themenflüssedas beispiel isonzo

Teaser
DRUCKVERSION Von der Seele eines Flusses

Zwölf Schlachten wurden im Ersten Weltkrieg am Isonzo geschlagen, der auf Slowenisch Soča heißt. Hunderttausende verloren in diesem italienisch-österreichischen Bergkrieg ihr Leben. In Slowenien wurden die Orte des Schreckens zu einem "Weg des Friedens" verbunden

von UWE RADA

Acht Jahre alt war Nataša Kramberger, als sie zum ersten Mal das Museum in Kobarid besuchte. Den Ausflug an die Soča, sagt die Schriftstellerin aus Maribor, werde sie nie vergessen: "Der Museumsbesuch war Teil einer Schulexkursion. Ich glaube, das war das einzige Mal, dass ich in einem Museum laut geweint habe. In einem der Museumsräume war ein Schützengraben nachgebildet, und in diesem befand sich eine lebensgroße Figur eines jungen Soldaten, der auf dem Boden sitzend einen Brief schreibt."

Mit einem Knopfdruck, erzählte Kramberger im Juni 2014 auf einem Workshop zum Thema „Hundert Jahre Erster Weltkrieg an Marne und Isonzo“ der Bundeszentrale für politische Bildung, habe man eine von 17 Sprachen wählen können, in denen der Brief des jungen Soldaten vorgelesen wird. "Wir haben die slowenische Sprache ausgewählt, und dann haben wir geweint, während die Stimme eines jungen Mannes erzählte, wie schrecklich es an der Front ist, dass sie nichts zu essen haben, und dass ein unbekanntes Gas alle seine Freunde tötete. In diesem Museum habe ich zum ersten Mal gehört, dass es so etwas wie chemische Waffen gibt."

Das Museum, das die Schriftstellerin als junges Mädchen 1991 besuchte, war zu diesem Zeitpunkt gerade erst eröffnet worden. Im sozialistischen Jugoslawien war die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, der an der Isonzofront besonders viele Opfer forderte, nicht erwünscht. Jugoslawiens damaliger Diktator Tito wollte nicht, dass man erfuhr, dass Slowenen oder Kroaten – wie er selbst – auf der österreichischen Seite gegen Italien kämpften und dabei die Monarchie verteidigten. Erst als Slowenien 1991 unabhängig wurde, war ein Erinnern möglich. Das Museum in Kobarid wurde schon zwei Jahre später, 1993, mit dem Preis des Europarats ausgezeichnet.

Nataša Kramberger erinnert sich auch, wie sie einmal auf einer Wanderung im von hohen Bergen gesäumten Tal der Soča, wie der Isonzo auf Slowenisch heißt, überall mit den Hinterlassenschaften des Krieges konfrontiert wurde, der hier von 1915 bis 1917 tobte: "Die vielen Soldatenfriedhöfe im Soča-Tal und auf dem Karst, das italienische Gebeinhaus, der österreichisch-ungarische Friedhof, die Kapelle in Erinnerung an die russischen Gefangenen, die die Straße über den Bergpass Vršić bauen mussten, ein Denkmal für die ungarischen Soldaten, und die Heiliggeistkirche in Javorca mit den Wappen aller zwanzig Länder der Donaumonarchie, gezeichnet von den Soldaten, die die Kirche errichteten: Auch wenn die Soča im slowenischen kollektiven Gedächtnis stark mit dem Erwecken des slowenischen Nationalbewusstseins verbunden ist, bewahrt sie eine starke Botschaft der internationalen Solidarität."

Der Krieg im Gebirge

Dass das Bergland zwischen den Julischen Alpen und der Adria, damals die Grenze zwischen Italien und Österreich-Ungarn, zum Kriegsschauplatz wurde, war nicht unbedingt abzusehen. Eigentlich war Italien seit 1882 im sogenannten Dreibund mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn verbündet. Gleichzeitig aber beanspruchte Rom von Wien jene "unerlösten" Gebiete wie Trient, Triest, Istrien oder Dalmatien, in denen ein Großteil der Bewohner Italienisch sprach. Die Bewegung des sogenannten Irredentismus, die die terre irredente, jene unerlösten Gebiete dem Königreich Italien einverleiben wollte, hatte in vielen Gebieten Österreichs zu wachsenden Nationalitätenkonflikten geführt. Als im August 1914 der Große Krieg begonnen hatte, war Italien deshalb neutral geblieben. Man wollte nicht für ein Land in den Krieg ziehen, dem man vorwarf, die italienische Minderheit zu unterdrücken.

1915 schließlich wechselte Italien die Seiten. Auf einer Konferenz in London hatten die Alliierten der Regierung in Rom für den Fall eines Kriegseintritts zahlreiche Gebietsgewinne versprochen. Mit einer Übermacht von 225.000 Mann gegenüber 115.000 Soldaten zog Italien im Mai 1915 in die erste Isonzoschlacht und damit in den Krieg gegen Österreich-Ungarn. Kaiser Franz Joseph zeigte sich überrascht und sprach von einem "Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt". Doch das Ziel, die Julischen Alpen schnell zu überwinden und dann gegen Wien vorzurücken, scheiterte am erbitterten Widerstand Österreichs. Es folgte ein Stellungskrieg in den Bergen, bei dem mehr Menschen durch Lawinen als durch Feindeinwirkung zu Tode kamen, sagt der italienische Journalist Guido Ambrosino.

"Der Isonzo und die ihn umgebenden Berge und Hochplateaus östlich der Vorkriegsgrenzen stehen für zwölf blutige Schlachten zwischen 1915 und 1917 mit mehr als 300.000 Toten auf italienischer und österreichisch-deutscher Seite", berichtete Ambrosino, der zusammen mit Nataša Kramberger und der Straßburger Historikerin Karen Denni den bpb-Workshop zu Marne und Isonzo bestritt. "In den ersten elf Schlachten erreichten die Italiener nur minimale Frontgewinne. Der wichtigste italienische Erfolg war die Einnahme der Stadt Görz, auf italienisch Gorizia, in der sechsten Isonzoschlacht im August 1916. Es wurde zu einem Massaker, das 52.000 Italiener und 41.000 Österreicher das Leben kostete."

Allerdings sei nicht der Isonzo, sondern der Piave in Italien zu einer Legende geworden. Schon zu Kriegsbeginn, als die zumeist aus dem armen Süden stammenden Soldaten der italienischen Armee in Richtung Österreich vorrückten, habe der Fluss den Soldaten, die ihn am 24. Mai überschritten, zugemurmelt: "Non passa lo straniero", "Der Feind kommt nicht durch."

Das Lied vom murmelnden und summenden Piave heißt La leggenda del Piave und stammt aus der Feder des neapolitanischen Komponisten E.A. Mario, der eigentlich Giovanni Ermete Gaeta heißt. Geschrieben wurde es 1918, da war die zwölfte Isonzoschlacht bereits geschlagen. Weil in Russland die Revolution ausgebrochen war und deutsche Soldaten an die Italienfront verlegt wurden, war Österreich-Ungarn mit Hilfe der Deutschen im Oktober 1917 der Durchbruch gelungen. Dabei wurde auch Giftgas eingesetzt, jene chemischen Waffe, von der Nataša Kramberger bei ihrem Museumsbesuch in Kobarid 1991 zum ersten Mal erfahren hatte.

In nur wenigen Tagen standen die österreichischen, slowenischen, tschechischen, ungarischen und kroatischen Soldaten der multikulturellen kaiserlich und königlichen Monarchie , unterstützt von der 14. Armee der Deutschen, in der Ebene, die sie geradewegs bis nach Venedig und zum Po führen sollte. Doch dann geschah das "Wunder am Piave". Der Vorstoß kam vor Venedig zum Stehen, weil der Piave, dieser viel mächtigere Bergfluss als der Isonzo, unter anderem Hochwasser trug.

Auch das Wunder ist natürlich ins Lied von der "Legende des Piave" eingegangen, weiß Guido Ambrosino: "Der Fluss und die Infanteristen sangen wie aus einem Mund: 'No disse il Piave, no dissero i fanti, mai più il nemico faccia un passo avanti'. Und der Fluss murmelt diesmal nicht, er befiehlt: 'Non passa lo straniero'."

Guido Ambrosino, der seit 1985 als Deutschland-Korrespondent Italiens in Berlin lebt, wurde 1953 in Rom geboren, verbrachte aber die ersten fünf Jahre seines Lebens in Triest, jener Stadt an der Grenze zu Slowenien, die erst 1954 endgültig zu Italien gehörte. Das Lied vom Piave, sagt er, habe er in der Grundschule auswendig lernen müssen.

Heute würde Abrosino am liebsten la Piave sagen, die Piave, denn Ambrosino weiß: "Im venetischen Dialekt (eine ausgestorbene Sprache der Antike, Anm. d. R.) war die Piave immer weiblich. Auch in Österreich-Ungarn hat man vor dem Ersten Weltkrieg immer die Piave gesagt. Erst mit dem Lied von E.A. Mario wurde sie zum männlichen Fluss." Zur Legende des Piave gehöre deshalb auch die Geschlechtsumwandlung, betont Ambrosino auf dem bpb-Workshop: "Ein weiblicher Fluss hätte den italienischen Soldaten niemals den Befehl erteilen können, nicht vor dem Feind zurückzuweichen.", erklärt er die Haltung von damals.

Geteilte Erinnerung

In Österreich spricht man auch von einem Wunder, allerdings weniger vom "Wunder an der Piave" als vom "Wunder von Karfreit". Karfreit, das ist der deutsche Name für Kobarid, jenem Ort, an dem die zwölfte Isonzoschlacht begonnen hatte, die mit dem Durchbruch der Österreicher und ihrer Verbündeten endete. Statt von der zwölften Isonzoschlacht spricht man in Österreich bis heute gerne von der "Schlacht von Karfreit". Die eine siegreiche Schlacht sollte damit die elf vorhergehenden, in denen es weder Sieger noch Gewinner gab, vergessen machen.

Eine ganz andere Bedeutung hat Karfreit dagegen in Italien, sagt Guido Ambrosino. "Dort ist Caporetto, wie Karfreit auf Italienisch heißt, zum Symbol der Niederlage geworden. Noch heute spricht man in Italien, wenn etwas Schreckliches passiert, von einem Caporetto."

Hinzu komme, dass die Niederlage vom Oktober 1917 auch ein besonders dunkles Kapitel der italienischen Geschichte beinhaltet. "In den Tagen nach Caporetto" so Ambrosino, "fanden die decimazioni statt. Jeder zehnte Soldat wurde an die Wand gestellt. Mindestens 300 Soldaten wurden so erschossen, ohne Prozess. Vermutlich waren es mehr, aber in vielen Fällen fehlt jede Dokumentation oder die Dokumente wurden zerstört."

Mit den wahllosen Erschießungen wollte Italien von den Fehlern der eigenen Generäle ablenken, die den Durchbruch der Österreicher zugelassen hatten. Stattdessen war nun vom Verrat in den eigenen Reihen die Rede, auch im Lied von E.A. Mario. Dort hieß es in der Ursprungsversion von 1918: "In einer trüben Nacht sprach man aber vom Verrat. Wut und Bestürzung hörte der Piave aufkommen (…) Wie ein Schluchzen in jenem schwarzen Herbst flüsterte der Piave: 'Der Fremde kommt zurück'."

Erst später wurde aus dem "Verrat" im Lied eine Tragödie, erzählt Ambrosino. Dennoch ist sich der Journalist sicher: "Ohne die nationalistische Vergiftung und spätere Mythisierung des militärischen Sieges in einer Orgie der Rhetorik wäre die Machtergreifung durch den Faschismus 1922 undenkbar gewesen."

Flüsse und Geschichtspolitik

So wurde der Piave also in den Dienst einer nationalen Geschichtspolitik gestellt, so wie viele andere Flüsse, die im Mittelpunkt kriegerischer Auseinandersetzungen standen. Daran erinnerte Karen Denni am Beispiel der Marne. An dem 514 Kilometer langen Fluss, der am Plateau von Langres entspringt und kurz vor Paris in die Seine mündet, fand 1914 die erste der beiden so genannten Marneschlachten statt. Weil sich die erste und zweite Armee der Deutschen zu sehr voneinander entfernt hatten, hatte der französische Generalstab einen Gegenangriff gestartet, in dessen Folge die Deutschen den Rückzug antraten. Die erste Marneschlacht verhinderte also die Einnahme von Paris und einen schnellen Sieg der Deutschen.

Dabei fand der Gegenangriff Frankreichs in der Woche vom 5. bis zum 12. September 1914 auch an anderen Flüssen statt. Genauso gut hätte man also von einer "Schlacht am Ourcq" sprechen können. Es war schließlich das französische Kriegsministerium in Paris, das sich für das Label Marneschlacht entschied – aus dem dann bald das "Wunder an der Marne wurde".

Als dann 1918 Frankreich die deutsche Frühjahrsoffensive stoppte, war der Name "Zweite Marneschlacht" schnell parat. "Die Marne stand damit für zwei französische Siege, die die Deutschen stoppte", betonte Denni auf dem bpb-Workshop. Gleichzeitig war aber auch ihr Schicksal als Fluss besiegelt. Bis heute wird die Marne auf die Schlachten reduziert, schreibt etwa der französische Autor Jean-Paul Kauffmann und spricht von einem "blankliegenden Nerv".

Die Marne als Fluss des Krieges. Ein ganz normaler Fluss der Gegenwart darf sie nicht sein.

Der Weg des Friedens

Das Museum, in dem Nataša Kramberger zum ersten Mal vom Einsatz des Giftgases hörte, mit dem das "Wunder von Karfreit" erst möglich geworden war, gehört heute zum Pot miru, zum "Weg des Friedens". Mit diesem Weg werden alle Hinterlassenschaften des Ersten Weltkriegs verbunden, die es bis heute im Tal der Soča gibt: Österreichische und italienische Festungen, Soldatengräber, lokalen Museen, in denen Gebeine, Patronen, und Geschütze aufbewahrt werden, Kletterwege und Tunnel, gesprengte Bergkuppen.

Anders als in Italien oder Österreich ist das slowenische Erinnern an die Schlachten am Isonzo weniger von den Mythen von Sieg und Niederlage geprägt als vom alltäglichen Sterben und dem Leid der Soldaten, zu denen auch Tausende von Slowenen gehörten. Zu diesem Leid gehörten auch die Umsiedlungen aus den Dörfern an der Soča, die der Front im Weg standen. "Auf der österreichischen Seite wurden 12.000 Slowenen in die Steiermark umgesiedelt. Auf italienischer Seite wurden 8.000 Menschen bis nach Sizilien gebracht", sagt Nataša Kramberger.

Vielleicht ist es diese Perspektive eines Landes – das weder zu den Siegermächten, noch zu den Kriegsverlierern gehört –, das dieses Gedenken von unten, das mit der Gründung des Museums in Kobarid 1991 begonnen hatte, erst möglich macht. Und es ist ein ganz neuer Blick auf den Fluss, an dem all dieses Leid stattgefunden hat. "Die Soča ist der schönste Fluss Sloweniens, ein herrlicher Gebirgsfluss mit blauem und wildem Wasser."

Das haben natürlich auch die Touristen entdeckt. Überall am Lauf des Flusses, in Bovec, Kobarid, Tolmin, Kanal bis nach Nova Gorica kann man Paddelboote ausleihen, lokale Agenturen bieten Wildwasser-Rafting an, Geschichtsvereine organisieren Wanderungen. Dabei verdrängt weder der Tourismus die Erinnerung an den Krieg, noch verhindern die Schrecken der Geschichte die Annehmlichkeiten der Gegenwart. Beides wird in Slowenien zusammengedacht – und natürlich vermarktet.

So hat die Soča einen Weg genommen, den man anderen Flüssen nur wünschen kann, die sich einst Rot vom Blut der Toten färbten – Marne und Somme –. Aus dem Fluss des Krieges ist ein Weg des Friedens geworden.


DRUCKVERSION
nach oben