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DRUCKVERSION Wilde Wasser hinter der Grenze

Lange Zeit stand die Drawa nordöstlich von Stettin im Schatten der Flüsse und Seen in Masuren. Die Paddler aber haben den Wildwasserfluss längst für sich entdeckt

von UWE RADA

Zu den eindrucksvollen Naturerlebnissen in Polen gehören nicht nur die Nationalparks, Seenplatten und Urwälder, sondern auch die Flüsse. Weitgehend unberührt fließen selbst die großen unter ihnen — Weichsel, Oder, Warthe und Bug — durch Wälder und Landschaften. Die kleineren sind oft sogar Wildflüsse geblieben. So auch die Drawa im Nordwesten Polens.

Zelt, Schlafsack und Isomatte sind im Auto verstaut, genügend wasserdichte Packsäcke haben wir ebenfalls dabei. Auf der Drawa zu paddeln ist zwar kein Wildwasserabenteuer wie auf der Ardeche in Frankreich, aber auch keine gemütliche Wasserwanderung. Vor allem nicht, wenn die Reise vom kleinen Ort Drawno flussabwärts in den Drawienski Park Narodowy, den Drawa-Nationalpark führt. Ein sich selbst überlassener Urwald ist das, in dem die umgestürzten Eichen-, Buchen- und Erlenstämme oft genug im Wasser liegen und hin und wieder einiges Geschick im Manövrieren erfordern. Dabei kann man durchaus nass werden.

Das achtzig Kilometer südöstlich von Stettin gelegene Drawno haben wir als Ausgangspunkt ausgesucht, weil wir nur zwei Tage Zeit haben. Wer eine oder sogar zwei Wochen unterwegs ist, kann weiter flussaufwärts einsteigen, in Drawsko Pomorskie zum Beispiel oder in Czaplinek an der Pommerschen Seenplatte. 186 Kilometer fließt die Drawa durch Westpommern, zuerst nach Westen, dann nach Süden, bevor sie schließlich in Krzyz in die Netze mündet. Die Netze wiederum mündet bei Santok in die Warthe, die Warthe bei Kostrzyn in die Oder. Die Drawa, der Länge nach die Nummer 19 der Flüsse in Polen, gehört damit zum 118 861 Quadratkilometer großen Einzugsgebiet der Oder. Der Drawa-Nationalpark macht dabei das letzte Sechstel des Flusslaufes aus.

Knapp drei Stunden nach der Abfahrt aus Berlin haben wir Drawno erreicht. Ein wunderbarer kleiner Ort, dessen Mittelpunkt nicht der Marktplatz ist, sondern die Brücke zwischen den beiden Seen, durch die die Drawa hindurchfließt. Unterstrichen wird die Bedeutung der Brücke durch das augenfällige Gebäude am westlichen Brückenende, in dem die "Wasserstation" des Nationalparks untergebracht ist. Hier bekommen wir Informationen, Bücher und Karten über die Drawa und den Urwald, aber auch unser Paddelboot. Zur Wasserstation gehört ein eingezäunter Parkplatz, auf dem wir unser Auto zurück lassen können.

"Wie weit wollen Sie paddeln", fragt eine der beiden Mitarbeiterinnen auf Englisch. "Keine Ahnung, wir haben nur bis morgen Mittag Zeit." – "Kein Problem", meint die Mitarbeiterin, "alle acht bis zehn Kilometer finden Sie einen Biwakplatz, dort können Sie übernachten." – "Und wie kommen wir zum Auto zurück?" – "Einfach Lukasz, unseren Fahrer, anrufen, der holt Sie ab und bringt Sie wieder hierher." Das klingt nicht nur verlockend, sondern geradezu perfekt. Preisgünstig ist das Paddelvergnügen sowieso. Für Parkplatz, Eintritt in den Nationalpark, Zeltplatzgebühr und Paddelboot zahlen wir gerade einmal 100 Zloty, das sind 25 Euro.

Kurz danach geht es los auf unseren "Berliner Masuren". Das erste Stück führt noch über den Adamowo-See, dann geht es links hinein in die Drawa. Diese Kulisse begleitet uns ein ganzes Stück: ein grünes Dach über uns, grüne Steilufer rechts und links und ein ruhiger, mal wilderer grüner Fluss unter uns, auf dem unser Boot gleitet. Selten taucht man so unmittelbar ein in die Natur. Und selten ist sie einem so nahe. Ein Entkommen gibt es nicht mehr, zumindest nicht bis zum ersten Biwakplatz in Barnimie.

Dass der Unterlauf der Drawa zum Nationalpark wurde, ist der politischen Wende in Polen zu verdanken. Am 1. Mai 1990 haben sich die Umweltschützer schließlich durchgesetzt. Die Regierung in Warschau stellte das 11 107 Hektar große Urwaldgebiet zwischen Drawno und Stare Osieczno unter Schutz. 83,8 Prozent der Fläche besteht aus Wäldern, die Wasserläufe der Drawa und ihrer Nebenflüsse machen dabei nur 8,3 Prozent aus. Doch diese sind es, die einen den Urwald erleben lassen, seine bis zu 480 Jahre alten Eichen, die 300 Jahre alten Buchen, die abgerutschten Steilhänge, die Sumpfgebiete, in denen es noch Sumpfschildkröten gibt. Ein grüner Tunnelblick auf ein Stück Natur, das von außen betrachtet, auf der Landstraße zwischen Drawno und Glusko zum Beispiel, eher unspektakulär wirkt. Es gibt also noch so etwas wie "unberührte Natur" zu entdecken rund um Berlin. Was zuhause als Wort des Trostes klingen mag, hier, keine 300 Kilometer von Berlin entfernt, ist es überbordende Wirklichkeit. Selbst Eisvogel und Graureiher sind uns bei diesem Kurzausflug begegnet.

Inzwischen sind wir tatsächlich nass geworden. Ein Baumstamm lag so tief überm Wasser, dass es unmöglich war, sich unter ihm durchzuducken. Also raus aus den Klamotten und — das Boot im Schlepptau — kurzerhand geschwommen. Da lag auch schon die Anlegestelle des Biwakplatzes "Barnimie II" vor uns. 50 Stufen hoch, das Zelt auf einer Waldwiese aufgeschlagen, Bier, Käse und Brot ausgepackt. Wie gut, dass wir in Drawno noch eingekauft hatten, im Urwald gibt es keinen Sklep. Todmüde fallen wir nach dem Abendbrot ins Zelt.

Die einzigen Bewohner dieser Wildnis sind wir jedoch nicht. Ein paar Polen feiern und singen. Ihre Melodien schaukeln uns in den Schlaf. Am nächsten Morgen ist es frisch, in der Nacht hat es geregnet. Überall auf dem Biwakplatz das Klappern von Töpfen, in denen auf Campingkochern das Kaffeewasser köchelt. Kajaktouristen sind Frühaufsteher. Während wir noch beim Kaffee sitzen, sind unsere Nachbarn schon startklar. Und das, obwohl sie erst spät ins Zelt gekrochen sind. "Eines der Boote war leck", erklärt ein Schwabe die nächtlichen Aktivitäten. "Wir haben beim Verleih angerufen, der hat sofort ein neues Boot geschickt." Tatsächlich war in der Nacht ein Transporter mit Bootsanhänger über den regennassen Biwakplatz gerattert.

Kurz bevor die Nachbarn ihre Boote die Treppe hinunter zum Fluss tragen, sagt der Schwabe noch, dass er solchen Service nicht erwartet habe. Seine Begleiterin, eine Studentin der Viadrina aus Frankfurt (Oder), dagegen wundert sich nicht. "Dass die Infrastruktur hier perfekt ist, ist bekannt. Deshalb macht das Paddeln auf der Drawa so viel Spaß." Offenbar sind unsere "Berliner Masuren" doch kein Geheimtipp mehr.

Eine Stunde später sind auch wir wieder im Boot. Weitere vier Stunden später haben wir unser Ziel, den Biwakplatz "Bogdanka", erreicht. Fast ein bisschen wehmütig ziehen wir das Boot aus dem Fluss. Eigentlich hätte es so weitergehen können, Tag für Tag, Abend für Abend, Biwakplatz um Biwakplatz. Doch an unserem Zeitbudget lässt sich nicht mehr rütteln. Also greifen wir zum Handy und rufen Lukasz, unseren Fahrer, an. Der sagt, wir sollen uns bei seinem Vater an der "Bar Lesny", der "Waldbar" melden. Und so geht unsere Tour zu Ende.

Lukasz' Vater fährt uns mit einem klapprigen Kleinbus, das Kajak auf dem Dachgepäckträger, zurück nach Drawno. Ein bisschen ist uns beim Verlassen dieses Ortes, als wären wir andere geworden als die, die wir bei der Ankunft waren. Wie lange wird der Vorrat an Urlaub in Berlin halten? Länger als geglaubt, da sind wir uns sicher.

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