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DRUCKVERSION Rosen für Verliebte

Die Gauja ist Lettlands wilder Fluss. Auch deshalb war Sigulda in der "livländischen Schweiz" schon immer ein Ort für Romantiker – und ist es bis heute geblieben

von UWE RADA

Kein Zweifel, dies ist ein Ort für Verliebte. Auf der Brücke, hoch über der Gauja, hängen Schlösser, ein untrügliches Zeichen. Eiserne Vorhängeschlösser, eins neben dem andern, gekettet an die Brückenstreben aus Beton, die Schlüssel wahrscheinlich hinunter geworfen in den reißenden Fluss. Wären da nicht die Rosen neben den Ketten und die Gravuren auf den Schlössern, man könnte stutzig werden. So aber sieht man es auf den ersten Blick: Auf dem einen Schloss lieben sich Baiba und Martin, auf dem andern, in kyrillischen Buchstaben, geben sich Wladislaw und Elena das Jawort. Schloss und Kette sind keine Symbole von Macht und Zwang, sondern von freiwilliger Bindung. Das eherne Gesetz der Liebe.

Das war nicht immer so in Sigulda, dem Tor zum lettischen Gauja-Nationalpark. Die vielleicht traurigste Sage, die man sich in den Tälern und auf den Bergen 50 Kilometer östlich von Riga erzählt, ist die von der "Rose von Turaida". Im Jahre 1620 war es, da verliebte sich Maija Greif, die Ziehtochter des Burgschreibers auf der Burg Turaida in den armen Gärtner Viktor. Zur gleichen Zeit aber buhlte ein polnischer Adliger um Maija und lockte sie unter einem Vorwand hinunter ans Ufer der Gauja zur Gutmannhöhle. Als Maija begriff, dass der Adlige sie zur Heirat zwingen wollte, ließ sie sich, so geht die Sage, von eben jenem erschlagen. Maija war zwar tot, doch ihre Ehre und die Liebe zu Viktor waren gerettet. Und der Burgschreiber sorgte mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dafür, dass seine Ziehtochter, die "Rose von Turaida", der Nachwelt erhalten wurde.

Nach Sigulda zu kommen, ist nicht schwierig. Fast stündlich fahren die Züge vom Rigaer Hauptbahnhof, und fast immer sind sie voll. Anderthalb Millionen Gäste im Jahr zählt Seegewold, wie Sigulda einst hieß, und ist damit nach der Hauptstadt die Nummer zwei der lettischen Touristenziele. Zu Recht. Nirgendwo im flachen Baltikum lässt sich eine derart anmutige Landschaft aus Hügeln, Tälern, Schluchten und Höhlen erleben. Dazu immer wieder dieser Blick auf die Gauja, den wilden Fluss, und die Burgen hoch über ihren Ufern. Kein Wunder, dass die Gegend schon von den Deutschbalten die "Livländische Schweiz" genannt wurde. Selbst eine Gondelbahn gibt es hier, die einzige im gesamten Baltikum.

Nachdem wir die Liebesschlösser auf der Gaujabrücke fotografiert haben, wandern wir hinunter an den Fluss und seine Höhlen. Die Gutmannhöhle, an der die "Rose von Turaida" der Sage nach erschlagen wurde, gibt es noch immer. Auch sie ist eine Pilgerstätte für Verliebte, wie wir unschwer erkennen. Überall haben sich die Baibas und Martins, die Wladislaws und Elenas Lettlands auf den Sandsteinwänden der Höhle verewigt. Und das seit Jahrhunderten. Es stimmt also, was man uns in Riga gesagt hatte: Die Gauja ist ein Ort für Romantiker.

Und für die Liebhaber von Flüssen. Zwar ist die Gauja mit ihren 452 Kilometern nicht der längste Fluss Lettlands. Das ist die Daugava, die in Russland entspringt, durch Weißrussland fließt, Riga in zwei Teile teilt und kurz hinter der größten Stadt des Baltikums in die Ostsee mündet. Gleichwohl wurde die Gauja zum lettischen Nationalfluss – schließlich entspringt und mündet sie auf heimischem Boden. Nicht nur die "Rose von Turaida" gehört zu ihren Mythen, sondern auch die Geschichte von der lettischen Nationalflagge. In Cesis, 30 Kilometer oberhalb Siguldas, soll einst ein lettischer König gegen Eindringlinge gekämpft haben. Als er verwundet wurde, legte er sich auf ein weißes Tuch – als Zeichen der Kapitulation. Das Blut des Sterbenden färbte das Tuch zu beiden Seiten rot. Dort, wo der König lag, blieb es weiß. Schon 1270 wurde die rot-weiß-rote Fahne erstmals als lettisches Banner gehisst – als eine der ersten Landesflaggen in ganz Europa. Nicht nur am Rhein, auch in Lettland gehören Romantik, Flusstal und nationaler Mythos zusammen.

Allerdings haben die hügelige Landschaft und die alten Mythen auch schon die Russen zu schätzen gewusst. Kaum war Ende des 19. Jahrhunderts die Bahnverbindung von Riga nach Petersburg fertig gestellt – und Sigulda ans neue Verkehrsnetz angeschlossen – kamen die Touristen aus der Hauptstadt des Zarenreichs. Selbst zu Sowjetzeiten hatte sich Sigulda das gewisse Etwas erhalten können. 1973 wurde das Gaujatal bis hinauf ins 80 Kilometer entfernte Valmiera als Nationalpark ausgewiesen. 900 Pflanzenarten, 149 Vogel- und 48 Säugetierarten des zur Hälfte mit Wald bedeckten Flusstals standen nun unter Schutz.

Dem Tourismus tat das keinen Abbruch. Auch nicht dem Ausbau Siguldas zum Wintersportzentrum. Schon 1969 wurde die 1 200 Meter lange Gondelbahn auf einer Höhe von 42 Metern über den Fluss gebaut. 1986 kam eine Bobbahn dazu, auf der seitdem im Winter Weltcuprennen ausgetragen werden. Sigulda ist nicht nur romantisch, es sollte auch mondän werden, eine Art Sankt Davos der Livländischen Schweiz.

Vor der Gutmannhöhle ist Verliebtenauftrieb. Von irgendwoher müssen die Paare gekommen sein, herunter von den Bergen, die hier bis 80 Meter in die Höhe ragen oder von den Uferwegen, die man wegen der Biegungen des Flusses nicht immer einsehen kann. Nun sind sie hier, die Mädchen zeigen bauchfrei und ihr bestes Lächeln, die Jungs drücken auf die Digitalkamera. Ob sie sich etwas wünschen, ganz heimlich, auf dass es in Erfüllung gehe? Dass ihre Liebe genauso lange währt, so eisern wie die Schlösser flussabwärts, die ehern an die Streben der Brücke gekettet sind? Oder hoffen sie, weil die Liebe manchmal widerspenstig ist wie eine Katze, auf ein Wunder? Die Legende vom Wunderheiler, der einst in der Höhle gelebt haben soll, kennen sie alle. Und auch das Grab der "Rose von Turaida". Gleich nebenan soll Maija begraben sein. Auch an ihrem Grabstein liegen, wie oben auf der Brücke, Rosen.

Es ist schon erstaunlich, wie Orte zu ihrem Geist, dem Geist des Ortes kommen. Dass Sigulda zu einem Ort der Verliebten werden würde, war zunächst nicht abzusehen. Wegen der tragischen Geschichte der Maija hätten die Verliebten auch einen großen Bogen um die Gauja machen können.

Und um Sigulda gleich dazu. Auch dessen Geschichte ist nicht immer romantisch gewesen. Vor 800 Jahren hatte der baltische Stamm der Liven in den Urwäldern an den Gaujahängen die Burg von Sigulda gegründet. War da Voraussicht mit im Spiel? Kurze Zeit später befanden sich die Liven im Krieg mit dem deutschen Schwertbrüderorden. Als dieser schließlich siegte, wurde Livland zwischen dem Orden und dem Bremer Bischof Albert aufgeteilt – der Fluss Gauja bildete die Grenze. Sigulda gehörte fortan dem Orden an, auf Turaida herrschte der Bischof, der im Jahre 1201 Riga gegründet hatte. Ein mittelalterlicher Stellungskampf, der noch heute zwischen den beiden Burgen zu bestaunen ist. Auch wenn es längst nicht mehr ums Kämpfen geht, sondern ums Feiern. Im August 2007 begingen die Bewohner von Sigulda das 800. Jubiläum ihrer Burg – vermutlich nicht ohne Romantik.

Uns ist derweil weniger romantisch, sondern etwas herbstlich zumute. Schon während der Fahrt mit der Gondel von Sigulda ans linke Gaujaufer war ein Schauer übers Land gegangen. Das beliebteste Fotomotiv der "Livländischen Schweiz" – futsch, buchstäblich ins Wasser gefallen. Deshalb müssen wir nun, da sich die Wolken verzogen haben, wenigstens noch hinauf auf den Gleznotaju kalns, den "Malerhügel". Auf dem, steht es in unserem Reiseführer, haben schon Künstler wie der lettische Porträt- und Landschaftsmaler Janis Rozentals gestanden. Auch er ist eine lettische Legende, in Riga wurde die Wohnung des 1916 verstorbenen Malers in der Albertastraße sogar zur Pilgerstätte von Intellektuellen. Den Blick auf die Schleifen der Gauja, steht es im Reiseführer, hat er genossen wie viele andere, die auf den Malerhügel gekommen waren. Allzu viel Zeit haben wir aber nicht mehr. Unser Zug zurück nach Riga wartet schon.

Im Nationalparkzentrum bestellt die junge Frau an der Kasse ein Taxi. "Warten Sie an der Straße", lächelt sie uns freundlich zu. Statt eines Taxis braust ein rostiger VW-Bus heran. "Haben Sie ein Taxi bestellt", fragt der Fahrer. Wir nicken und schauen auf die Uhr. Eine halbe Stunde haben wir noch.

"Zum Malerhügel", sagen wir dem Fahrer. Er versteht uns nicht. Wir versuchen es in allen Sprachen und Gesten, die uns zur Verfügung stehen. Fehlanzeige. Bleibt nur noch der Stadtplan. 500 Meter vor dem Malerhügel ist ein Parkplatz, da soll er uns hinfahren. Wieviel? How much? Er lächelt. Plötzlich spricht er etwas Englisch. Zehn Lats, hin und zurück. Und zwar im Voraus. Wir haben keine Wahl und schlagen ein.

Um es vorwegzunehmen, der Blick war enttäuschend. Der Himmel wieder zugezogen, der nächste Regenguss wird nicht lange auf sich warten lassen. Kein farbiges Bild bot uns der Malerhügel, sondern Grau in Grau. Und eine gewisse Unsicherheit. Würde der Fahrer noch auf dem Parkplatz stehen, wenn wir zurückkommen? Oder würde er sich, mit unseren zehn Lats in der Tasche, immerhin 15 Euro, davon gemacht haben?

Etwas betrübt von diesem Abschluss unseres Gauja-Ausflugs eilen wir zum Parkplatz zurück. Immerhin: Der VW-Bus steht an Ort und Stelle. Der Fahrer allerdings fehlt. "Hello", rufen wir, "We are back!" Nichts rührt sich. Wo kann er nur sein? Was um Himmels willen treibt einen Taxifahrer aus Sigulda, der keiner ist, an einem herbstlichen Spätsommernachmittag aus seinem VW-Bus. Wir greifen an die Beifahrertür. Sie ist unverschlossen. Die Schiebetür auch. Dahinter, endlich, lüftet sich das Geheimnis. Noch betäubt vom Nickerchen, das ihn auf der Sitzbank übermannt hat, versucht unser Fahrer ein Lächeln. Wir lächeln zurück. In fünf Minuten geht unser Zug.

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