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DRUCKVERSION Provinz - Metropole - Region
Zur Beziehungsgeschichte von Brandenburg und Berlin

von UWE RADA

1.
Das war Balsam für die Berliner Seele. Im Sommer 2007 überraschte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel mit einer Homestory über die deutsche Hauptstadt. Ihr Titel: "Großstadt ohne Größenwahn". Von einer selbstbewussten, demokratischen und heiteren Metropole war da zu lesen, die so gar nichts gemein habe mit der Last ihrer Geschichte. "Das neue Berlin", frohlockte der Spiegel, "ist mehr als nur ein Ort der Erinnerung und des Trauerns – fröhlich, frech und manchmal mit dreister Leichtigkeit findet die alte Preußen-Hauptstadt eine neue Identität."

So viel Lob war nicht immer. Nach der Wende war gar, nicht nur in britischen Medien, von einer Rückkehr der "Knobelbecher" die Rede. Grund war ein so strenger wie an preußischen Traditionen
anknüpfender Gestaltungsanspruch an Städtebau und Architektur, der den damaligen Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main, Heinrich Klotz, an eine "faschistoide
Architektur" erinnerte. Sollten also doch die Befürchtungen wahr werden, dass nach dem Fall der Mauer an Deutschland und seiner neuen Hauptstadt wieder die Welt genesen sollte?

Beides – Lob der Großstadt wie die Ängste, die sie auslösen kann – ist Teil eines tief verwurzelten Fremdelns in der abendländischen Kulturgeschichte. Die Metropole, auf Griechisch Mutterstadt, war immer beides, wie der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann in seinem Beitrag zeigt: Ort der Modernisierung, aber auch Zentrum der Macht, kultureller Impulsgeber und Sündenbabel, Hoffnung auf ein besseres Leben und Ort seines Scheiterns. Diese Ambivalenz zeigt sich bis heute – etwa in den Sorgen der Brandenburger vor einer Länderfusion mit einem dominanten (und hoch verschuldeten) Berlin.

Nicht minder ambivalent ist das Bild von der Provinz. Sie hat sich in unserem Sprachgebrauch als ein Synonym für kulturelle Rückständigkeit, traditionelle Lebensentwürfe und politischen Konservatismus festgesetzt. Sprichwörtlich ist ihre Provinzialität. Mit der Enge der Provinz wollen wir nichts zu tun haben. Außer wir entscheiden uns bewusst dafür, wie es Anne Frechen am Beispiel der Malerkolonien beschreibt. Schließlich ist die Provinz immer auch Sehnsuchtsort gewesen, Fluchtpunkt für müde Großstadtseelen, ein Labor für ein anderes Leben jenseits des Tempos und der Zumutungen der Metropole.

Was aber bedeuten Metropole und Provinz heute? Welche Antworten geben sie auf die Fragen der Gegenwart – auferzwungene Mobilität, zunehmende Ungleichheit, Glanz der neuen Zentren und Schattendasein der abgehängten Peripherie? Welchen Beitrag können sie leisten bei der Herausbildung einer regionalen Identität? Oder haben sich das Gegensatzpaar und das ihm innewohnende Fremdeln längst aufgelöst in einer Welt, in der das "Global Village" ebenso Realität ist wie die Berliner Reihenhaussiedlung gleich neben dem Außenministerium? Man kann sich diesen Fragen gleich mehrfach nähern. Historisch. Kulturell. Räumlich. Im Zentrum freilich stehen der Mensch und sein ganz persönlicher Umgang mit Provinz und Metropole.

2.
Historisch betrachtet ist das Verhältnis von Berlin und Brandenburg als einer Beziehung zwischen Metropole und Provinz jüngeren Datums. Zur preußischen Provinz wurde die Mark Brandenburg
erst nach der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress 1815. Bezeichnend für die preußische Provinzialordnung war der Status von Berlin. Die preußische Garnisons- und Residenzstadt war seit 1701 zwar die Hauptstadt des Königreiches Preußen. Als preußische Kommune aber wurde sie von den Regierungsbehörden des brandenburgischen Bezirks Potsdam aus regiert. Diese Herrschaft der "Provinz" über die "Metropole" dauerte – ausgenommen die Jahre zwischen 1827 und 1843 – bis zum Jahre 1881. Erst zu diesem Zeitpunkt schied Berlin, immerhin schon zehn Jahre lang Hauptstadt des Deutschen Reiches, aus dem Provinzialverband Brandenburg aus und bekam einen eigenen Stadtkreis. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Potsdam und Berlin, das Sigrid Grabner in ihrem Beitrag beschreibt, ist ein Hinweis auf die Aktualität dieser Konkurrenz der beiden "ungleichen Schwestern".

Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 bedeutete vor allem für seine Hauptstadt einen Entwicklungsschub, der bis dahin ohne Beispiel war. Binnen 50 Jahren wird aus der Garnisonsund
Residenzstadt Berlin eine Metropole mit vier Millionen Einwohnern und nach New York und London die drittgrößte Stadt der Welt. Nach Berlin strömen sie von überall, aus den preußischen
Provinzen Schlesien und Sachsen, die Ammen aus dem Spreewald, die Künstler aus den anderen Städten des Reiches. Als unbestrittenes wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Kaiserr eichs
hat sich die Metropole schon vor dem Ersten Weltkrieg von ihren Provinzen gelöst und ein Eigenleben entwickelt, das sich mehr an London und Paris orientierte als an Eberswalde oder Cottbus.

Sprichwörtlich für die Weltstadt Berlin waren die Goldenen Zwanziger, aber auch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die den Hass der Provinz auf die Metropole schürte. Der Aufstieg Berlins war gleichbedeutend mit dem Bedeutungsverlust der Mark. Erst mit Theodor Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" gelingt es, beide Lebenswelten wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Fontanes Reisebilder und Geschichtslektionen machen die bis dahin eher als Einöde empfundene Mark zu dem, was sie uns noch heute ist – eine zauberhafte Landschaft aus Flüssen, Seen und Wäldern sowie eine Geschichtslandschaft, deren Schlösser, Herrenhäuser,
Klöster und Kirchen zu unserem kulturellen Erbe gehören.

Je mehr Berlin zum "Moloch" wurde, desto mehr sehnten sich die Berliner nach der Natur. Namentlich die Entwicklung der Eisenbahn ermöglichte es den Großstädtern, die nähere Umgebung
zu erkunden, ruft Günter de Bruyn in seiner Liebeserklärung "Mein Brandenburg" in Erinnerung: Man brauchte nun nicht mehr, "wie einst Tieck und Wackenroder, in wochenlangen Fußmärschen
nach Franken zu wandern. Man konnte, wenn man den Sonntagmorgen zum Aufbruch wählte, in Küstrin oder Rheinsberg zu Mittag essen und abends, mit Natureindrücken und patriotischer Bildung beladen, wieder zu Hause sein". Nicht mehr Italien und die "Grand Tour" standen im 19. Jahrhundert auf der Agenda der Touristen, auch nicht mehr nur Alpen und Gebirgstäler, sondern auch der Ausflug ins Grüne.

Fortan versorgte Berlin die Mark mit Touristen, und die Mark versorgte Berlin mit Nahrungsmitteln, Baustoffen und Arbeitskräften, schreibt Andreas Bernhard, der Kurator der Ausstellung "Mark und Metropole" in seinem Beitrag. Ein stofflicher Ausgleich, der nach dem Sieg der Provinz über die Metropole unter den Nazis und den Jahrzehnten der Teilung auch heute wieder an Dynamik gewinnt.

3.
Das Beispiel Fontanes zeigt, dass es vor allem Schriftsteller und Künstler waren, die den Dialog zwischen Provinz und Metropole suchten, weil ihre Sympathie beidem galt: "Weltenstadt und
Weltenraum" (Eva Strittmatter). Das eine, das zeigen auch ihre Biografien, wäre ohne das andere nicht vorstellbar. Gleiches gilt für Baukunst und Architektur. Waren Schlüter, Knobelsdorff und Schinkel berlinischeund märkische Baumeister, weil ihre Auftraggeber, die preußischen Könige, ihren Sitz in Berlin und Potsdam hatten, erwarben sich die Architekten im 19. und 20. Jahrhundert, wie Simone Hain zeigt, ihre ersten Meriten vor allem in der Provinz. Hans Poelzig zum Beispiel
feierte seine ersten Erfolge in Breslau, bevor er nach Berlin kam. Bruno Taut, geboren in Königsberg, erwarb sich erstes Ansehen in Magdeburg, bevor er zum Klassiker der Moderne in Berlin wurde. Die Provinz hat nicht nur Karrieren zerstört, sie hat sie auch hervorgebracht.

Die Synthese von Provinz und Metropole in den Biografien von Berlinern und Märkern war immer auch ein Korrektiv für einen allzu hochnäsigen Umgang der Städter mit dem flachen Land wie auch dem Neid der Provinz auf die Stadt. Ganz selbstverständlich aber war dieses Doppelleben nicht, wie eine Mahnung von Kurt Tucholsky zeigt. In seinem berühmten Aufsatz "Berlin und die Provinz" schrieb er: "Berlin (…) überschätzt sich maßlos, wenn es glaubt, es sei Kern und Herz des Landes." Tucholskys Plädoyer lautet daher: "Berlin hat eine Schuld an der Provinz – wir sollten ans Werk gehen." Sein Rat: "Die jungen Leute der deutschen Linken, die in Berlin wohnen, sollten viel mehr in die Provinz fahren, als sie es heute tun. Sie sollten fahren: als Lernende, nicht als Belehrende; als Nehmende und als Gebende, ohne Großstadt-Hochmut, als gute Kameraden."

Zumindest die jüngeren unter den zeitgenössischen Autoren nehmen diese Mahnung ernst, wie der Beitrag von Gerrit Bartels zeigt. Neben Berlin hat sich auch Brandenburg wieder als Literaturort
und literarisches Sujet etabliert.

4.
Beides, Metropole und Provinz, zusammen zu denken und zu leben, ist das Privileg ihrer Pioniere – und es ist das große Versäumnis der Politik. Nicht erst seit dem Scheitern der Länderfusion zwischen Brandenburg und Berlin arbeiteten die Eliten beider Länder nicht selten gegen- statt miteinander. Das hatte zum Ergebnis, dass die Politik und die ihr unterstellte Raumordnung nicht selten den Realitäten hinterherlaufen. Heute wie damals. Fast schon Legende für dieses Wettrennen zwischen Igel und Hase war der Versuch, im Großraum Berlin eine Verwaltungsstruktur zu schaffen, die es ermöglichte, das rasche Wachstum der Metropole über ihre administrativen Grenzen hinweg in geordnete Bahnen zu lenken. Ein erster Versuch dieses raumordnungspolitischen Ausgleichs zwischen Berlin und seinem Umland war Ende des 19. Jahrhunderts kläglich gescheitert.

So wehrte sich Berlin gegen die Eingemeindung der armen Städte im Osten wie zum Beispiel Lichtenberg, wohingegen sich die reichen Städte wie Charlottenburg, Wilmersdorf, Steglitz und Schöneberg der Einverleibung ins "arme" und "rote" Berlin widersetzten. Statt der von Stadt- und Regionalplanern geforderten Einheitsgemeinde gab es vor dem Ersten Weltkrieg nur einen losen Zweckverband. Und selbst der stieß auf erbitterte Gegenwehr, wie das Beispiel Spandau zeigte. In der "Metropole" des Osthavellandes kursierte lange Zeit der Slogan: "Möge schützen uns des Kaisers Hand vor Großberlin und Zweckverband."

So blieb die Metropole, die sich weit über die administrative Stadtgrenze erstreckte, in einem "Verwaltungsdilemma", wie es der Historiker Wolfgang Ribbe nennt. Die Kleinstaaterei lebte im Nebeneinander Berlins mit seinen Nachbarkommunen in der Provinz Brandenburg weiter. Alle Versuche, das Wachstum der Stadt mithilfe einer abgestimmten Stadt- und Regionalplanung in den Griff zu bekommen, waren bis zum Ersten Weltkrieg gescheitert. Erst 1920 wurde mit dem Gesetz über die Bildung von Großberlin ein einheitlicher Verwaltungsraum für Stadt-, Verkehrs- und Freiflächenplaner geschaffen.

Lange währte das Glück freilich nicht. Die Zäsur von 1933/1945 bedeutete nicht nur das Ende der Metropole Berlin. Sie markierte auch einen Abbruch der historisch gewachsenen Beziehungen der Stadt zu ihrem Umland. Was nun folgte, sucht auch im europäischen Maßstab seinesgleichen: die Aufteilung Berlins in Besatzungszonen, die Übertragung der Souveränität auf den Alliierten Kontrollrat, die Gründung der beiden deutschen Staaten, der Bau der Mauer und die Teilung der Stadt. Nur noch aus der Vogelperspektive war Berlin eine europäische Großstadt. Politisch, wirtschaftlich, kulturell und auch räumlich war es aufgeteilt und zerlegt.

Als am 9. November 1989 die Mauer fiel und das Ende der Teilung Deutschlands besiegelt wurde, traf diese neuerliche Zäsur einen Stadtraum, an dem die Tendenzen der vergangenen Dekaden – räumlicher Ausgleich, Angleichung der Lebensverhältnisse von Stadt und Land – vorbeigegangen waren. Nun sollte wieder zusammenwachsen, was fast 50 Jahre nicht mehr zusammengehört hatte. Aber auch in der jüngeren Vergangenheit zeigte sich das Dilemma der Politik. Um die Brandenburger Peripherie nach der Wende gegenüber der Sogkraft des wiedervereinigten Berlin zu stärken, hob Potsdam das Leitbild der "dezentralen Konzentration" aus der Taufe.

Die Konzentrierung öffentlicher Mittel und Infrastrukturausgaben auf einen äußeren Städtekranz (Frankfurt (Oder), Cottbus, Brandenburg an der Havel, Neuruppin, Eberswalde, brachte aber nicht das gewünschte Ergebnis – der Speckgürtel rund um Berlin wuchs weiter, der sogenannte "äußere Verflechtungsraum" erlebte einen weiteren, teilweise dramatischen Bevölkerungs- und Bedeutungsverlust. Zwar hat die Landesregierung inzwischen die Konsequenzen gezogen und versucht nun mit dem Leitbild "Metropolregion Berlin-Brandenburg" die "Stärken zu stärken". Für die Berlin-ferne ›Provinz‹ bleibt die Lage aber dramatisch. Ob der erstmals in die Landesentwicklungsplanung gebrachte Terminus der "Kulturlandschaft" Abhilfe schaffen kann,
ist umstritten. Die Kontroverse darüber wird auch in diesem Buch geführt – zwischen Frank Segebade von der Gemeinsamen Landesplanung Berlin-Brandenburg und dem Soziologen Thomas Strittmatter. Worüber in der Landesentwicklungsplanung noch nicht gesprochen wird, ist die Frage nach einer flächendeckenden Versorgung mit schnellem Internet. Dass der Anschluss der Peripherie an die Datenautobahn auch neue Möglichkeiten der Teilhabe hervorbringt, zeigt Anne Haeming in ihrem Beitrag auch am Beispiel Estlands.

5.
Homestories wie die über Berlin als "Großstadt ohne Größenwahn" gab es in der Vergangenheit nicht nur über Berlin, sondern auch über die es umgebende "Provinz". Diese Berichte über die Uckermark, die Lausitz oder die Prignitz fielen allerdings weitaus weniger optimistisch aus. Am 20. Oktober 2003 zitierte wiederum das Nachrichtenmagazin Der Spiegel den Soziologen Ulf Matthiesen. "Dass die dümmsten Rekruten des Landes aus dem Osten kommen, ist für Ulf Matthiesen, Professor am Brandenburger Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung,
die logische Folge jahrelanger Ost-West-Wanderung. (...) Halte dieser 'brain drain' an, so der aus Hamburg stammende Forscher, bestehe die Gefahr, dass künftig einige Kommunen Brandenburgs hauptsächlich von 'arbeitslosen Stadtdeppen ohne Chance auf Paarbeziehungen' bevölkert würden."

Arbeitslose Stadtdeppen in Brandenburg kontra neue Urbaniten in Berlin – da tauchte es wieder auf, dieses Fremdeln zwischen Provinz und Metropole. Für Ulf Matthiesen war die schonungslose Analyse der Folgen von Schrumpfung und Abwanderung aber die Voraussetzung, über jene Gegenbewegung nachzudenken, die das Land tatsächlich zum Labor für neue Lebensentwürfe und regionale Identitäten macht. So entstand das Konzept des "Raumpioniers", das in Brandenburg seitdem nicht minder diskutiert wird als das böse Wort von den "arbeitslosen Stadtdeppen".

Gleichwohl knüpfen diese Künstler, Enthusiasten und Pioniere derzeit ein neues Netz zwischen Stadt und Land und schlagen damit ein neues Kapitel zwischen Provinz und Metropole auf. Sie sind die neuen Botschafter der Metropole in der Provinz und zugleich Botschafter der Provinz in der Metropole. Die Bibliotheksund Institutsgründer, die Kulturmenschen und Filmemacher, die Musiker und Unternehmer, die in diesem Buch porträtiert werden, stehen damit in der Tradition all jener Künstler und Enthusiasten, die bereits im 19. Jahrhundert Mark und Metropole nicht als Gegensatz sahen, sondern als Bereicherung der eigenen Möglichkeiten.

Vor allem aber zeigen sie in ihrer Praxis, dass Provinz und Metropole in Brandenburg und Berlin längst nicht mehr Begriffe sind, die es nur im Singular zu verwenden gilt. Längst sind auch in der Mark neue Metropolen entstanden – keine "Mutterstädte" im griechischen Sinne des Wortes, wohl aber Orte experimentellen Denkens und Handelns, auf die zu schauen sich lohnt. So löst sich das Fremdeln in Brandenburg und Berlin langsam auf. Aus Stadt und Land wird eine Region.

Erschienen in: Kulturland Bradenburg: Stoffwechsel. Brandenburg und Berlin in Bewegung. Leipzig 2008

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