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DRUCKVERSION Die Oder als Grenzfluss

Lange Zeit war die Oder für Deutsche und Polen vor allem eines: ein Grenzfluss. Die Bilder der Oder als Grenze sind aber älter als die Grenzziehung auf der Potsdamer Konferenz 1945. Inzwischen sind allerdings neue Bilder an ihre Stelle getreten (Vortrag an der Europäischen Akademie Berlin)

von UWE RADA

Die Oder als Grenzfluss? Ist das nicht ein Thema der Vergangenheit, eines, das man mindestens in Anführungszeichen setzen müsste? Ist die Oder nicht gerade ein Beispiel dafür, wie Grenzen verschwinden – mit dem Wegfall der Visapflicht 1991, der Aufhebung der Zollgrenze nach dem Beitritt Polens in die Europäische Union am 1. Mai 2004, dem Wegfall der Grenzkontrollen nach dem Schengenbeitritt am 21. Dezember 2007?

Ja, und nein. Die Bilder der Oder als Grenzfluss nämlich fallen nicht im selben Tempo wie die Grenzen selbst. Im Gegenteil. Diese Bilder sind mitunter äußerst hartnäckig, wie eine ganz banale Meldung aus dem Nachrichtenalltag zeigt.

Im Januar 2006 war auf der Oder, das ist nichts Außergewöhnliches, wieder einmal Eisstand. Nicht außergewöhnlich ist auch, dass deutsche und polnische Behörden eng zusammenarbeiten, selbst deutsche und polnische Eisbrecher gehen in diesem Fall zusammen auf Fahrt. Das Außergewöhnliche in diesen Tagen war eine Meldung der Deutschen Presseagentur vom 24. Januar 2006. In der hieß es:

"Wegen der starken Kälte sind schon 150 Kilometer der Oder zugefroren. 'Die Eisdecke reicht von Stettin bis südlich von Frankfurt (Oder), was fast drei Viertel der Oder entspricht', sagte der stellvertretende Amtsleiter des Wasser- und Schifffahrtsamts Eberswalde (Barnim), Sebastian Dosch, am Dienstag. 'Wir rechnen damit, dass sie bis zum Wochenende die Neiße erreicht.' Dennoch sollte das Eis nicht betreten werden."

Wie bitte? 150 Kilometer entsprechen drei Viertel der Oder? Also hat sie statt 860 Kilometer Länge nur 200 Kilometer? Ein Paradoxon, aber eines, das sich erklären lässt mit dem Hinweis auf die gefühlte Geografie. Und in dieser gefühlten Geografie des Wasser- und Schifffahrtsamtes Eberswalde, ja sogar vielleicht der Deutschen überhaupt, reicht die Oder nicht hinein bis ins Schlesische und nach Mähren, wo sie auf einer Höhe von 633 Metern bei Kozlava entspringt. Vielmehr reicht die Oder nur von Stettin bis zu Mündung der Neiße. Das haben wir es also Schwarz auf Weiß: Das Bild der Oder als Grenzfluss ist nicht tot, es lebt vielmehr fort in den Köpfen so mancher Zeitgenossen.

Und das müssen nicht unbedingt nur die Älteren sein. Ein weiteres Beispiel. Im Mai 2008 veranstaltete die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) eine so genannte Oderakademie. Mit einem Schiff fuhren deutsche und polnische Studenten von Nowa Sol in Schlesien bis Frankfurt und Slubice. Es wurden Referate gehalten, es gab Lesungen, Seminare und an Deck auch einen Workshop mit dem Titel: "Welche Bilder der Oder haben wir?" Dabei stand auch die Frage im Raum: In welche Richtung fließt die Oder eigentlich? Die Antworten waren verblüffend. Von Südosten nach Nordwesten antworteten die Studenten des Polytechnikums aus Breslau. Von Süden nach Norden, meinten dagegen die deutschen Studierenden der Viadrina.

Auch hier also wieder: gefühlte Geografie. Für die polnischen Studenten ist die Oder gleichbedeutend mit der schlesischen, also der polnischen Oder, und die fließt tatsächlich nach Nordwesten, der deutschen Grenze zu. Für die Deutschen dagegen ist die Oder nach wie vor der Grenzfluss, deren natürliche Verlängerung eher die Lausitzer Neiße ist als der Lauf der Oder in Schlesien.

Doch das ist noch nicht alles. Zum Bild der Oder, auch das zeigte die Oderakademie, gehörte auch, dass viele den Strom nur aus ihrer unmittelbaren Perspektive wahrnehmen, als Ausschnitt also, als Fragment. Auch das ist eine Verkürzung des Blicks, und der hat viel zu tun mit der Verwandlung der einstigen Wasserstraße in eine Naturlandschaft, die zwar atemberaubend schön ist, nur eines nicht mehr kennt: Schifffahrt.

Wer je mit einem Schiff auf Rhein, Donau oder Wolga unterwegs war, weiß: Nur auf dem Wasser lässt sich jener Raum erahnen, den ein Strom einzunehmen vermag. Der Reisende auf dem Landweg aber wird, wenn er auf einen Fluss trifft, auf Grenzen stoßen. Findet er eine Brücke vor, kann er die Grenze überwinden, auf der anderen Seite des Flusses geht der Landweg weiter. Ohne Brücke heißt es umkehren und an anderer Stelle sein Glück versuchen. In beiden Fällen ist die Geografie des Flusses unvollständig, der Blick auf den Strom verkürzt.

Ganz anders auf dem Wasser. An der Reling eines Ausflugsdampfers, am Steuer eines Binnenschiffes oder während der Oderakademie auf der "MS Kuna" ist der Fluss nicht Rand oder Grenze, sondern mitten drin. Die Landschaft zu beiden Seiten ist Teil einer Flusslandschaft, zu der auch die zahlreichen Nebenarme gehören. Aus einer Zeit, in der man sich dessen bewusster war als heute, stammen auch die geografischen Begriffe solcher Flussräume und -einzugsgebiete: Rheinland, Memelland, Oderland. Zur gefühlten Geografie gehört also auch: schiffbare Flüsse nehmen wir eher als verbindend war. Flüsse, auf denen keine oder kaum mehr Schiffe fahren, stellen sich uns als Grenzfluss dar.

Das Thema der Oderakademie war damit um ein paar Fragen reicher: Wie aber kann der Geografie eines Flusses gerecht werden, wenn derselbe nicht oder kaum mehr befahren wird? Welche Bilder brauchen wir, um die Ganzheitlichkeit der Flusslandschaft auch von den Ufern wahrzunehmen? Wie können wir die verschiedenen Abschnitte eines Flusslaufes zusammensetzen, die sich uns vom Blick von Brücken oder den Aussichtspunkten auf seinen Steilufern bieten?

Um sich den Antworten auf diese Fragen zu nähern, gilt es zunächst einmal, all die – hartnäckigen – Bilder dieses Stroms zu identifizieren, ihre Entstehungsgeschichte zu erforschen und sie schließlich zu dekonstruieren.

Was das Bild der Oder als Grenzfluss betrifft, ist dieses Bild nicht erst 1945 entstanden. Als Grenzfluss war die Oder auch schon abrufbar vor der Westverschiebung der polnischen Grenze infolge der Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam. Dabei gibt es eine polnische und eine deutsche Vorgeschichte der vor-1945-Bilder der Oder als Grenze.

Die polnische Vorgeschichte ist an der Oder noch immer als Geschichtsparcours zu erleben. In Czelin zum Beispiel, nördlich von Kostrzyn, erinnert ein Mahnmal daran, wie es zur Grenze an Oder und Neiße kam. An diesem Ort haben polnische Soldaten am 27. Februar 1945 den ersten weißroten Grenzpfahl an der Oder gesetzt, lange vor der Potsdamer Konferenz und nur vier Wochen, nachdem die Rote Armee am 31. Januar 1945 an dieser Stelle die Oder überschritten hatte.

Nördlich von Czelin, in Gozdowice, wurden zu Ehren der Pioniersoldaten der 1. Polnischen Armee ein Denkmal und ein kleines Museum errichtet. Darüber hinaus ist auf einer Steinwand die Landkarte Polens zu sehen, mit der Oder als seiner neuen Westgrenze. Weiter nördlich, in Siekierki, wurden die gefallenen polnischen Soldaten der Roten Armee bestattet, über ihren Gräbern stehen symbolisch 1000 Kreuze.

Doch nicht nur den polnischen Opfern und Helden des Zweiten Weltkriegs ist die eindrucksvolle Gedenklandschaft entlang der Oder gewidmet, sondern auch den symbolischen Schlachten vergangener Jahrhunderte. Bei Cedynia hat man ein gewaltiges Monument in die Oderhänge gebaut, das an die Schlacht erinnert, die an dieser Stelle im Jahre 972 zwischen dem Piastenfürsten Mieszko I. und dem Markgrafen Hodo stattgefunden haben soll. Hodo wollte das Gebiet östlich der Oder unter seine Gewalt bringen, doch Mieszko konnte den Angriff abwehren. Seitdem gilt die Schlacht von Cedynia als Symbol der über tausendjährigen Geschichte des Polentums an der Oder. Schon einmal also war die Oder eine Grenze, auch wenn das 1000 Jahre her ist. Für die polnische Erinnerungskultur sind 1000 Jahre aber nichts. Das Denkmal, das 1972 errichtet wurde, ist noch heute eine Stätte des nationalen Gedenkens.

Den gleichen Tenor schlägt auch ein Buch an, das 1977 imWarschauer Verlag Interpress erschien. Es ist ein für die damalige Zeit einzigartiger Bild- und Textband über die Oder, der in deutscher Sprache gedruckt und somit vor allem an die Besucher aus der DDR gerichtet war, die seit dem 1. Januar 1972 ohne Visum ins Nachbarland reisen konnten. Die Fotographien von Jan Poplonski und der Text von Ignacy Rutkiewicz zeigten ein vielschichtiges Bild vom Westen der Volksrepublik Polen. Gerühmt wurden der technische Fortschritt, die sozialen Errungenschaften und auch das experimentelle Theater eines Jerzy Grotowski in Breslau. Im Polen der aufziehenden Gewerkschaft Solidarnosc war man schon stolz auf seine Undergroundkünstler als man sie in der DDR noch verfolgte.

Alle Vielfalt konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das opulente Buch aus Warschau vor allem eines zum Ziel hatte – die Verortung der Oder in der polnischen Geschichte und Gegenwart. Ganz im diesem Sinne beginnt der Text von Ignacy Rutkiewicz im Duktus eines Manifests:

"Die Geschichte hat hier einen weiten Bogen gespannt. Polen liegt wieder – wie einst – an der Oder. Seine gegenwärtigen Grenzen kann man als Kopie der Grenzen vor zehn Jahrhunderten ansehen, als der polnische Staat gerade erst am Entstehen war."

"Polen an der Oder", lautete das Manifest von Rutkiewicz, und dieser Titel war programmatisch in vielerlei Hinsicht. Dem DDR-Leser sollte zunächst bedeutet werden, dass die Oder-Neiße-Grenze unumstößlich ist. Dies um so mehr, das war die zweite Botschaft, als die Oder schon vor 1.000 Jahren die Grenze zu den Deutschen bildete. Die dritte Botschaft schließlich ging ans eigene Volk. Grämt auch nicht wegen der an die Sowjetunion gefallenen ostpolnischen Gebiete. Hier ist eine neue Heimat, die schon die Heimat eurer Vorfahren war.

Dass die publizistische und denkmalpolitische Thematisierung der Oder-Neiße-Grenze in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen neuen Höhepunkt erreicht hatte, war kein Zufall. 18 Jahre lang war die Grenze zwischen den "sozialistischen Bruderstaaten" DDR und Volkspolen geschlossen gewesen. Mit der Grenzöffnung am 1. Januar 1972 war deshalb nicht nur Freude verbunden. In Polen wuchs auch die Angst vor revanchistischen Forderungen. Immerhin lebten in der DDR weit mehr "Umsiedler" als in der Bundesrepublik. Und hatte nicht der erste DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck keinen Zweifel daran gelassen, dass er den Grenzvertrag von Zgorzelec von 1950 nur zähneknirschend unterschrieben hatte? Tobte nicht seit Jahren schon ein Konflikt zwischen polnischen und DDR-Reedereien um die Fahrrinne im Stettiner Haff?

Das Buch von Jan Poplonski und Ignacy Rutkiewicz und die Gedenklandschaft zwischen Czelin und Cedynia waren in den siebziger Jahren also einem doppelten Vorhaben verpflichtet. Sie sollten das Polentum an der neuen Westgrenze festigen und damit zugleich eine Öffnung in Richtung Westen ermöglichen. Dass man dabei auf die Symbolik der Oder zurückgriff, hat mit der tiefreichenden Bedeutung dieses Flusses für die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte zu tun. Oder besser für die deutsch-polnischen Beziehungskonflikte.

Im Grunde war das, und hiermit sind wir bei der deutschen Vorgeschichte, in der DDR nicht anders. Auch hier übernahm bald die Ideologie die Regie. Und die gehorchte dem Begriff "Oder-Neiße-Friedensgrenze". Zu der wurden Oder und Neiße offiziell nach der Unterzeichnung der Görlitzer Vertrags am 6. Juli 1950. Entgegen dem Begriff wurde das Abkommen nicht in Görlitz, sondern auf der polnischen Seite, in Zgorzelec unzerzeichnet. In der ehemaligen Oberlausitzer Ruhmeshalle, aus der später ein Kulturhaus wurde, gaben der polnische Regierungschef Jozef Cyrankiewicz und DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl der neuen Grenze die Weihe einer „unantastbaren Friedens- und Freundschaftsgrenze“ zuteil, "die die beiden Völker nicht trennt, sondern einigt".

Was für eine Ironie. Es war schließlich ein offenes Geheimnis, dass die neue Grenze alles war, nur keine Freundschaftsgrenze. Namentlich mit der Zugehörigkeit Stettins zur künftigen Volksrepublik Polen wollte sich die neugegründete SED nicht abfinden. Mehrfach wurden Stimmen für eine Grenzrevision laut. Und sie fanden Gehör. So forderten etwa die stellvertretenden Außenminister der USA, Frankreichs und Großbritanniens 1947, Stettin an die Deutschen zurückzugeben. An der deutsch-polnischen Grenze endete nicht nur der Zweite Weltkrieg. Hier begann, Ende der vierziger Jahre, auch der Kalte Krieg.

Die polnische Regierung ihrerseits ließ nichts unversucht, die Grenze noch weiter in Richtung Westen zu verschieben. Im Mittelpunkt der Streitigkeiten stand die Kontrolle über die Fahrrinne durch das Stettiner Haff in Richtung Ostsee. Die deutsch-polnische Zeitschrift Transodra kommentierte 50 Jahre später: "Die nur scheinbar periphere Auseinandersetzung macht deutlich, wie unter der Decke der Völkerfreundschaft der Kleinkrieg tobte, wie um die Hilfe des großen Bruders gebuhlt wurde, vor allem aber wie abgrundtief das Misstrauen war, dass die beiden Nachbarn voneinander trennte."

Nicht nur um Stettin stritten sich deutsche und polnische Kommunisten, sondern auch um Görlitz und Guben. Mit dem Grenzverlauf an der Lausitzer Neiße waren beide Städte 1945 geteilt worden. Die westlich des Flusses gelegenen Stadtteile blieben deutsch, während die östlichen Stadtteile nun polnisch wurden und Gubin und Zgorzelec hießen. Wilhelm Pieck, der spätere erste Staatspräsidenten der DDR, versicherte im Namen der SED noch im Sommer 1946, dass er für eine Revision dieser Grenzentscheidung eintrete. In einem Vortrag in seiner Geburtsstadt Guben sagte Pieck, "dass eines Tages auch der jenseits der Neiße liegende Teil der Stadt Guben wieder unter deutsche Verwaltung gestellt" werde. Deutsche Revisionisten gab es nicht nur bei den Vertriebenenverbänden und Landsmannschaften in den westalliierten Besatzungszonen, sondern auch bei der SED.

Vor allem in Görlitz, in dessen nun polnischer Zwillingsstadt die DDR schließlich die Grenze anerkannte, war offensichtlich, welche Probleme die Westverschiebung der polnischen Grenze aufgeworfen hatte. Lebten in Westdeutschland nur 12 Prozent Vertriebene, waren es in der Sowjetischen Besatzungszone 25 Prozent. In Görlitz aber betrug die Zahl der Vertriebenen 40 Prozent. So verwundert es kaum, dass der 17. Juni 1953 in Görlitz explizit unter der Forderung stand: Weg mit der Oder-Neiße-Grenze.

Und noch etwas sollte erwähnt werden. Die angebliche Friedensgrenze gehörte in den 50er und 60er Jahren zu einer der am besten bewachtesten Grenzen der Welt. Das hatte auch damit zu tun, dass sich hier nicht nu Deutsche und Polen gegenüberstanden, sondern auch Polen und die Rote Armee.

Trotzdem hielt man in der DDR trotzig am Begriff der Friedensgrenze fest, und irgendwann wurde sie auch ein Stück Normalität. Vielen in Frankfurt ist noch das Pfingsttreffen der FDJ in Erinnerung, bei dem schon die Grenzen zwischen Ideologie und Alltag verschwammen. Doch der Zweck war ohnehin erfüllt. Je öfter von der Friedensgrenze die Rede war, desto weniger wurde die Grenze an sich in Frage gestellt. Oder und Neiße gingen ins kollektive Bewusstsein der Deutschen – in Ost wie West – als Grenzflüsse ein.

Vor allem historisch war das für die DDR, wenn überhaupt gewünscht, ein schwierigeres Unterfangen als für die Polen. Schließlich kamen die Deutschen 1000 Jahre zuvor nicht als friedliche Siedler an die Oder, sondern auch als Eroberer und Missionare. Darüber hinaus hatte die Grenze zwischen dem Ottonenreich und den Piasten nicht allzu lange Bestand. Schon vom 12. bis zum 14. Jahrhundert hatte sich die Grenze, in der zwischen Czelin und Cedynia gedacht wird, nach Osten verschoben. Gleichzeitig hat sich das Geschlecht de schlesischen Piasten begonnen, von der polnischen Krone zu lösen. Im 14. Jahrhundert kam Schlesien zu Böhmen. 1526 schließlich wurde es, zusammen mit Böhmen, Teil des Habsburgerreichs. So hatte bis zum 17. Jahrhundert im Grunde jeder seine Oder: die Mähren, die Schlesier, die Brandenburger, die Pommern.

Doch die Ostsiedlung war, in der deutschen Perspektive, nur die Ouvertüre. Die richtig deutsche Zeit an der Oder begann im 18. Jahrhundert. Es war Preußens König Friedrich II., der die politische wie wirtschaftliche Fragmentierung des Oderraums im 18. Jahrhundert beenden und aus der Oder einen nunmehr preußischen Strom machen sollte. Einen ersten Schritt in diese Richtung hatte bereits Friedrichs Vater, Preußens Soldatenkönig Friedrich-Wilhelm I., unternommen. Vier Jahre vor seinem Tod hatte er als Reaktion auf die Hochwasserkatastrophe 1736 den niederländischen Deichbaumeister Simon Leonhard nach Preußen geholt. Der sollte nicht nur Deiche nach holländischem Vorbild bauen, sondern auch die Teilung des Flusses zu beenden und ihn zur modernen Wasserstraße auszubauen.

Nach Friedrich-Wilhelms Tod 1740 sollte Friedrich II. das Werk des Vaters fortsetzen – und verlieh ihm zugleich den Rang eines staatlichen Programms. Die Oder, so wollte es Friedrich, sollte zur "Beförderung des Comercii" und zur "Facilitierung der Schifffahrt" "recht navigabel" gemacht werden. So begann ein gewaltiges Werk von Menschenhand. Die Oder wurde begradigt und eingedeicht, ihre Sumpfregionen wie das Oderbruch wurden trockengelegt, um Land für Neusiedler zu schaffen. All dies zusammen, meint der Oderhistoriker Kurt Hermann, war ein "Siegeszug des menschlichen Geistes, der den Naturstrom zu einem Kulturstrom umgestaltet hat".

Die Trockenlegungen des Oderbruchs gehört heute zu den großen Erzählungen, wenn von der Oder die Rede ist. Sie gilt als technische und zivilisatorische Meisterleistung, mit der Friedrich, wie es hieß, eine Provinz im Frieden gewonnen habe. Worüber kaum gesprochen wird, ist die Tatsache, dass diese Kolonisierung durchaus etwas janusköpfiges hatte. Für den britisch-amerikanischen Historiker David Blackbourn ist die Trockenlegung nicht nur das Projekt einer zerstörerischen Eroberung der Natur. Für ihn gibt es auch einen Zusammenhang zwischen den zivilen Projekten Friedrichs und seinen kriegerischen. Man kann es auch so sagen: Die Oderpolitik von Friedrich war eine der Modernisierung und der Militarisierung.

Friedrichs Modernisierungsprojekt wäre nämlich nicht möglich gewesen ohne den preußischen Griff auf den übrigen Oderraum. Kaum hatte der Kronprinz 1740 den preußischen Thron bestiegen, ließ er seine Truppen in Schlesien einmarschieren. Damit begann 1741 der erste von insgesamt drei Schlesischen Kriegen mit Habsburg, in deren Folge Preußen sein Staatsgebiet um das wirtschaftlich prosperierende Schlesien erweiterte. Das pommersche Stettin war bereits 1720 preußisch geworden. Damit lag im 18. Jahrhundert nahezu der gesamte Oderlauf in preußischer Hand.

Das Modernisierungsprojekt, das die Preußen im 18. Jahrhundert begonnen hatten, sollte bis ins 20. Jahrhundert dauern. Zwischen Cosel, das zum zweitgrößten Binnenhafen des Deutschen Reichs wurde, und der schlesischen Metropole Breslau wurden 26 Staustufen gebaut. Die Kanäle nach Berlin wurden dem modernen Schiffsverkehr angepasst. Der Klodnitzkanal verband die Oder mit dem oberschlesischen Industrierevier. 1913 wurden 15 Millionen Tonnen Güter auf der Schifffahrtsstraße transportiert, die die Oder geworden war. Jedes fünfte deutsche Binnenschiff war damals auf der Oder unterwegs. Die Oder, so schien es, sollte endlich ihren Platz finden, wenn schon nicht im Mythenschatz der Deutschen, so doch als wichtige Wasserstraße auf der europäischen Landkarte.

Doch dann kam eine Zäsur, die für die Geschichte der Oder und die Bilder, die wir von ihr haben, nicht minder einschneidend war wie die Grenzziehung 1945. Das gilt für die Deutschen ebenso wie für die Polen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Europa wieder einmal neu geordnet. Nach 123 Jahren der Teilung erschien Polen wieder auf der europäischen Landkarte. Deutschland hingegen verlor das Posener Land und Oberchlesien. Das Ergebnis: Vor allem die schlesische Oder wurde zum "gefühlten" Grenzfluss zwischen Deutschen und Polen. Ihre Städte waren plötzlich "Brückenköpfe" und "Ausfallstore", der Fluss selbst wurde von den Nationalisten zum "Fluss des deutschen Ostens" und zum "Träger des deutschen Geistes" stilisiert. An seinen Ufern entstanden die Bunker und Schützengräben der "Oderstellung".

Lassen Sie mich diese Zeit der "blutenden Grenze", wie es in nationalistischen Kreisen in der Weimarer Republik hieß, am Beispiel von Frankfurt (Oder) verdeutlichen. Nach der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles wurde Frankfurt zur Stadt ohne Hinterland. Teile des Frankfurter Regierungsbezirks grenzten nun unmittelbar an Polen. Das bedeutete nicht nur den Wegfall alter Absatzmärkte, sondern auch den Zustrom von Flüchtlingen sowie die Abwanderung in den Westen. Schrumpfende Regionen gab es also schon damals.

Eine der Hilfsmaßnahmen, die die Regierung in Berlin der krisengeschüttelten Stadt zukommen ließ, waren die Verlegung der Reichsbahndirektion Ost von der Spree an die Oder und der Bau von Wohnungen für die Reichsbahner. Der "deutsche Osten" war gleichbedeutend mit der nationalen Selbstbehauptung geworden und zum Propagandainstrument gegen die zunehmende "Ostflucht", in deren Folge in der Zwischenkriegszeit fünf Millionen Deutsche aus den verbliebenen Ostprovinzen in Richtung Berlin oder Ruhrgebiet zogen.

Auch in Frankfurt an der Oder hatte der "deutsche Osten" Konjunktur. Die Siedlung, die der Architekt Hans Martin Kießling für die neue Reichsbahndirektion Ost baute, war nicht nur Zeugnis der städtebaulichen Moderne, die auch in Frankfurt Einzug gehalten hatte. Sie war zugleich gebautes Symbol des Deutschtums und bekam deshalb den Namen "Ostmarksiedlung". Das neue Stadion am östlichen Oderufer, ebenfalls nach den Plänen Kießlings gebaut, hieß "Ostmarkstadion". Wie das zu verstehen war, erklärte der Frankfurter Oberbürgermeisters Paul Trautmann 1925, ein Jahr nach der Fertigstellung der Ostmarksiedlung:

"Aus der brandenburgischen Provinzstadt war eine Grenzstadt geworden, die größte und bedeutendste zwischen Berlin und der neuen Grenze, die größte Stadt der Provinz Brandenburg. Treu den alten Überlieferungen galt es, die Zeiten und mit ihnen die neuen Aufgaben zu erkennen. Ein Bollwerk des Deutschtums auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet zu sein, ein Brückenkopf zur Wahrung der Verbindungen mit den entrissenen altdeutschen Gebieten."

Trautmanns späterer Nachfolger Kinne ging sogar noch weiter. Er sagte:

"Wir als die größte Stadt in der Ostmark betrachten es als heilige Pflicht, den Wall zu bilden gegen das andringende Slawentum. Unser Wahlspruch muss sein: Ein Wille, ein Weg, ein Ziel: Deutsch ist die Ostmark, deutsch soll sie bleiben, deutsch muss wieder werden, was deutsch einst war."

Dass Frankfurt bald nicht mehr nur ein Bollwerk des Deutschtums, sondern auch des Nationalsozialismus wurde, wundert da nicht. Bei den Reichstagswahlen vom 6. November 1932 bekam die NSDAP mit 46,2 Prozent, am 5. März 1933 erzielte sie sogar 56,3 Prozent. Deutschlandweit waren die Nazis damals nur auf 43,9 Prozent gekommen.

War der deutsche Osten ideologischer Kampfbegriff, wurde die Oder zu seinem Symbol. Der Oderstrom war nun nicht mehr Schifffahrtsweg oder Ausflugsziel, sondern der "deutsche Strom", den es zu verteidigen galt. Diesem Ziel diente vor allem der Bau einer Festungs- und Verteidigungslinie, die am Westufer der Oder von Oppeln bis Crossen aus dem Boden gestampft wurde. Ihr Name war zugleich Programm: "Oderstellung".

Obwohl die Oder im Versailler Vertrag dem Völkerbund unterstellt worden und der Weimarer Republik jegliche Aufrüstung verboten worden war, wurde bereits 1925 mit dem Bau der „Oderstellung“ begonnen. Vor allem in der Region rund um Glogau entstanden zahlreiche Bunkeranlagen an Brücken und Fährübergängen. Polnische Historiker sehen heute eines der Motive zum Bau der "Oderstellung" in den überraschend deutlichen Siegen, die die polnische Armee im polnisch-sowjetischen Krieg verbuchen konnte. Unter dem Kommando des Marschalls Jozef Pilsudski hatten polnische Verbände Anfang der zwanziger Jahre die überwiegend polnischsprachigen Städte Lemberg und Grodno erobert und sie der jungen Zweiten Republik angeschlossen. Darüber hinaus hatten polnische Freischärler Wilna im ebenfalls unabhängig gewordenen Litauen besetzt. Und hatten nicht die polnischen Aufstände in Oberschlesien gezeigt, wie entschlossen man war, dem neuen Staat die nötige Stärke zu verleihen? Aus der Sicht der Polen war das "wiedergeborene" Polen, für das man 123 Jahre kämpfen musste, alles andere als ein "Saisonstaat".

Dass die deutsche Befestigungslinie am westlichen Ufer der Oder entstand, hatte vor allem strategische Gründe. Wegen ihrer zahlreichen Dämme und der vergleichsweise geringen Anzahl an Brücken war die Oder wie geschaffen für eine natürliche Verteidigungslinie. Doch die Bunkeranlagen der "Oderstellung" dienten nicht nur der Verteidigung, sondern auch möglichen Angriffen, wie die "Interalliierte Kommission" in Breslau bald feststellte. Kaum war die Kommission auf die militärischen Anlagen aufmerksam geworden, berief sie im Februar 1927 ein Botschaftertreffen der Alliierten ein. Das Ergebnis: Deutschland wurde verpflichtet, die Oderstellung wieder abzubauen.

Schon kurze Zeit später wurden die Arbeiten mit um so größerer Intensität wieder aufgenommen. Zwischen 1928 und 1939 entstanden zwischen Breslau und Crossen 650 Bunker, Dutzende von gepanzerten Gefechtsstände und am Oder-Warthebogen östlich von Frankfurt (Oder) sogar ein unterirdisches Versorgungssystem für LKW und Eisenbahnen. Seine militärische Funktion aber sollte dieser millionenschwere "Ostwall" nicht erfüllen. Nachdem die Rote Armee und mit ihr polnische Verbände 1945 die mittlere Oder erreicht hatten, durchbrachen sie die "Oderstellung" bei Steinau, Oppeln und Ohlau am 23. Januar 1945. Sechs Tage später nahm die 1. Ukrainische Front der Roten Armee die Befestigungen an der Oder nordwestlich von Neusalz.

Wir halten also fest: Die Oder als Grenzfluss ist nur eines der Bilder, die sich bis zum Fall des Eisernen Vorhangs erhalten hatten. Die Oder, das war eben auch ein Symbol für einen erbitterten territorialen Kampf zwischen Deutschen und Polen in der Zwischenkriegszeit, ein Kampf, der nach 1939 in Krieg und Vernichtung mündete.

Mit dieser Vorgeschichte ist es schon fast ein Wunder, was wir heute an der Oder beobachten können – den Wegfall der Grenzen, eine regionale Entwicklung, deutsch-polnische Normalität. Begonnen hat dieses "Wunder an der Oder" aber nicht erst mit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kommunismus, sondern bereits in den 70er Jahren, in jener Zeit also, in der nördlich von Kostrzyn der Geschichtsparcours entstand, der Polen ein für alle mal an der Oder verorten sollte.

Kaum war die Grenze offen, kamen die Deutschen in Strömen. Fast dreißig Jahre hatten sie die Orte nicht besuchen können, an denen sie geboren waren oder wo sie gewohnt hatten. Dabei waren viele Vertriebene doch nur deshalb gleich hinter der Oder geblieben, weil sie hofften, dass die Odergrenze keinen Bestand haben wurde. Doch plötzlich war aus dem Provisorium ein Dauerzustand geworden. Die Grenzöffnung am 1. Januar 1972 war also wieder eine Zäsur.

Diesmal aber eine Zäsur, die die Gräben nicht vertiefte, sondern zugeschüttet wurden. Die Befürchtungen der polnischen Behörden erwiesen sich als unberechtigt. Die Ostdeutschen kamen nicht als Revanchisten, sondern als Besucher, die vor allem eines im sinn hatten: Zu sehen, in welchem Zustand das Haus oder der Hof war, von dem sie vertrieben wurden. Dabei trafen sie nicht selten auf Bewohner, die das selbe Schicksal erlitten hatten und ihrerseits aus dem Osten Polens vertrieben wurden. In dieser Zeit entstanden viele Freundschaften, die bis heute halten. Das Wunder an der Oder ist der Beginn der deutsch-polnischen Versöhnung geworden, die nicht mehr nur das Thema von Politikern und Kirchen war, sondern das der Menschen selbst.

Doch es gab auch noch ein anderes wunder, und das betraf vor allem die Jüngeren aus der ehemaligen DDR. Polen hatte nämlich einen besonderen Ruf. Da roch es nach Jazz, nach Freiheit, nach Abenteuer. Keiner hat das so gut zum Ausdruck gebracht wie der Schriftsteller Rolf Schneider in seinem Roman "Reise nach Jaroslaw".

In diesem literarischen Roadmovie aus dem Jahre 1974 wird die Geschichte der 18jährigen Gittie erzählt, die sich mit Jan, einem polnischen Architekturstudenten, auf die Reise nach Jaroslaw macht. Aus diesem Ort in der Nähe von Krakau stammte die Großmutter von Gittie, Oma Hela, deren Sprache nicht wie Sprache klang, wie Gitti überzeugt war, sondern wie Musik, Musik von Jimi Hendrix. Irgendwann kam der Moment, in dem Gittie die Grenze vor sich hatte:

"Ich ging weiter über die Brücke. Rechts neben mir war ein Gitter. Unter mit war ein Fluss. Ich ahnte sofort, dass der Fluss Oder hieß, und ich stellte mich erst mal an das Gitter, um in die Oder zu spucken. Nach Möglichkeit spucke ich von jeder Brücke, vorausgesetzt, unter der Brücke ist Wasser."

Kaum war die Brücke überschritten, war Gittie in einer anderen Welt:

"Dieses Slubice war verdammt winzig. Es bestand aus zirka einem Dutzend Straßen, und ich lief bisschen drin rum. (...) Ich sah eine Menge kleiner Kinder, die alle dunkle Haare hatten und wie besessen durch die Straßen rannten. Dann sah ich etwas, das ein Wochenmarkt war oder auch wieder nicht, weil die Verkaufsstände von fünf Figuren unmöglich ein Wochenmarkt sein können. (...) Auf einem von den Schemeln saß eine alte Frau mit weißem Kopftuch. Sie hatte helle Augen und nicht mehr besonders viel Zähne im Mund. Sie erinnerte mich trotzdem irgendwie an Oma Hela. (...) Ich hätte plötzlich in die Luft springen können. Ich wollte nach Jaroslaw und nichts in der Welt hätte mich in dieser Sekunde davon abbringen können."

Im Staunen der 18jährigen war die junge Generation der DDR angekommen in der polnischen Gegenwart jenseits der Oder, und die war nicht selten gleichbedeutend mit Freiheit, Abenteuer und alten Geschichten, den Geschichten der Alten. An diesem Abschied von der Ideologie und der Ankunft in der Wirklichkeit konnte auch die Schließung der Grenze 1980 nichts mehr ändern. Wer heute wie damals Gittie über die Stadtbrücke zwischen Frankfurt und Slubice schlendert, spürt: Hier stehen keine Bollwerke mehr. Das neue Europa ist nicht Wunschdenken, es hat Gestalt angenommen. Über die Stadtbrücke pendeln deutsche Studenten, die in Slubice wohnen, und polnische Studenten, die an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt studieren. Deutsche und polnische Künstler nehmen in einem Verein namens "Slubfurt" die Vereinigung beider Städte vorweg und geben einen Vorgeschmack darauf, wie es sich in einer Doppelstadt lebt, der die Oder nicht mehr Grenze, sondern Übergang ist. Beide Städte sind dem Fluss, von dem sie vor Jahrzehnten abgerückt waren, wieder zugewandt und ihre Bürger promenieren an seinen Ufern. Selbst die Vertriebenen und ihre Nachkommen sind inzwischen in guten Händen. Mit dem "Institut für angewandte Geschichte" können sie sich unter fachkundiger Hilfe polnischer und deutscher Kulturwissenschaftler auf die Reise in ihre alte Heimat machen – und zugleich, wie Gittie in der "Reise nach Jaroslaw", das Polen von heute entdecken.

Es gab aber auch Rückschläge. Einer war ein Aufflammen antipolnischer Stereotype im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise in der Volksrepublik Polen und der Tatsache, dass viele polnische Staatsbürger in den Kaufhäusern von Frankfurt (Oder) und Berlin, Hauptstadt der DDR, DDR-Produkte nicht gerade in handelsüblichen Mengen kauften. Als dann in Polen auch noch die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc gegründet wurde, scheute nicht einmal die SED davor zurück, antipolnische Ressentiments in Umlauf zu bringen. Der Pole streikt halt lieber als dass er arbeitet. Sie sehen also: Das mit der Friedensgrenze wurde mitunter recht flexibel gehandhabt.

Und 1980 war dann auch schon Schluss mit lustig. Aus Angst davor, dass der Bazillus einer unabhängigen Gewerkschaft, der in Polen immerhin 10 Millionen von 40 Millionen Bürgern angehörte, auch auf die DDR übergriff, wurde die Friedens- und Freundschaftsgrenze kurzerhand geschlossen.

An der großen Erzählung von Versöhnen und Zusammenwachsen aber konnte auch das nichts mehr ändern. Auch nicht die Steine der Neonazis auf polnische Reisebusse nach der Einführung des visafreien Grenzregimes 1991. Nicht der Frankfurter Brötchenkrieg mit dem sich die Deutschen gegen den Verkauf polnischer Billigbrötchen in ihrer Stadt wehrten. Nicht der Ausschwitzvergleich der polnischen Medien als polnische Pendler in Frankfurt über Stunden hinweg vom Bundesgrenzschutz festgehalten wurden.

Wie sehr sich Europa an dieser Grenze verändert hat, zeigt einmal mehr der Umgang mit der Oder. Namentlich in Frankfurt, das sich mit dem Wiederaufbau der Innenstadt nach dem Krieg um die eigene Achse gedreht und dem Fluss wie dem polnischen Slubice den Rücken zugewandt hatte, kann man wieder an der Oder promenieren. Gleichzeitig wurde mit der Wiedergründung der Europa-Universität Viadrina, die dem Namen nach ja nichts anderes ist als eine Oderuniversität, ein Zeichen gesetzt für das Zusammenwachsen Europas. Der Oder wurde neben Breslau und Stettin ein drittes geistiges Zentrum geschaffen.

Auf den Oderinseln in Breslau, dieser beschaulichen Idylle inmitten des pulsierenden Großstadtlebens, hat man Uferwege und Fußgängerbrücken neu gebaut. Stadt und Fluss, noch nie schienen sie so gut miteinander zu harmonieren wie heute.

In Leubus, das nun Lubiaz heißt, hat man mit der schrittweisen Renovierung des prächtigen Zisterzienserklosters begonnen. Wo einst die Schifffahrt auf der Oder ihren Lauf nahm, ist ein neues, kulturelles Zentrum für die Oderregion entstanden.

In Glogau, das zum Ende des Krieges zu 95 Prozent zerstört war, setzen polnische Architekten und Städtebauer den in den achtziger Jahren begonnenen Wiederaufbau der Altstadt fort und erfinden ihre Stadt neu. Am Oderufer soll in Zukunft ein Ort der Erholung und des Tourismus entstehen.

In Crossen ist ein neuer Fähranleger fertiggestellt und das Oderufer zur Promenade geworden. Wer auf ihr flaniert, hat einen wunderbaren Blick auf die Oderberge am anderen Ufer, auf denen die Villen und Bürgerhäuser in der Sonne blinken.

In Stettin hat der Wiederaufbau der Altstadt mit ihren Cafés die Stadt wieder an den Fluss geführt. Die Neuentdeckung der Oder feiert man auch auf den Hakenterrassen mit ihrem prächtigen Blick auf den Fluss. Ihren Erbauer Hermann Haken, der von 1878 bis 1907 Oberbürgermeister war, haben die Stettiner unlängst sogar zum zweitbeliebtesten "Stettiner des Jahrhunderts" gewählt. Vor ihm lag nur noch der erste Nachkriegsstadtpräsident des polnischen Szczecin, Piotr Zaremba.

Die Wiederentdeckung der Oder ist aber nicht nur das Werk von Städtebauern und Flaneuren. Sie ist auch den Umwelt- und Naturschützern zu verdanken. "Zeit für die Oder" heißt ein Bündnis, in dem sich mehr als 30 Umweltinitiativen aus Deutschland, Polen und Tschechien zusammengeschlossen haben. Ihre Leistung besteht nicht nur darin, den Schutz der Auenwälder und die Schaffung natürlicher Überschwemmungsflächen auf die politische Agenda gesetzt zu haben. Sie haben die Oder auch als zusammenhängenden Fluss, von der Quelle bis zur Mündung, gezeichnet. Kartographisch ist damit gleichfalls der Anfang vom Ende der Teilung der Oder gemacht worden. Nun kann man sie vor sich ausbreiten, diese "Enzyklopädie" der mitteleuropäischen Kulturgeschichte, wie sie Karl Schlögel genannt hat. Auf den neuen Landkarten der Oder findet man Camillo Sittes Planungen für Ostrau ebenso wie Mendelssohns Kaufhaus in Breslau oder die Amazonas-Landschaft am Unterlauf des Flusses.

So ist es nicht erstaunlich, dass die Oder auch für die Touristiker wieder interessant wird. Mittlerweile gibt es sogar ein Ereignis, auf das die Oderstädte jedes Jahr hinfiebern. Immer im Juni macht sich das Flis Odrzanski, das Oderfloß, auf den Weg von Brzeg/Brieg nach Szczecin/Stettin. 16 Tage lang sind Flößer, Begleitschiffe, Tourismusmanager, Fotografen und Journalisten auf der Oder unterwegs und berichten über die Veranstaltungen und Feste, die anlässlich des "Flis" in jedem noch so kleinen Oderdorf abgehalten werden.

Am nachhaltigsten ist freilich die Wiederentdeckung der ehedem zerrissenen Geschichte der Oder. In zahlreichen Orten und Städten haben sich Hobbyhistoriker und engagierte Bürger in den vergangenen Jahren um die Neuentdeckung und Bewahrung des kulturellen Erbes bemüht. In Wroclaw, Glogow oder Krosno Odrzanskie ist die deutsche Geschichte längst kein Tabu mehr, sondern auch Verpflichtung. Auf der deutschen Seite sind die Enkel der Vertriebenen zu engagierten Verfechtern einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geworden.

Was sie eint, ist die Überzeugung: Mit der Vergangenheit in die Zukunft. Nur so kann das Vorhaben gelingen, sich den Fluss zu teilen, der selbst so lange teilte und geteilt war. Und nur so kann ein neuer "Geist der Oder" geschaffen werden. Nicht mehr die Oder als Grenzfluss, sondern die Oder als ein narrativer Raum, in dem sich die Menschen ihre Geschichten erzählen – die von Krieg und Vertreibung, die von den Koffern, die man schließlich ausgepackt hat, die der Wünsche an die Zukunft.

Denn das wäre ja auch ein Einzugsgebiet eines Stromes: zu erfahren, woher und warum die Menschen, die vor wenig mehr als einem halben Jahrhundert woanders gelebt haben, an diesen Strom gekommen sind. Und hier, mitten in Europa, eine neue Heimat gefunden haben.

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