeinsamen Erinnerungsorte und der Herausbildung regionaler Narrative und Identitäten. Es ist auch eine Frage der Politik.

Lassen Sie mich am Ende meines Vortrags dazu drei Anmerkungen machen. Auf Initiative Polens hin hat die Europäische Union im Mai 2009 auf ihrem Gipfel in Prag die so genannte "Östliche Partnerschaft" ins Leben gerufen, eine vertiefte Zusammenarbeit mit Belarus und der Ukraine, aber auch Moldawien, Armenien, Georgien und Aserbeidschan. Gegenüber dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko wurde das Einreiseverbot in die EU-Staaten vorläufig aufgehoben. Eine andere Visapolitik steht aber nicht auf der Agenda.

Dabei wäre gerade eine Öffnung der Grenzen das beste Geschenk an die Demokratie in Weißrussland und Russland. Wer den Westen, seine reiche Kultur, seine Meinungsvielfalt und gelebte Demokratie kennenlernt, wird mit anderen Maßstäben in sein Land zurückkehren, in dem es von alldem nicht allzuviel gibt.

Immerhin, das ist die zweite Anmerkung, soll es auf regionaler Ebene einige Erleichterungen geben. Am 9. Februar 2010 unterzeichneten die Außenminister von Belarus und Polen in Warschau das Abkommen über einen so genannten kleinen Grenzverkehr. Wenn das Abkommen ratifiziert ist, sollen dann die Menschen in einem Streifen von 30 Kilometern beiderseits der Grenze ohne Visa ins Nachbarland reisen können. Das wäre vor allem für Angehörige der weißrussischen Minderheit in Polen und der polnischen Minderheit in Weißrussland eine Erleichterung. Leider ist ein ähnliches Abkommen zwischen Belarus und Litauen sowie zwischen Litauen und Russland nicht in Sicht.

So ist die Frage nach der europäischen Memel also nach wie vor eine Frage der Initiativen von unten. Immerhin, es gibt Anlass für einen vorsichtigen Optimismus. Vor allem im Bereich des Tourismus ist die Außengrenze der EU in jüngster Zeit etwas durchlässiger geworden. An der Memel ist inzwischen sogar ein grenzüberschreitendes Paddeln zwischen Polen, Belarus und Litauen möglich geworden.

VIII.
Die dritte Anmerkung betrifft die Rolle der Flüsse bei dieser Überwindung der Grenzen. "Flüsse", schreibt Juri Andruchowytsch in seinen 29 Flussliedern, "sind zweifellos ein Segen für diese Welt. Besser gesagt: Sie könnten ein Segen werden, wenn wir mit der Welt behutsamer umgingen."

Man könnte an dieser Stelle auch ergänzen: Wenn wir die Vielschichtigkeit dieser Welt nachhaltiger zur Kenntnis nähmen: Flüsse, meine Damen und Herren, und unter ihnen vor allem Grenzflüsse, haben nämlich nicht nur ihre eigene Geschichte. Sie haben auch ihre eigene Geschichtsschreibung. Wegweisend für einen europäischen Blick auf den Rhein war der französische Historiker und Begründer der Annales-Schule, Lucien Febvre, der 1931 die erste übernationale Geschichte des Rheins auch als Wirtschafts- und Sozialgeschichte geschrieben hat. Seitdem sind eine Reihe weiterer Flussgeschichten erschienen: Claudio Magris' Donaubiografie etwa oder vor kurzem Peter Ackroyds Geschichte der Themse. Auch wenn der britische Historiker darin das Konzept einer liquid history skizziert, sind wir von einem liquid turn, der dem viel zitierten spatial turn der Geschichtswissenschaft folgt, noch weit entfernt.

Die Schriftsteller und Geopoeten sind da einen Schritt weiter. Wunderbar verknüpft Jan Böttcher in seinem Elberoman "Nachglühen" das Alltagsleben in einem Dorf zu einem deutsch-deutschen Mikrokosmos. Esther Kinsky wiederum beschreibt die Theiß in ihrer Novelle "Sommerfrische" als Naturgewalt, mit der sich die Menschen einrichten müssen – oder untergehen. Die bereits zitierte Olga Tokarczuk schließlich schlägt vor, das Europa der Regionen nach den Einzugsgebieten seiner Ströme zu ordnen. Ein poetisches Konzept, gewiss, aber was für eines!

Geschichte und Geschichten im Fluss: Nicht nur die für die Betrachtung der Flüsse so nötige Multiperspektive bieten solche Arbeiten, sondern eine Neuvermessung der Ströme in Raum und Zeit. Lange, bevor die Menschen an ihnen siedelten, flossen die Ströme an diesen Orten vorbei. Und sie werden auch noch da sein, wenn diese Landstriche längst entvölkert sind, weil neue Wanderungen Europas Karten neu mischen werden. Ein bisschen stehen die Ströme also auch über der Geschichte.

Das gilt auch für die Memel. Ob Memel, Nemunas, Njoman oder Niemen. Mag dieser Strom noch so viele Namen haben – im Grunde bleibt er bei seinem Lauf von der Quelle bei Minsk über Grodno und Kaunas bis ins Kurische Haff immer ein-und derselbe Strom. Den Lauf seiner Wasser stören dabei weder die nationalen Narrative, noch die Außengrenzen der EU. So ist es also der Strom selbst, der den Menschen ein Vorbild sein kann. Ganz so, wie es ein anderer Mitteleuropäer meint. Über die neuen Grenzen an der Memel sagt Krzysztof Czyzewski, ein Brückenbauer zwischen Polen, Litauen, Russland und Weißrussland, dass diese nicht das letzte Wort der Geschichte seien:

"Diese Grenzen sind temporäre Grenzen. Früher oder später bringt uns der Fluss wieder zusammen. Gemessen an dem, was die Memel erlebt hat, ist die Gegenwart doch nur Oberfläche."

Meine Damen und Herren, so kann also die Memel, wie schon zuvor die Oder, die Weltengegend Mitteleuropa um eines bereichern: ihre Unerschrockenheit, Grenzen zu überwinden und ihr Selbstvertrauen, sich selbst dabei in den Mittelpunkt zu stellen. Gerade das ist auch bitter nötig. Schließlich werden Regionen wie das Oderland und das Memelland in Europa nur dann eine Chance haben, wenn sie es schaffen, aus ihrer periferen Lage am Rande der Nationalstaaten eine neue, grenzüberschreitende Mitte zu schaffen.

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