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DRUCKVERSION Wenn Schmuggler sich rasieren

Die Phase der Basarwirtschaft in Osteuropa ist noch nicht zu Ende. Mit den neuen Außengrenzen Europas wird aber nicht nur eine neue Grenze zwischen Ost und West gezogen, sondern zum Beispiel auch der Ameisenhandel zwischen Sarajevo und dem neuen "Chinesenmarkt" in Budapest durchschnitten

Von UWE RADA

Es ist ein grandioser Anblick. Hinter dem Oberring des Stadions Dsieciecolecia erhebt sich die neue Skyline von Warschau. In den gläsernen Hochhäusern rund um den Kulturpalast sitzen die Osteuropaexperten der multinationalen Konzerne und grübeln über die nächsten Stationen bei der Eroberung der osteuropäischen Märkte. Ist Minsk zu unsicher? Was wird aus der Ukraine? Nicht lieber gleich nach China?

Auf dem Oberring des Stadions selbst haben Händler ihre Waren ausgebreitet. Schmuggelgut zumeist, oder gefälschte Marken. Sie verkaufen Zigaretten, Wodka, Unterwäsche, Hundefutter, Plastikpalmen, Fahrräder, Hochzeitskleider, Levis-Jeans. Manchmal stehen alte Frauen zwischen den Händlern, mit nichts als einem Sack Kartoffeln oder ein paar Zwiebeln in der Hand. Weiter unten, vor dem Stadion, geht es geordneter zu. Statt wackliger Tische gibt es richtige Marktstände, Gassen, geordnet nach dem Sortiment der Waren. Hier findet man Elektroartikel, Autozubehör, Textilien.

Alle Sprachen des Ostens sind hier vertreten: Polnisch, Russisch, Ukrainisch, Lettisch, Vietnamesisch. Der "Jahrmark Europa", wie der "Russenmarkt" im Warschauer Stadtteil Praga offiziell heißt, ist einer der großen Basare Osteuropas. Und er ist ein Teil einer grenzüberschreitenden Basarwirtschaft, die vom litauischen Automarkt in Marjampole über den Textilmarkt in Tuszyn bei Lodz bis zum Markt "am siebten Kilometer" in Odessa reicht. Zwischen dem "Russenmarkt" in Praga mit seinen ukrainischen, weißrussischen und vietnamesischen Händlern und den Chefetagen in den Hochhäusern im Geschäftszentrum von Warschau liegt nicht nur die Weichsel, die seit jeher "Polen A" und "Polen B", den polnischen Westen von seinem armen Osten trennt. Links und rechts der Weichsel zeigt sich auch die Marktwirtschaft in ihren Extremen, hier der gläserne Protz der Global Player, dort die Armseligkeit osteuropäischer Überlebensökonomie.

Auch wenn an manchen Ecken des Marktes von Praga abenteuerliche Holz- und Metallkonstruktionen in die Höhe ragen und mit ihren handgemalten Werbebotschaften fast ein wenig an die Brandscapes der Central Business Districts erinnert, sind die Übergänge längst nicht mehr fließend. Die Zeiten, in denen auf den polnischen Basaren der Kapitalstock für kapitalistische Karrieren erwirtschaftet wurde, sind vorbei.

Dem "Russenmarkt" von Warschau, zu Beginn der polnischen Wirtschaftstransformation einmal das umsatzstärkste Unternehmen des Landes, merkt man diesen Niedergang ebenso an wie dem Markt in Przemysl. Kaum zehn Kilometer vom Übergang Medyka an der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt, war der Basar am Bahnhof der Stadt mit ihrem alten Habsburgercharme ein Zentrum des ostpolnischen Grenzhandels. Zehntausende lebten von den ukrainischen Kunden, und zehntausende kamen von Lemberg bis nach Przemysl, um zu kaufen, was es in der Ukraine nicht gab. Heute wirkt der Basar am Bahnhof wie ausgestorben. Und auch in Medyka sind es nur noch ein paar "Mrówki", die "Ameisen", die sich mit Kleinschmuggel über Wasser halten. Verkauft wird, was sie auf dem Rücken über die Grenze bringen. Und wenn die Grenzer mitspielen, machen sie die Route mehrmals täglich.

"Jedes Land des ehemaligen Ostblocks hatte in den letzten anderthalb Jahrzehnten seine Basarphase", meint der Osteuropa-Historiker und Publizist Karl Schlögel. "In manchen Ländern - wie in Polen oder Estland - ist sie vorbei, in anderen - wie in Russland oder der Ukraine - ist sie noch in vollem Schwung." Für Schlögel ist der Niedergang der Basarwirtschaft zugleich ein "Gradmesser für den Stand der Transformation" in den ehemals sozialistischen Ländern. Wo der Basar "verschwunden ist, ist der Prozess abgeschlossen, wo er noch da ist, wird er noch gebraucht".

Diese These trifft allerdings nur zum Teil zu, etwa an den "Polenmärkten" entlang der deutsch-polnischen Grenze. In Swinoujscie, Kostrzyn, Slubice und Leknica haben die Händler Umsatzeinbußen von bis zu 50 Prozent zu verzeichnen. Die deutsch-polnische Basarphase, die die polnischen Händler noch vor dem Fall der Mauer eingeleitet haben, indem sie den Potsdamer Platz nahezu über Nacht in einen "Polenmarkt" verwandelten, ist heute tatsächlich abgeschlossen. Längst kaufen die Deutschen in den neu erbauten polnischen Einkaufszentren. Dort ist der Schinken nicht nur billiger, sondern auch frischer.

Doch was für die deutsch-polnischen Grenzmärkte gilt, trifft für die ostpolnischen Basare nicht zu. In Praga und Przemysl hat der Niedergang der Basare weniger mit der Angleichung der Preisunterschiede und des Lohngefälles zu tun, sondern mit den Veränderungen im europäischen Grenzregime. Schritt für Schritt führte die polnische Regierung gegenüber Russen und Weißrussen die Visumspflicht ein, und selbst die Ukrainer müssen seit dem Dezember 1997 hundert Dollar vorweisen, wollen sie nach Polen einreisen.

Im Ausbleiben der ukrainischen, weißrussischen und estnischen Händler auf den Basaren des polnischen Ostens zeigen sich auch die Schatten, die die neuen Außengrenzen Europas schon heute vorauswerfen. Dass Grenzregime und Visaregelungen nicht nur über den Niedergang, sondern auch den ungeheuren Boom von Basaren entscheiden, zeigt der chinesische Markt in Budapest. Binnen weniger Jahre haben chinesische Einwanderer, manche sogar aus New York City, den Basar am Bahnhof von Jozefváros übernommen. Es waren die Aufhebung der Visumspflicht für Chinesen und die niedrigen Steuersätze für Gewerbetreibende, die sie nach Ungarn gelockt haben. Von den 30.000 Chinesen, die heute in Budapest leben, lebt fast ein Drittel - direkt oder indirekt - vom chinesischen Markt. Auch in der ungarischen Hauptstadt, für viele eine der westlichsten Metropolen Mittelosteuropas, hat sich kaum zwanzig Minuten vom Stadtzentrum und den noblen Geschäften an der Váci utca ein Zentrum der osteuropäischen Überlebensökomomie etabliert.

Es ist aber weniger die Versorgung der Budapester mit Billigwaren, Textilien, Plastikfeuerzeugen, Zigaretten oder der Stand der ungarischen Transformation, die sich am "Chinesenmarkt" in Budapest verfolgen lassen. Vielmehr ist der Budapester Basar eine der zentralen Stationen des osteuropäischen "Ameisenhandels", wie ihn Karl Schlögel genannt hat. Nach Budapest kommen die Händler aus Rumänien, Makedonien und Bosnien und füllen ihre weißrotgestreiften reißfesten Plastiktüten mit jenen Waren, die sie auf den Basaren in ihren Heimatländern weiterverkaufen.

Die in Berlin lebenden Belgrader Filmemacher Zoran Solomun und Vladimir Blazevski haben die verschiedenen Etappen dieses osteuropäischen Ameisenhandels nun erstmals in einem Dokumentarfilm festgehalten. Porträtiert werden ein Händler aus der bosnischen Hauptstadt Sarajevo, einer aus dem rumänischen Resita, ein dritter aus dem makedonischen Tetovo und schließlich noch ein vierter aus dem ungarischen Samogyfaijsz. Allesamt waren die Porträtierten in der Phase vor der "Transformation" keine Händler, sondern Ingenieure, Betriebsleiter oder Intellektuelle wie der einst in Kabul tätige Hochschullehrer. Woche für Woche unternimmt auch er die beschwerliche Reise von Tetovo nach Budapest, trotz eines schweren Rückenleidens. Zum Verdienst aus der Basarwirtschaft haben die "Europareisenden" (Malgorzata Irek) keine Alternative, nur als Schmuggler wollen sie nicht immer erkennbar sein. Jedes Mal, bevor er mit dem Bus die ungarische Grenze erreicht, rasiert sich der 63-jährige Rentner Rasid Selimic-Rasa aus Sarajevo. Danach kauft er auf dem "Chinesenmarkt" Damenunterwäsche, darauf hat er sich spezialisiert.

Solomuns und Blazevskis Dokumentarfilm ist ein faszinierendes Mosaik des osteuropäischen Ameisenhandels, den Alexander Korkotadse weitaus treffender als "Tschelnok" bezeichnet. Tschelnok heißt im Russischen Weberschiffchen, und in der Tat weben die "Tschelnoki" mit ihren Handlungsreisen jenes Geflecht, aus dem die europäische Armutsökonomie besteht. Ein Geflecht, das zugleich ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte ist. Außer der Studie von Korkotadse über die "Tschelnoki" auf der Route Minsk-Istanbul-Minsk oder Malgorzata Ireks Feldforschung über den "Schmugglerzug" Berlin-Warschau-Berlin ist bislang kaum etwas über die Ökonomie und Geografie dieses "Ameisenhandels" bekannt. Nur manchmal, wenn man vor den Habseligkeiten der Händler steht, wundert man sich, wie wenig man in der Überlebensökonomie zum Überleben braucht.

Während europäische Innenpolitiker wie Otto Schily in Medyka bei Przemysl bereits den Fortschritt beim Ausbau der polnischen Grenzen gegen Osten lobt, ist Solomuns und Blazevskis Porträt der "Tschelnoki" auf dem Weg von und nach Budapest zugleich ein Pläydoyer gegen den Ausbau des Grenzregimes und der Festung Europa. Auf dem Weg nach Sarajevo passiert auch Rasid Selimic-Rasa eine künftige Außengrenze: die zwischen dem sicheren Beitrittskandidaten Ungarn und dem unsicheren Rumänien. Akribisch haben die "Europareisenden" eine Liste mit den mitgeführten Waren erstellt, und ebenso akribisch kontrollieren die Zöllner die Waren, stichprobenartig. Hinterher, als alles vorbei ist, wird im Bus gefeiert. Aus gutem Grund. Die etwa 50 bis 200 Mark, die Rasa mit dem Verkauf seiner Damenunterwäsche auf dem Basar von Sarajevo erzielen wird, reichen für eine Woche. Dann heißt das Reiseziel erneut chinesischer Markt in Budapest.

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