themenflüsseNein, ich muss die Jeetzel nicht mögen

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DRUCKVERSIONNein, ich muss die Jeetzel nicht mögen

Jeetze, Jeetzel: Noch immer ist der linke Zufluss der Elbe in der Altmark und im Wendland das Rückgrat der regionalen Identität. Dabei gibt es diesen Fluss gar nicht mehr, sondern nur noch einen Kanal, der das Wasser möglichst schnell wegschaffen soll. Die Landschaft hält die Jeetze(l) nicht mehr zusammen. Elf Wasserproben

von UWE RADA

Die erste

Wie soll man von einem Fluss erzählen, den es nicht mehr gibt, weil er vor langer Zeit schon zum Kanal und Abflussrohr gemacht wurde?

Von dem nur noch Bilder existieren wie dieses aus dem Heimatmuseum Salzwedel. Es zeigt eine Stadtansicht aus dem Jahre 1830: Die Kirchen und Türme der Stadt im Hintergrund, vorne der Fluss, der sie ernährt. Oder schon nicht mehr? Nur zwei Kähne befahren die Jeetze, gestakt werden sie, weil der Fluss nicht allzutief ist. Am rechten Ufer abgestellt ein Heuwagen, Kühe nutzen das seichte Wasser als Tränke. Auch die ersten Touristen sind da, Müßiggänger, die herausgewandert sind vor die Tore der Stadt, um die Gesamtansicht aus der Feder von Gottheil/Poppel und Kurz zu vollenden.

Oder dieses aus dem Museum in Hitzacker. Jeetzelschiffe im Hamburger Hafen zeigt es und ihre Schiffer. Stolz und im Sonntagsstaat posieren sie am Kai, die große Stadt im Nacken. Noch 1890, das Jahr, in dem das Foto entstand, haben die Jeetzelkähne ihre Waren in die Hansestadt gebracht. 1863, diese Zahl ist überliefert, waren es 5.000 Tonnen. Doch schon vor dem Ersten Weltkrieg war Schluss. 1901 wurde die Jeetzelschifffahrt eingestellt. Die Eisenbahn hatte dem Zufluss der Elbe das Wasser abgegraben.

Und noch eine Abbildung: Merians Sicht auf Lüchow und sein Schloss. Der Text dazu lautet:

"Gemeltes Schloss ist von den Gassen der Stadt Luchow abgelegen, mit Wassern zu hinterst und beyseits umbflossen, vorn mit einer Zugbrücken, und umbher mit einem Wall verwahret".

Niedergang auch hier, wie der Vergleich der Schwarzpläne der Stadt Lüchow aus den Jahren 1710, 1948 und 1980 zeigt. Als der Text im Merian verfasst wurde, lag Lüchow, der Sitz der ehemaligen Grafschaft, ebenso wie Hitzacker, auf einer Flussinsel. Von Süden kommend zweigten zwei Jeetzelarme vor St. Johannis nach rechts ab. Zwei weitere Arme umspülten das Schloss und führten nach Norden, wo sie sich mit den anderen Jeetzelarmen wieder vereinigten. Noch 1948 war die hydrologische Topografie Lüchows dieselbe wie 1710, und das, obwohl die Stadt 1811 abgebrannt und mitten in der Franzosenzeit und der neuen Ordnung, die sie brachte, wieder aufgebaut worden war. 1980 dagegen gab es nur noch zwei parallele Kanäle, die Alte Jeetzel und die Drawehner Jeetzel. Der mittlere Lauf wurde zugeschüttet. Dort, wo mitten in der Altstadt einmal Mühlen standen, führt heute der Burgmühlenweg entlang. Der Name einer Gasse als Gedächtnisstütze für das Verschüttete.

Die zweite

Jeetze, Jeetzel: Die Basics lauten wie folgt. Entspringt als Jeetze bei Altferchau in der Nähe von Klötze in der Altmark. Große Zweifel scheint sie von Anfang an nicht gehabt zu haben, die Fließrichtung Norden wird sie beibehalten. Verbindet Salzwedel und die Altmark mit den Landstädtchen des Wendlands: Wustrow, Lüchow, Dannenberg, Hitzacker. Erste urkundliche Erwähnung als fluvium Jesne 1014. Spätere Schreibweisen: Yhesene (1303) oder fluvius Gisne (1341). Das "tz" bekommt sie 1392. So heißt sie auch auf einer Karte, die im Treppenturm des Hafencafés in Dömitz hängt: Jetze.

Was sagen diese Basics? Gibt es so etwas wie die Objektivität eines Flusses, messbar in Daten wie Länge des Flusslaufs, Zahl der Nebenflüsse, Größe des Einzugsgebiets? Schon beim Flusslauf hapert es mit der Messbarkeit. Je nachdem, was man als die Jeetze oder Jeetzel betrachtet, beträgt ihr Lauf 60 oder 73 Kilometer. Verbergen sich hinter diesem Flüsschen also zwei? Ist die Jeetze oder Jeetzel eine gespaltene Flusspersönlichkeit. Wer hat sie dazu gemacht? Und warum?

Die dritte

Zwei Monate habe ich in Schreyahn gelebt, einem Rundlingsdorf im Wendland, das das Zeug zum Klassiker hat. Die Straße, die mich auf den Dorfplatz bringt, muss ich auch nehmen, um das Dorf zu verlassen. Waren das die Slawen, die sich aus Furcht vor ihren Feinden zurückgezogen haben in ihre Dorfwagenburg? Oder haben es auch die Araber ins Wendland geschafft? Ihre Soukhs folgen demselben Muster. Je weiter man ins Gassengewirr hineingezogen wird, desto privater wird es – bis man irgendwo an einem Platz endet, der dem Dorfplatz von Schreyahn nicht unähnlich ist. Nur ist das Geschrei größer, weil mehr Menschen im Soukh leben als im ehemaligen Zonenrandgebiet.

Vielleicht hat sich Schreyahn aber auch eingeigelt, weil zwischen den Dörfern nur Wiesen und Äcker liegen, nur selten unterbricht ein Wäldchen die grobmaschige Landwirtschaft. Der nächste Bach findet sich im Süden, es ist die Dumme, die vor 1990 die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR markierte. Schnurgerade führt sie nach Wustrow, wo sie in die Jeetze mündet, die hier schon Jeetzel heißt. Ebenso schnurgerade führt die Jeetzel nach Lüchow und von dort wieder schnurgerade nach Dannenberg. Das Mäandern hat man der Alten Jeetzel überlassen, das meiste Wasser führt seit den siebziger Jahren der Jeetzelkanal. Schnurgerade führt er nach Hitzacker, umspült die Altstadt, bevor dann die Elbe ein Einsehen hat.

Überall wo ich hinkomme, suche ich den nächsten Fluss, um mich zu orientieren. Erst wenn ich weiß, welcher Wasserlauf in welchen mündet (die Hydrologen sagen: entwässert), bin ich angekommen. Die polnische Autorin Olga Tokarczuk, sie ist an der Oder geboren, hat einmal vorgeschlagen, das Europa der Regionen nach den Einzugsgebieten der Flüsse zu ordnen. Ein poetisches Konzept, gewiss, aber was für eines. Haben Sie schon einmal eine Karte der europäischen Flussregionen, zum Beispiel die Hydrographia Germaniae von 1712 neben eine politische Karte aus der selben Zeit gehängt? Übersichtlicher ist Europa da und um seine Kleinstaaterei gebracht. Es gäbe in Mitteleuropa nur noch ein (viel befahrenes) Rheinland, ein (sehr kleines) Emsland, ein (etwas größeres) Weserland, das (mir liebe) Elbland, das (mir ebenso liebe) Oderland, das (mächtige) Weichselland, das (vielsprachige) Memelland und das (kakanische) Donauland. Kriege würden, wenn überhaupt, zwischen Rheinländern und Donauländern, Elbländern und Oderländern geführt werden. Schön wäre das auch, weil ich als Elbländer dann in Berlin und Schreyahn gleichermaßen zu Hause sein könnte. Nur werde ich den Eindruck nicht los, als wollte die Jeetzel gar nicht zum Elbland gehören, als verweigerte sie sich dem poetischen Konzept. Ist die Jeetzel etwa unpoetisch?

Die vierte

Ausflüge. Stichproben. Café Amadeus in Salzwedel. Endlich ist der Kaffeegarten geöffnet, die Sonne wärmt den Rücken, bald auch den Rest. "Venedig der Altmark" hat einer, lange bevor es Tourismuswerbung gab, Salzwedel genannt. Südliches Phantasma gegen nordische Hansestadt. Im Kaffeegarten des Amadeus stimmt es. Man kann hinabschauen auf die Jeetze, die hier recht malerisch zwischen den Gassen gluckert. Häuser aus dem Mittelalter haben sich umgedreht, mit dem Balkongesicht zum Fluss. Schwalbennester würde ich die ärmlichen Anbauten gerne nennen, wäre es nicht zu abgedroschen. An einem dieser Schwalbennester klebt eine kleine Terrasse, warum, das bleibt ein Rätsel. Vom Haus führt keine Tür, nicht einmal ein Fenster dahin. Geheimnisvolles Salzwedel. Vom Fluss aus könne man die Welt nicht wirklich sehen, hat die Schriftstellerin Gabriele Riedle einmal von der Elbe behauptet. Im Venedig der Altmark kann sie nicht gewesen sein. Hier flüstert die Stadt dem Fluss seine wahren Geschichten zu, während in der Fußgängerzone die Geschäfte wie überall Kik heißen oder Kack.

Kleiner Exkurs: Erst später habe ich erfahren, dass ein Großer seines Fachs das ähnlich gesehen hat. Über Salzwedel notierte der Historiker Friedrich Meinecke, ein Sohn der Stadt:

"Die alten Fachwerkhäuser nebst Vorbauten mit leicht erkennbarer, aber nicht sagbarer Bestimmung ragen hinüber über das träge Wasser. Wenn die Jeetze aber in die Gärten hinausfließt (…) nicken die Flieder- und Rotdornbüsche hinein. Von ihr sagt man: meistens steht se, selten jeht se, nur wenns mal jeregnet hat."

Ein wenig fühle ich mich unwohl in dieser Gesellschaft. Ich habe am Friedrich-Meinecke-Institut in Westberlin Geschichtswissenschaft studiert. Das Institut war so konservativ wie der Namensgeber. Über die Flüsse und ihre Geschichte habe ich dort nichts erfahren. Exkurs Ende.

Stichprobe Lüchow. Für ein Porträt von mir in der Elbe-Jeetzel-Zeitung muss die Kollegin ein Foto machen. Wo gehen wir hin? Zum Fluss, antworte ich, wohin auch sonst. Also gehen wir zur Jeetzel, gleich nebenan eine Pizzeria; wer den Kopf im Schankgarten reckt, kann überm Deich einen Bauchnabelstreifen Wasser sehen. Ich setze mich auf die Deichkrone, Schneidersitz, eine Pose, die nicht so recht zur Kanalkulisse passen will. Das Foto ist im Kasten. Ich will mir Mühe geben mit der Jeetzel, schreibe ich am Abend in mein Tagebuch. Auch sie hat eine Chance verdient. Am Fluss haben Kinder gespielt. Es ist ihr Fluss. Einen anderen haben sie nicht.

Dritte Stichprobe Hitzacker. Ans Drawehnertor hat Salzwedel ein Stück Venedig flussabwärts geschickt. Die Drawehnertorschänke (auch sie ein Schwalbennest) imponiert mit Fachwerk und Jeetzelblick, gegenüber der Brücke ein kleines Boot auf dem Wasser. Gleich kommt Commissario Brunetti. Nicht weit von hier die alte Jeetzelwerft. Dort wurden die Kähne gebaut, die einst in Hamburg voller Stolz posierten. Es gibt sie also, die Orte, an denen Jeetze und Jeetzel etwas hermachen. Allein, es fehlt das dazwischen. Ich finde keinen Zusammenhang. Ich brauche die Karte, auch sie macht mir Probleme. Die Jeetzel ist nicht einmal die Summe ihrer Abschnitte.

Die fünfte

Der Eintrag im Wendlandlexikon hat mich neugierig gemacht. Von einer "Unterdükerung" der Alten Jeetzel bei Soven ist da die Rede. Auch auf der Karte verspricht der Ort großes Flusskino: Bei Soven kreuzen sich die Alte Jeetzel und die neue, der man der Einfachheit halber einfach den Namen Jeetzel gelassen hat. Was für ein Unfug. Wären Flüsse Rechtssubjekte und könnten klagen, bräuchte die Jeetzel gute Anwälte. Nicht nur den Namen hat sie geklaut, auch in fremdem Bette ist sie aufgewacht. Oberhalb von Soven befindet sich das Bett der Jeetzel einige Kilometer östlich des Altlaufs, Richtung Dannenberg zu ist es umgekehrt. Egal. Ich will nicht klagen. Noch nicht.

Ein Flusskreuz also, fast so wie die Kreuze der Gorlebengegner, nur dass es nicht gelb ist, sondern blau. Nur, wie werden beide Läufe tatsächlich gekreuzt? Unter- und übereinander wie beim Wasserstraßenkreuz in Magdeburg – mit der Trogbrücke als Ikone der "neuen Elbe", die dort bald wohl auch nur Elbe heißt? Oder auf Augenhöhe, wie bei einer Straßenkreuzung in der Stadt, rechtsvorlinks oder Ampelschaltung, Hauptsache der Verkehrsfluss mischt sich? Flussfragen, existentielle Fragen. Bloß, das Wort nahm mir etwas von der Vorfreude. "Unterdükerung", das versprach nichts Gutes.

Als ob es etwas zu verbergen hätte, hat sich das Flusskreuz der Jeetzel zurückgezogen. Von der Bundesstraße 248 geht es in Jameln rechts ab, vorbei am Restaurant "Altes Haus" und dem Verlag des Landluftmagazins, das im März und April, wenn im Wendland die Gülle ausgebracht wird, besser nicht verkauft werden sollte. Kurz vor Langenhorst führt eine steinerne Brücke über die Alte Jeetzel. Es ist ein Anblick, der tröstet. Mäandernd wie eh und je sucht sich der Bach seinen Weg, die alte Brücke ist das Parkett, von dem man tatsächlich etwas Flusskino schauen kann, wenn auch kein großes.

Doch das Happy End bleibt aus. Kurz darauf ist bereits der Deich zu sehen, hinter dem sich der Jeetzelkanal versteckt. Schnurgerade durchtrennt der Deich die Landschaft. Da nimmt einer Anlauf, denke ich, bevor es zur Kollision kommt. Doch auch eine Kollision gibt es nicht. Kurz vor Soven weiß ich endlich, was "Unterdükerung" bedeutet. Das Wasser der Alten Jetzel endet in einem Rohr samt Sperrwehr unter dem Deich des Jeetzelkanals. Auf der andern Seite des Deichs das gleiche. Da hilft es auch nicht, dass bei der feierlichen Eröffnung 1958 ein VW-Käfer in den Tunnel unter dem Kanals passte. Kein Flusskreuz ist das, sondern eine Autobahn, und rechts und links zwei Baustellenausfahrten, die man jeder Zeit sperren kann.

Die sechste

Wer in der Chronik der Stadt Lüchow blättert und auf die kleine Hommage mit der Überschrift "Unsere Jeetzel" stößt, muss hart im Nehmen sein.

"Einst war der Jeetzelfluss der treueste Genosse der Bewohner des Wendlandes, der seit Jahrhunderten ihre Bedürfnisse vom Weltmarkt zuführte und auf der anderen Seite ihre Produkte auf dem gleitenden Rücken der Wellen an die Handelsplätze brachte. Er war unseren Vorfahren ein naturwüchsiger und zuverlässiger Führer und ohne ihn hätten sich die glücklichen Verhältnisse in unserem Wendlande nicht gestalten können."

Die Chronik stammt aus dem Jahr 1949, und schon damals wurden Texte über die Jeetzel mit Trauerbeflaggung versehen. Was muss das einst für ein Anblick gewesen sein: der naturwüchsige Fluss voller Jeetzelkähne. Alles Geschichte. Aber an was soll man sich halten, wenn die Gegenwart so geschichtslos ist?

Was wohin und woher verschifft wurde, verrät die Chronik ebenfalls:

"Der treue Jeetzelfluss hat Jahrhunderte hindurch Millionen und Millarden Ellen gebleichter und ungebleichter Leinwand zur Veräußerung an den Weltmarkt bringen helfen, und nur durch ihn war es möglich, Tausend und Millionen Zentner des beliebten wendländischen Weizens nach Hamburg und von hier an die englischen Mühlen zu liefern. Er hat durch Jahre und Jahrhunderte den Kaffee, Zucker und Sirup herangeführt."

Auch vom Hafenflair in Lüchow ist in der Chronik die Rede, etwa wenn die Schiffer kurze Rast bei Gastwirt Roffler und später dann bei Gastwirt Niemann hielten und dabei so manche Flasche Jamaika-Rum geköpft haben. Tatsächlich aber war Lüchow nur Durchgangsstation auf dem Weg von Hitzacker nach Salzwedel und zurück. Jeetzelaufwärts ging es mit Steinen, Steinkohlen, Kolonialwaren, englischem Schiefer, Petroleum, Farbhölzern, mecklenburgischem Hafer, Propsteier Saatroggen, Heringen, amerikanischen Fellen, schwedischem Kupfer, Eisen, Zement und Knochenmehl. Auf die Talfahrt gingen Ziegelsteine, Getreide, Kartoffel, Bier und Standsteine. Den Luxus hat man sich im Wendland also über die Jeetzel ins Haus geholt. Das erklärt auch den sentimentalen Ton, den die Chronik aus dem Jahre 1949 anschlägt.

Doch der Lauf der Dinge war auch an der Jeetzel nicht mehr aufzuhalten. War bis zum preußisch-österreichischen Krieg, in dessen Folge Hannover zur preußischen Provinz wurde, die Grenze bei Lübbow das größte Hindernis der Jeetzelschifffahrt, machte sich bald die Konkurrenz auf der Schiene bemerkbar. Mit der Eröffnung der Eisenbahnlinie Lüchow-Salzwedel kam die Schifffahrt 1891 zum Erliegen. Pedantisch hat der Chronist notiert, was Schiffer Behlendorf aus Hitzacker bei der letzten Fahrt eines Kahns auf der Jeetzel am 26. April 1901 mit sich führte: eine Farbenladung aus Hamburg für die Firma Friedrich Gerlach in Salzwedel.

Die siebte

Paddeln auf der Jeetzel, geht das? Ein Touristenschild bei Soven behauptet ja. Ich habe noch keinen im Wendland getroffen, der auf der Alten Jeetzel gepaddelt wäre. Hilfeschreie sind das, Strohhalme. Wäre ich Chef der Tourismusabteilung, ich würde es auch versuchen.

Die achte

Was macht man mit Dingen, die man nicht mehr braucht? Man wirft sie weg. In die gelbe Tonne, in den Restmüll. Was macht man mit Flüssen, die man nicht mehr braucht? Man zerlegt sie, weil es noch keine Mülltonnenfarbe für Abfallflüsse gibt (blau ist schon für Pappe und Papier vergeben).

Die Zerlegung der Jeetzel begann um die Wende zum 20. Jahrhundert. Im gleichen Jahr, in dem der Kahn des Schiffers Behlendorf Farbe nach Salzwedel lieferte, legte Baurat Krüger einen "Plan für die Regelung der Jeetzel in den Kreisen Lüchow und Dannenberg" vor. Folgende Maßnahmen waren damit verbunden, erklärt das Wendlandlexikon: "1. Anlegung von 27 über die Flussstrecke verteilten Durchstichen. 2. Beseitigung der Mühlenstaue in Lüchow und Dannenberg. 3. Abgrabung von scharfen Krümmungen, Vergrößerung des Abflussquerschnitts durch Baggerungen. 4. Instandsetzung der Dannenberger Mühlenjeetzel und des Poggengrabens in Wustrow zur Ableitung von Hochwassern."

Der vierte Punkt verrät bereits, was das eigentliche Ziel des Krügerplans war. Nicht für die Schifffahrt war die "Korrektion" der Jeetzel geplant, sondern zum Schutz vor Hochwasser. Solche Fluten hatte es zuletzt 1881 und 1888 gegeben.1881, hieß es, war ganz "Lüchow , Männlein wie Weiblein, auf den Füßen und beobachtete die mit rasender Eile sich durch die Brücken zwängenden Wassermassen".

Nach sieben Jahren Bauzeit war dieses "kleine Projekt" abgeschlossen. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte das "große Projekt", zu dem neben weiteren Regulierungen der Bau von 275 Buhnen gehörte. Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich bekam die Jeetzel mit dem „Jeetzelprojekt“ ihr neues Bett. Dazu 71 Kilometer Deich, 300 Kilometer neue Gräben und vier Stauwehre. Seitdem hat das Wendland kein Hochwasser mehr gesehen. Doch was ist der Preis?

Die neunte

Wer von Blütlingen die Nebenstraße nach Teplingen nimmt, stößt gleich hinter der baufälligen Brücke auf einen Ort, der vielleicht das bestgehütete Geheimnis dieses Flusses verbirgt. Ganz sanft, hinter Bäumen, mündet hier der Lüchower Landgraben in die Jeetze, die an dieser Stelle ihr "l" bekommt. "L-Einspeiser" nennt Axel Kahrs, der Leiter der Stipendiatenstätte in Schreyahn, diesen Ort. Hier ist sie also, die Grenze zwischen der Jeetze und Jeetzel, die zugleich die Grenze ist zwischen der Altmark und dem Wendland, zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Zuvor verlief hier die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR und noch weiter in der Vergangenheit die zwischen Preußen und Hannover.

Was wiegt schwerer? Die große Geschichte oder der Fluss, an dem man sie ablädt? Das wäre so ein Seminarthema gewesen am Friedrich-Meinecke-Institut - wenn man es gewollt hätte.

Nicht weit vom L-Einspeiser befindet sich eine kleine Gedenkstätte.   Gewidmet ist sie Hans-Friedrich Franck, der 1973 starb, weil er diese Grenze überwinden wollte. Am Metallgitterzaun war eine Selbstschussanlage angebracht.

Ebenfalls nicht weit ist der Ort der Steine. Einen Preußenstein gibt es da, einen Welfenstein. Einen Deutschlandstein. Geschichtspolitik an der Jeetzel. Warum lasst ihr sie nicht einfach in Ruhe? Warum immer noch ein Schlag? Und noch einer? Ihr habt sie doch schon zu Fall gebracht?

Wäre da nicht die Grenze gewesen (oder gerade deshalb?), der L-Einspeiser wäre ein wunderbarer Ort: naturbelassen, zaubrisch, geheimnisvoll. Hier können Gedanken fliegen. Lüchower Landgraben. Zweimal L: Müsste die Jeetzel nicht sogar Jetzell heißen?

Aber schon Jeetze und Jeetzel überfordert das Gelehrtenwissen. "Bis heute wissen wir nicht, warum der Fluss in Niedersachsen einen anderen Namen bekommt", räumt Helga Weyhe ein, die seit Menschengedenken in Salzwedel einen Buchladen betreibt. "Seit dem Dreißigjährigen Krieg hieß sie in der Altmark Jeetze und im Wendland Jeetzel."

Wieder so ein Geheimnis. Ich drücke dir die Daumen, du Fluss, dass du es für dich behältst.

Die zehnte

Man sagt das manchmal so hin. Schön sei das Wendland, entlegen irgendwie, aber genau deshalb habe es eine unberührte Natur hervorgebracht. Die Jeetzell kann nicht gemeint sein. Wer sie aus der Vogelperspektive betrachtet, sieht keine Natur, nur Felder, und die lustigen Hüte der Biogasanlagen. Industrielle Landwirtschaft. Das ist geblieben vom Weizen und der Leinwand, die einst auf den Jeetzelkähnen nach Hamburg verschifft wurden. Nur den Fluss, den braucht es nicht mehr.

Dennoch ist die Jeetzel nicht wegzudenken im Wendland und auch nicht die Jeetze in der Altmark. Fast trotzig schenkt sie Schulen (Jeetzel-Schule Lüchow, Jeetze-Schule Salzwedel), Buchhandlungen (Alte Jeetzel Buchhandlung Lüchow), einem Lüchower Immobilienhändler (Jeetzel-Immobilien), einem Dannenberger Krankenhaus (Elbe-Jeetzel-Klinik) und einer Zeitung (Elbe-Jeetzel-Zeitung) ihren Namen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Sie halten sich an ihren Fluss, vor allem im Wendland. Als die Elbe noch Mauer war, hat er sie zusammengehalten. Hat ihnen das Rückgrat gestärkt, hat sie davor bewahrt, abzuhauen, dorthin, wo es zwar auch keine Flüsse gibt, dafür aber Arbeit. Die Elbe war das Ende, die Jeetzell war Mitte. Ihre Mitte. Auch wenn drum herum nichts war als der Gestank der Felder, der nun Landluft heißt.

Die elfte

Ein letzter Versuch, auf zwei Rädern. Von Wustrow soll er mich über Lüchow und Dannenberg nach Hitzacker führen und die Elbe zurück nach Gartow. Jeetzell-Elbe-Radeln. Den Elbe-Radweg gibt es. Den Jeetzell-Radweg suche ich vergeblich.

Nein, ich muss die Jeetzell nicht mögen. Sie hält die Landschaft nicht mehr zusammen. Ich halte mich lieber an die Elbe. Die verbindet mich mit der Welt – und Böhmen mit dem Meer.

Oder ich zieh mich in meinen Rundling zurück. Der hat in der Mitte ein Loch und rundherum so wunderbare Hallenhäuser, die mir mit ihren blauen Scheunentoraugen zublinzeln. Hier muss ich nicht mehr aufbrechen, den nächsten Bach zu finden.

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