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DRUCKVERSION Stadt am Wasser

Nach dem Krieg hat Stettin der Oder den Rücken zugekehrt. Nun will die Stadt sich wieder mit ihrem Fluss versöhnen

von UWE RADA

Zu den hartnäckigen Mythen dieser Stadt gehört die Vorstellung, Stettin liege am Meer. Das mag damit zusammenhängen, das Stettin eine Hafenstadt ist. Schon vom Balkon der Stadt, den Hakenterrassen, polnisch: Waly Chrobrego, kann man die Passagierschiffe und Frachter sehen, die am Oderufer vor Anker liegen. In der Brise, die über die Hakenterrassen weht, liegt unverkennbar Meeresduft. Und fängt nicht gleich hinter den zahllosen Hafenbecken mit ihren Kränen der Dabie-See an, dessen nördliche Ausläufer bis ins Stettiner Haff reichen und damit in die Ostsee? Ist nicht alles in der Stadt baltyckie, also baltisch, von der deutsch-polnisch-dänischen Brigade der NATO, die hier Dienst tut bis zu den Namen der Restaurants?

Und doch, die Vorstellung bleibt eine Illusion. 60 Kilometer Luftlinie sind es von den Hakenterrassen bis nach Swinemünde, 60 Kilometer, die ganz schön lang werden können. Sowohl mit der Bahn als auch mit dem Auto dauert die Fahrt an die Ostsee knappe zwei Stunden, mit dem Schiff dauert es noch länger. Dass sich der Mythos immer wieder erneuert, sagt aber viel über die Stadt mit ihren 420 000 Einwohnern aus, die erst nach 1945 polnisch geworden ist. Eine geographische Vermutung wie die von Stettins Lage am Meer hat ihre letzten Weihen durch den fernen und damit unscharfen Blick aus Warschau erhalten. Man wusste einfach nicht genau, wo und wie die Stadt liegt, die so lange zu Deutschland gehört hatte.

Ähnlich unscharf war die Politik der polnischen Regierung gegenüber dem neuen Szczecin. Weil man sich nicht sicher war, ob die Stadt tatsächlich bei der polnischen Volksrepublik verbleiben würde, meint der Stettiner Autor Krzysztof Niewrzeda, versäumte es die Warschauer Zentrale, der Stadt an der Grenze zu Deutschland die nötigen Investitionen zugute kommen zu lassen. Stettin, meint Niewrzeda, wurde wie eine "gepachtete Stadt" behandelt. Selbst die Jacobikirche und das Schloss der pommerschen Herzöge seien dreißig Jahre lang nicht wieder aufgebaut worden. "Bis zu den achtziger Jahren fühlte man sich in Stettin, als würde man auf gepackten Koffern sitzen." Bestärkt wurde das Gefühl der Unsicherheit, so der Autor, durch die Propaganda, die mit der Angst vor dem deutschen Revanchismus spielte. "In Warschau, Krakau oder Lublin nahm das niemand ernst, in Stettin dagegen ist das Echo dieser Propaganda noch heute zu vernehmen."

Und es ist zu sehen. Gegenüber der Hakenterrassen am Steilufer der Oder, die 1907 unter dem damaligen Oberbürgermeister Hermann Haken errichtet wurden, befindet sich die Lasztownia. Einst war die Halbinsel auf der Oder der Gründungsort des Stettiner Hafens, heute sieht sie einer unsicheren Zukunft entgegen. Zwar ankern am Bulgarischen Kai noch einige Frachter. Der Rest der Gebäude gammelt aber vor sich hin. Selbst die denkmalgeschützten Bauten des im 19. Jahrhundert erbauten und 1992 geschlossenen Schlachthofs gleichen nur noch Ruinen. Keine guten Aussichten also.

Als ob der Anblick eine ständige Erinnerung an verpasste Chancen sei, haben sich die Stettiner wie auch ihre Stadt vom Fluss zurückgezogen ins sichere Hinterland. So beginnt das Stettin von heute, ganz im Gegensatz zum Mythos, den es pflegt, erst hinter den beiden Toren, die einst die Grenze der Stadt markierten — das Hafentor und das Königstor. Es ist eine quirlige und junge Großstadt, die sich hier dem Besucher offenbart. Im Jazzcafé im Königstor sitzen die Müßiggänger und Erfolgreichen beim Latte Macchiato, an der Allee der Unabhängigkeit staut sich der Autoverkehr, in der neuen Shopping-Mall Galaxy in "Downtown" Stettin drängen sich die Einkaufstouristen, im Restaurant "Bombay" bewundern Geschäftsleute und Gourmets die Kochkünste der ehemaligen Miss India, die sich in der ulica Partyzanow mit ihrem polnischen Mann selbständig gemacht hat.

Noch vertrauter wird die Szenerie in den Straßen rund um den Plac Grundwaldzki. Vor allem Besucher aus Berlin werden durch die fünfstöckigen Gründerzeithäuser und die breiten Gehwege an die eigene Stadt erinnert. Kein Wunder, war es doch kein anderer als James Hobrecht, der den Stettinern im vorletzten Jahrhundert den Bebauungsplan geliefert hat — der gleiche Hobrecht, der auch in Berlin für die Mietskasernenstadt verantwortlich zeichnete. Als 2006 eine Ausstellung von Stettiner Fotografen im Berliner Bezirk Kreuzberg gezeigt wurde, stellte das Publikum fest, wie fern und doch so nah die polnische Stadt war. Immerhin: Kreuzberg und Stettin verbindet seit der Wende eine engagierte Städtepartnerschaft.

Dass die Stettiner Innenstadt anders als in Krakau oder Breslau nicht als schön oder gar pittoresk bezeichnet werden kann, scheint Bewohner und Besucher nicht zu stören. Es ist die Lage, die für die Hauptstadt der Woiwodschaft Westpommern spricht. Nur 140 Kilometer liegt Stettin von Berlin entfernt. Manch einer witzelt gar: Was ist die einzige Stadt Polens mit drei Flughäfen? Antwort: Stettin — Tegel, Tempelhof, Schönefeld.

Unweit des Jazzcafés im barocken Königstor befinden sich die Redaktionsräume der Tageszeitung Kurier Szczecinski. Hier arbeitet Bogdan Twardochleb, einer der besten Deutschlandkenner seiner Stadt. Auch er kennt die Geschichten der Vorläufigkeit, die Stettin bis heute als Provisorium wirken lassen. "Bis in die fünfziger Jahre haben die Polen, die nach dem Krieg nach Stettin kamen, die Bäume im Stadtpark abgeholzt ", erzählt er. "Warum haben sie nicht begriffen, dass das ihr Park ist? Warum hat ihnen das niemand erzählt? Warum hat sie keiner daran gehindert, den eigenen Park abzuholzen?"

So weit, den Stettinern einen Minderwertigkeitskomplex zu unterstellen, wie es manche in der Stadt inzwischen tun, würde Bogdan Twardochleb jedoch nicht gehen. Aber auch er weiß um das schwierige Verhältnis zu den Deutschen, das die Stadt bis heute daran gehindert hat, ihren Platz zwischen Deutschland und Polen und damit in Europa zu finden. "Vielleicht liegt Stettin zu nahe an Berlin", meint er und spielt auf die Tatsache an, dass nirgendwo sonst in Westpolen antideutsche Parolen solchen Anklang finden. Doch eine Alternative zur Zusammenarbeit, davon ist Twardochleb überzeugt, gibt es nicht. Inzwischen gibt es für diese Zusammenarbeit auch eine ebenso griffige wie pragmatische Formel. "Stettin muss wieder der Hafen für Berlin werden."

Also doch wieder ans Wasser. Von den Redaktionsräumen des Kurier Szczecinski und dem Hafentor führt der Weg zur Oder über das Schloss der Pommerschen Herzöge. Der am Steilufer der Oder entstandene Schlossbau stammt aus dem 15. Jahrhundert, als der Greifenherzog Bogislaw der Große Pommern vereint und Stettin zu seiner Hauptstadt gemacht hatte. Unterhalb des Schlosses, in dem sich die auch bei den Deutschen beliebte Oper befindet, lag einst die Altstadt Stettins. Im Krieg zerstört, war sie nach 1945 nicht wieder aufgebaut worden, weil das polnische Szczecin den Brückenschlag aufs östliche, soll heißen polnische Oderufer suchte. Neu aufgebaute Altstadtgiebel hätten da, so die Sicht der Ideologen, nur den Blick auf das Pommernschloss verstellt, dessen Blüte in der Zeit lag, bevor die Preußen 1720 die Geschicke Stettins bestimmten. Im jungen Szczecin war das preußische Deutschland ebenfalls städtebaulich so gegenwärtig, dass der Blick auf den polnischen Charakter der Stadt die einzige Chance bot, eine neue Identität zu erproben.

Heute stehen sie wieder, die Häuser der Altstadt, selbst wenn die meisten Stettiner meinen, der Wiederaufbau aus den neunziger Jahren sei ein Flop. Doch das hat nicht nur mit den postmodernen und viel zu bunten Fassaden der "jüngsten Altstadt Polens" zu tun. Die autobahnähnliche Trasse entlang der Oder und über den Fluss schneidet Stettin nach wie vor vom Wasser ab. Anders als die alte endet die neue Altstadt nicht am Oderufer, sondern an der Arteria nadodrzanska, der vierspurigen Oderarterie. Bogdan Twardochleb, der Deutschlandkenner vom Kurier Szczecinski, erinnert seine Leser gerne an das Stettin vor dem Krieg. Vor allem an das so genannte "Bollwerk", die Oderpromenade mit ihren Schiffsanlegern, Märkten, Buden und der dicht aneinander gereihten Häuserzeile. Die ist für die Stettiner heute der Inbegriff einer Stadt am Wasser— und natürlich des Mythos von der Stadt am Meer. Das gegenwärtige Szczecin aber, sagt Twardochleb, ist eine Stadt ohne Mitte. Erst wenn sich die Stadt wieder dem Fluss zuwende, könne ihr Herz wieder zu schlagen beginnen.

Das meinen inzwischen auch die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung. "Stettin liegt auf beiden Seiten der Oder", meint Stadtarchitekt Jan Lukaszewski. "Seine Mitte aber muss, wie in Breslau, auf den Oderinseln liegen." Lukaszewskis Objekt der Begierde ist die Lasztownia gegenüber den Hakenterrassen. Nach Hamburger Vorbild soll dort eine neue Hafen-City entstehen, mit Wohnungen, Lofts, Hotels und vielleicht sogar einer Philharmonie. Die Erweiterung des Meeresmuseums von den Hakenterrassen auf die Halbinsel ist bereits beschlossene Sache. So rückt Stettin nun auch im Denken wieder dorthin, von wo aus es einst seine Entwicklung nahm.

Und es rückt, all den Verunsicherungen zum Trotz, ein bisschen näher heran an die Deutschen. Woher er die Hoffnung nehme, dass die neuen Pläne für das Herz von Stettin realistisch sind, lautet eine der Fragen, die Lukaszewski immer wieder beantworten muss. Er antwortet nicht: weil Stettin am Meer liegt. Er sagt: weil Berlin so nahe liegt wie keine andere Stadt.

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