Uwe Rada themenfreiräumeangst vor der agora

Teaser
DRUCKVERSION Angst vor der Agora

Wo Geld und Geschichte gemeinsam zu Felde ziehen, wird es eng für die Weite. Eine Motivationsforschung am Beispiel der Berliner Mitte

von UWE RADA

In seinem Roman Wach lässt Abrecht Selge seinen Helden nachts durch die Straßen Berlins flanieren. Vorbei an Eckkneipen führt die Tour des Schlaflosen, über städtische Brachen, um zugige Ecken – und natürlich durch die Markthallen und Einkaufsstraßen. Mit Geldausgeben kennt sich August Kreutzeraus, denn am Tage ist der Romanheld Manager einer Shopping-Mall. Einmal sinniert Kreutzer: "Die Mall am Mittag eines Werktags ist eine Welt in Schieflage, wie die männerlose Welt nach einem großen Krieg." Leere Shoppingtempel, das geht so wenig wie leere Innenstädte.

Die Stadt aus der Perspektive eines Somnambulen, eine hübsche Idee. Selges Romandebüt wurde 2011 auch als eine Rückkehr des Flaneurs in die zeitgenössische Literatur gelesen. Allerdings unterscheidet sich sein Berlin recht deutlich vom dem eines Franz Hessel oder eines Walter Benjamin. Es ist nicht quirlig, lebendig und "urban", eher abseitig, mit vielen Lücken, die der Flaneur selbst zu stopfen hat. Man konsumiert dieses Selgeberlin nicht, sondern muss was daraus machen. Selge, resümierte ein Rezensent in der Zeit, zeichne die "Stadt als wildes Wagnis".

Auch Klaus Hartung ist ein Flaneur. Noch in den 1980er Jahren labte sich der Berliner Publizist an der Ästhetik der Ruinen und Brachen, die jene Freiräume hervorbrachten, von denen heute noch viel in Reiseführern steht. Nach der Wende aber verließ ihn der Mut zur Lücke. "Als ich nach dem Mauerfall zum ersten Mal wieder vor der Marienkirche stand, empfand ich einen Phantomschmerz. Das ist die Mitte Berlins, dachte ich, und diese Mitte mit ihrer Geschichte gibt es nicht mehr."

Seitdem will Hartung die Lücke stopfen. Vor allem auf dem großen Freiraum zwischen Fernsehturm und Spree sieht er Handlungsbedarf. "In jeder europäischen Stadt ist die Altstadt das prägende Moment der Stadtidentität", schreibt Hartung, der sich vehement für eine Wiederbebauung auf den Grundrissen der alten Stadt einsetzt. "Die jetzige Generation entscheidet, ob die Erinnerung an die Geschichte völlig verschwindet oder ob die Geschichte wieder erlebbar wird."

Berlin, da hat Hartung recht, ist reich an Verlusten. Aber ist jede vom Krieg geschlagene Wunde eine Leerstelle, zumal, wenn sie danach mit den Mitteln der Moderne repariert wurde? Muss dieser ersten Reparatur im Namen der Zukunft nun eine neue im Namen der Geschichte folgen – nur, weil uns an diesem Ort ein Horror Vacui anweht, weil wir die Weite mitten in der Stadt nicht aushalten?

Für Harald Bodenschatz geht es nicht nur um das Rathausforum zwischen Fernsehturm und Spree, Rotem Rathaus und Marienkirche. Dem Architektursoziologen, der sich auch als Emeritus noch mit Verve in die Debatten der Stadt einmischt, geht es um die gesamte Berliner Mitte, und die reicht vom neuen Humboldtforum zum Alexanderplatz, vom Mühlendamm zum Molkenmarkt. Für diese Mitte, ist Bodenschatz überzeugt, braucht es ein Gesamtkonzept.

Worin aber sollte dieses Konzept bestehen? Für Bodenschatz sind es vor allem zwei Themen. Einmal die Geschichte dieser Mitte, die von den "bescheidenen bürgerlichen Anfängen" über die absolutistische Geschichte bis zur Geschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik reicht. Sein zweites Thema ist die Überwindung der autogerechten Stadt. Diese entstand erst in der jüngsten Etappe der Mitte-Geschichte, als zunächst die Nationalsozialisten und später die DDR die Mitte radikal umbauten, so der Architekturhistoriker. "Erst jetzt entstanden die vielen Freiräume und Brachen (…). Und erst in dieser Zeit wurde die Mitte radikal autogerecht umgebaut." Für Bodenschatz gibt es an dieser Stelle also keinen Horror Vacui, sondern eher einen Horror Urbis.

Anders als Bodenschatz fühlt Leonie Baumann keinen Schrecken der Stadt, wenn sie auf das Areal rund um den Fernsehturm schaut. "Hier wieder das alte Berlin inszenieren zu wollen, finde ich gruselig", sagt die Rektorin der Weißensee Kunsthochschule Berlin. "Offenbar soll hier eine Schicht der Berliner Geschichte wegradiert werden, die nicht mehr genehm ist."

Baumanns Kritik steht auch für die Frage, welche Epoche der Geschichte man jenen Räumen der Stadt zugrunde legen soll, bei denen es Kontroversen um die städtebauliche Zukunft gibt. Sind es die 600 Jahre Geschichte der Bürgerstadt, von denen Bodenschatz redet? Oder ist es die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Baumann meint? Und noch etwas steht zur Debatte, wenn es um den Umgang mit solchen Räumen geht: Lässt sich Stadt überhaupt reparieren? Und wäre eine solche Reparatur tatsächlich ein Garant dafür, dass die Geschichte der Stadt wieder erkennbar wird?

Baumann sagt, es käme in der Stadtentwicklung weniger auf das Bauen, denn auf die Nutzung an. "Ich sehe am Fernsehturm jedenfalls keine Leere, die es zu verbannen gilt", betont sie. "Der Platz ist voller Menschen. Es ist grün." Die geplante Bebauung wertet sie auch als Versuch, die DDR-Architektur und mit ihr "einen anderen Umgang mit Raum" loszuwerden. "Hier gehen Geschichte und Geld eine Liaison ein, um aus einem nichtkommerziellen Ort wieder einen kommerziellen Ort zu machen."

Vielleicht gilt das auch für das Tempelhofer Feld. Das 360 Hektar große ehemalige Flugfeld ist längst zum Symbol für eine ungebändigte, anarchische, aber gleichwohl disziplinierte Nutzung von Freiräumen geworden. Auf den Wiesen und Rollbahnen des ehemaligen Flughafens zeigt sich Berlin in einer Heterogenität, die vielen Quartieren längst abhandengekommen ist. Wie wichtig den Berlinerinnen und Berliner ein solcher öffentlicher Ort ist, zeigte der Volksentscheid vom Mai 2014. Über 60 Prozent stimmten gegen eine Bebauung des Tempelhofer Feldes. Auch dort stand, wie in der Berliner Mitte, die Frage zur Debatte, ob der große Freiraum künftig öffentlich oder privat genutzt werden sollte. Der Unterschied war nur der, dass die Gegner einer Bebauung nicht als geschichtslos diffamiert werden konnten. Sie selbst waren es, die dafür plädierten, die Reste der ehemaligen Zwangsarbeiterlager wieder kenntlich zu machen.

Es macht also durchaus Sinn, die Rolle des Faktors Geschichte in der Stadtentwicklung und den kontroversen Debatten um die Zukunft Berlins kritisch zu hinterfragen. Geschichte wird, wie bei Hartung und Bodenschatz, immer dann ins Spiel gebracht, wenn es um verlorene Geschichte, und damit auch um verlorene Identitäten geht. Eine kritische Rekonstruktion, lautet die übliche Antwort, mache den Verlust an Geschichte und Identität wett und gebe uns die Stadt zurück. Genausogut aber ist es möglich, dass der "Neubau der Vergangenheit" als Shopping-Mall inszeniert wird, als privater, kommerzieller Raum, der eher die Touristen und Touristinnen entzückt – und weniger die Menschen, die in der Stadt wohnen. Es sei denn, und dafür plädiert Hartung, wer baut, würde das Gebaute auch selbst nutzen.. Nicht wer investiert, sollte von der Wiedergewinnung der Altstadt profitieren, sondern die Stadtgesellschaft. Die Altstadt wäre dann eine Neuerfindung der verlorenen Bürgerstadt mit modernen Mitteln.

Es gibt freilich gute Gründe an dieser Vision zu zweifeln. Und auch eine spannungsreiche Mischung aus historischer Hülle und der Thematisierung von Zukunftsfragen, wie sie sich am Humboldt-Forum abzeichnet, ist in der Berliner Mitte nicht zu erwarten, weil schlicht das Geld fehlt. Statt also Geld und Geschichte, diese neue Währung der Urbanisierung (ge-)währen zu lassen, könnte man auch auf Gegenwart und Gesellschaft setzen. Warum sollte die Stadt sich nicht auf großen Freiräumen begegnen und mit sich selbst ins Gespräch kommen? Warum keine Agora? Warum stattdessen Agoraphobie? Projiziert hier eine Gesellschaft mit ihren alternden Vordenkern die fehlende Balance im eigenen Seelenhaushalt auf die Stadt und ihre Mitte?

Einen viel weiteren Blick auf Berlin leistet sich der Schauspieler und Autor Hanns Zischler. Auch Zischler ist ein Flaneur. Seine oft eigenwilligen Beobachtungen hat er in dem Buch Berlin ist zu groß für Berlin notiert. "Ich glaube nicht, dass es eine große Sehnsucht nach der Mitte in Berlin gibt", schreibt er und erinnert daran, dass Berlin schon immer eine polyzentrale Stadt gewesen sei. "Das ist auch in Zukunft die Chance der Stadt", ist Zischler überzeugt. Ganz folgerichtig spielt die ehemalige Altstadt in seinem Buch keine Rolle, wohl aber die anderen Orte, über die in der Vergangenheit immer wieder der Stab des "leeren Ortes" und der "Wüste" gebrochen wurde, wie das Berliner Kulturforum, das er vor allem wegen seiner Kappung der Alten Potsdamer Straße kritisiert.

"Scharoun hatte den Bau seiner Staatsbibliothek in einer imposant-erdrückenden Geste auf diese Straße gelegt und damit eine historisch und verkehrsmäßig bedeutsame Verbindung gekappt", konstatiert Zischler und spricht von der "Stadt als Sündenbock". Verstärkt wurde diese Geiselnahme der Stadt durch die Teilung noch durch die West-Berliner Autobahnplanung. Der Standort der Staatsbibliothek sollte nämlich Scharouns Kulturforum vom Lärm der Nordtangente abschirmen, die hinter der Staatsbibliothek geplant war. Der Horror Vacui, hier ist er tatsächlich mit Händen zu greifen.

Was aber tun mit einem solchen Ort, der die Stadt sowohl historisch entgrenzte als auch mit seiner Idee der Stadtlandschaft einen bewussten Kontrapunkt setzte zur dicht bebauten Stadt des 19. Jahrhunderts, die keine Leere kannte, sondern nur Plätze, Kreuzungen und Parks?

Zischler selbst hegte große Sympathien für einen Entwurf von Álvaro Siza. Der portugiesische Architekt schlug vor, den Autoverkehr radikal aus dem Kulturforum zu verbannen und so dem Horror Vacui mit der Abwesenheit motorisierten Verkehrs zu begegnen. Das würde die Möglichkeit schaffen, dass die Stadt auch an diesem Ort endlich von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern in Besitz genommen werde.

Die Menschen – und nicht die Konsumierenden – als Antrieb der Stadtentwicklungspolitik – das ist ein sympathischer Gedanke, der so manchen Stellungskampf um den richtigen Umgang mit Geschichte und Zukunft unterlaufen könnte. Es bleibt aber auch ein schwieriger Gedanke, wie der Held in Albrecht Selges Wach erfahren muss: "August ist auf einen weitläufigen Platz geraten, er hat ihn zwar angesteuert, aber auf einen so ausgedehnten Platz kann man immer nur geraten sein, und der Platz kann noch so dichtbevölkert sein, man muss ihn immer als leergefegt empfinden, als Quadratmeileneinöde, Steppe und Rumpelkammer in einem, Gerölllandschaft aus Steinplatten, Betonebenen, verstreuten Pavillons, Brunnen, Bassins, Rampen, eingezirkeltem Grün, vor der Horizontlinie einer lang gestreckten Reihe von Wohnblöcken."


DRUCKVERSION
nach oben