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DRUCKVERSION Touristen und Terroristen
Eine Reise entlang der Memel

von UWE RADA

"Ein Radweg, direkt am Ufer des Nemunas, einfach toll." Begeistert und auch etwas erstaunt kommen wir bei Kristina Vanciene an. Die ehemalige Deutschlehrerin, die im litauischen Memelstädtchen Jurbarkas einige Zimmer mit Blick auf den Fluss vermietet, lächelt vielsagend. "Die Leute hier haben mich für verrückt gehalten, und nun staunen sie, wie viel auf dem Radweg los ist." Es war Kristina Vanciene, die den Neubau des zehn Kilometer langen Radwegs zwischen Skirsnemune und Jurbarkas im Stadtrat von Jurbarkas durchgesetzt hat. "Sanfter Tourismus", ist sie überzeugt, "ist nicht nur ein Thema für Deutschland, sondern auch in Litauen."

Reisen auf und an Flüssen ist Mode. Flusskreuzfahrten haben ebenso Konjunktur wie Radtouren entlang der Donau, der Elbe oder auf dem Oder-Neiße-Radweg. In den unübersichtlichen Zeiten von Globalisierung und Bindestrich-Identitäten bieten die Flüsse offenbar jenes Maß an Orientierung, das im Alltag verloren gegangen ist. Flüsse haben einen Anfang und ein Ende, wer sich an die Uferwege hält, kann nicht auf Abwege geraten, die Wege, die wir befahren, sind älter als wir selbst, schließlich hat sich der Fluss seinen Lauf schon vor Tausenden von Jahren gebahnt. Nicht zuletzt bieten Flüsse auch jenen Moment des Innehaltens, den wir sonst so sehr vermissen: Wir schauen zurück auf das, was war, und voller Hoffnung und mit ein bisschen Ehrfurcht blicken wir auf das, was uns noch bevorsteht. Reisen an Flüssen ist ein besonderes Erlebnis von Raum und Zeit.

Die Etappe nach Jurbarkas begann in Kaunas. 350 Kilometer hatten wir bereits hinter uns - mit ihnen Druskininkai, den Kurort, der wieder an seine goldene Zeit aus der Vorkriegszeit anknüpft; die Burgberge von Liskiava und Merkine, von denen sich herrliche Blicke auf die Memel bieten, die in Litauen Nemunas heißt; die Memelschleifen in Birstonas, ein natürliches Flusstal, das sich bis zum künstlich aufgestauten Kaunassee zieht. Ganz anders dagegen der neunzig Kilometer lange Abschnitt von Kaunas nach Jurbarkas: Auf dem letzten Weg des Stroms bis zur Mündung ins Kurische Haff geht es nun geradewegs nach Westen. Breit und träge schieben sich die Wasser durch das Tal mit den Steilufern, auf den Hügeln zeugen Burgen von den Zeiten, als die Memel noch kein Ziel von Touristen war, sondern eine hart umkämpfte Grenze zwischen dem Deutschen Orden und den Litauern.

"Wir nennen die Straße zwischen Kaunas und Jurbarkas die Straße der Burgen oder die Straße des Kampfes", hatte uns unterwegs Loreta Cikaite erzählt. In Veliuona, einem kleinen Dorf an der Memellandstraße 141, hat Cikaite ein kleines Museum aufgebaut. "Im 13. und 14. Jahrhundert fiel der deutsche Ritterorden mehr als dreihundert Mal in Litauen ein, um den unbelehrbaren Heiden den Garaus zu machen. Selbst als sich der litauische Großfürst Jogailla im Jahre 1387 zum Christentum bekannte und nach der Heirat mit der Krakauer Königstochter Jadwiga zum König von Polen gekrönt wurde, ging das Gemetzel weiter. Ein Ende fand es erst nach der Niederlage der Deutschritter bei Tannenberg 1410 und dem 12 Jahre später folgenden Friedenschluss." Dazwischen lag, wie es der litauische Historiker Tomas Baranauskas formuliert, "einer der am längsten währenden Kriege in der Geschichte Europas".

Veliuona, das malerisch gelegene Dorf am rechten Memelufer, war mitten drin im Geschehen, freute sich Museumsdirektorin Cikaite. Weil Veliuona die größte Burg der Litauer war, zog sie die meisten Angriffe der Ordensritter auf sich. Hier soll auch der litauische Großfürst Gediminas, bekannt als Gründer der litauischen Hauptstadt Vilnius, im Kampf mit dem Deutschen Orden gefallen sein. "Ihm zu Gedenken", schloss Loreta Cikaite ihre Geschichtslektion, "wurde in Veliuona ein Denkmal errichtet."

Der Abstieg vom Steilufer hinab zum Fluss war ein Moment der Stille. Der Blick auf die Memel war atemberaubend - und machte zugleich nachdenklich. Lange, bevor Deutsche und Litauer seine Ufer mit Blut tränkten, war der Strom an diesem Ort vorbeigeflossen, und er wird hier auch noch sein, wenn dieser Landstrich längst entvölkert ist, weil neue Wanderungen Europas Karten neu mischen werden. Aber ist das nicht gerade das Besondere an den Flüssen? Behaupten sie nicht auch die Bedeutung der Geografie gegenüber der Geschichte? Unabhängig vom Lauf der Zeit und dem Wechsel der Herrscher verbinden sie mit ihren Wassern jene Städte und Regionen, die von ihnen geprägt wurden und werden. Mögen die Burgen auch weit über dem Flusstal thronen - ein bisschen steht die Memel auch über der Geschichte.

Am nächsten Morgen zeigt uns Kristina Vanciene eine Broschüre. "Nemunas Cycle Route Guide" ist ein litauisch- und englischsprachiger Radwanderführer, der mehrere Radwege zwischen Kaunas und Jurbarkas zusammenfasst. Herausgegeben wurde der Radwanderführer von mehreren kommunalen Tourismusverbänden an der Strecke. Reisen in Litauen, das ist nicht mehr nur die barocke Altstadt von Vilnius oder die Düne auf der Kurischen Nehrung, an deren Fuß sich Thomas Mann einst ein Sommerhaus bauen ließ. Auch der Nemunas, der Vater aller litauischen Flüsse, wird wieder entdeckt, und das ist kein Winder. Von den 937 Kilometern, die der Strom von seiner Quelle südwestlich der belarussischen Haupstadt Minsk bis zur Mündung ins Haff zurücklegt, fließt er 475 Kilometer auf litauischem Territorium. Sein Einzugsgebiet, zu dem auch das an der Neris gelegene Vilnius gehört, umfasst sage und schreibe 72 Prozent des Landes. Seit dem Jahre 2000 prangen die Memelschleifen von Birstonas auf dem 500 Litas-Schein der litauischen Nationalbank und auch die wichtigste Literaturzeitschrift trägt den Namen "Nemunas".

Doch nicht nur die Geografie Litauens beherrscht der Nemunas, sondern auch die Geschichte seit der ersten Unabhängigkeit des Landes 1918. Nach der Besetzung von Vilnius durch Polen 1920 wurde Kaunas zur provisorischen Hauptstadt des jungen Staates - und im Stil der neuen Sachlichkeit zu einer modernen Großstadt ausgebaut. Und Veliuona, die umkämpfte Burg zwischen Ordensrittern und Litauern wurde 1925 zum Schauplatz des ersten litauischen Nationalkongresses. Das 20. Jahrhundert war die Zeit des Nationalismus, und da kamen die Ströme gerade recht. Nicht nur in Litauen, auch in Ostpreußen, wo die Memel seit 1923 die Grenze zwischen dem Deutschen Reich und dem Memelland bildete, das seit dem Vertrag von Versailles dem Völkerbund unterstellt war und 1923 von Litauen besetzt wurde. Seitdem war Memel auch im Deutschen ein Kampfbegriff.

Doch die Teilung des Stroms im Sinne eines "wir" und "sie" reicht weiter zurück. Memel, das war schon im 19. Jahrhundert nur der Name für den ostpreußischen Abschnitt des Stroms. Der Oberlauf ab Schmalleningken, bis zur Unabhängigkeit Litauens 1918 russisches Territorium, wurde auch im Deutschen bei seinem slawischen Namen genannt - Njemen. Diese semantische Teilung schlug sich nieder bis in die Werke der Historiker. Der Frieden von Tilsit und der Bittgang der Königin Luise bei Napoleon fand 1807 demnach auf der Memel statt. Als die Grande Armee Napoleons fünf Jahre später zum Feldzug gegen das zaristische Russland antrat, überschritt sie bei Kaunas den Njemen. Memel und Njemen, das ist, als ob die Donau hinter Passau auch im Deutschen Dunaj, Duna oder Dunav hieße. Eine derartige Aufteilung eines Stroms in einen "eigenen" und den "fremden" war selbst im Europa des aufziehenden Nationalismus einzigartig.

In Smalininkai, der nächsten Station hinter Jurbarkas, treffen wir Justinas Stonys. Bis vor kurzem stellte der sammelwütige Rentner mit dem weißen Haarschopf in seinem "Museum des technischen Fortschritts" Pflüge, Traktoren und anderes landwirtschaftliches Gerät zur Schau. Seit 2006 hat er seine Sammlung um einen Pavillon erweitert. Dem hat er einen Namen verpasst, der auch den Heimattouristen gefällt -"Schmalleningken - das östlichste Tor des Memellandes". Zu sehen sind Fotos, Bücher und Gemälde aus jener Zeit, in der Schmalleningken eine Grenzstadt war, die weit über die Gegend hinaus bekannt war als letzter Vorposten Ostpreußens vor Russland. Justinas Stonys hat sich der Geschichte Schmalleningkens angenommen, weil sie zu Smalininkai gehört wie die Post, die Schule und der Friedhof. Auf dem, sagt er, liegen auch deutsche Gräber. "In der sowjetischen Zeit vernichtete die Ideologie alles. Jetzt wüten dort die Alkoholiker, und die Diebe stehlen alles, was aus Metall ist." Justinas Stonys dagegen will bewahren. Den technischen Fortschritt, und die Geschichte.

Justinas Stonys erinnert damit auch an etwas, das heute kaum mehr im Gedächtnis ist: Über Jahrhunderte hinweg war das Memelland eine multikulturelle Grenzlandschaft, in der Deutsche, Litauer, Juden und viele andere friedlich zusammen lebten. So fruchtbar war dieses kulturelle Miteinander, dass die Nationalisten im Reich das an der Memel gelegene Preußisch-Litauen auch als "Preußisch-Sibirien" verhöhnten.

Multikulturell ist Kleinlitauen, wie das Memelland heute heißt, nicht mehr. Und auch die Grenze zu Russland ist hermetisch abgeriegelt. Nach Tilsit, die ehemalige Hauptstadt des Memellandes, die seit 1945 den Namen Sowjetsk trägt, kommt nur, wer ein Visum für die Russische Föderation vorweisen kann. Das gleiche gilt für die Russen, die nach Litauen einreisen wollen. 65 Euro kostet das Visum, für die meisten unerschwinglich. Das gleiche Bild am Oberlauf des Stroms. Wer vom litauischen Kurort Druskininkai ins nur 40 Kilometer entfernte Grodno reisen will, braucht ein belarussisches Visum. Auch das gehört zur Reise durch Raum und Zeit an der Memel. Während an der Oder im Laufe der letzten 20 Jahre die Schlagbäume abgebaut wurden, entstehen an der Memel neue Mauern.

So endet unsere Radtour entlang der Memel beim Grenzübergang nach Sowjetsk mit einer Frage: Wer wird am Ende stärker sein? Der Fluss, der die Menschen und Regionen verbindet? Oder das Grenzregime, das sich des Flusses bemächtigt, als lebten wir immer noch im Zeitalter solch "natürlicher Grenzen"?

Schon der erste Eindruck in Sowjetsk macht optimistisch. Im kleinen Stadtmuseum ist eine Ausstellung über die preußische Königin Luise zu sehen. Mehr noch: Anlässlich der Feierlichkeiten zum 200.sten Jahrestages des Tilsiter Friedens 2007 bekam sogar die Brücke über die Memel wieder ihren alten Namen - Königin Luise-Brücke. Mit einiger Verzögerung entdeckt man auch im Kaliningrader Gebiet die Geschichte als Teil der eigenen Gegenwart und Zukunft.

Einen Radweg entlang der Memel, die nun auf russisch Neman heißt, sucht man allerdings vergeblich. Auf Weisung von Moskau wurde 2007 in ganz Russland ein Streifen von fünf Kilometern entlang der Grenzen gesperrt - als Vorsichtsmaßnahme gegen den Terrorismus. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sich auch in Russland herumgesprochen hat, dass Touristen keine Terroristen sind.

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