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DRUCKVERSION Tiigrihüppe nach Tallsinki

Tallinn und Helsinki sind die Boomregionen der Ostsee. Eine Erkundung

von UWE RADA

High-noon im Hafen von Tallinn. Pünktlich um zwölf Uhr quält sich am Terminal D Auto um Auto zur Abfertigung auf die "Galaxy", die neueste und größte Fähre der estnischen Reederei "Tallink". Glücklich sind die, die ohne Auto auf das Riesenschiff gekommen sind. Sie haben noch Zeit, in den Boutiquen und Alkoholgeschäften ihr Schnäppchen zu machen. Tallinn, Terminal D, ist eine kleine Stadt für sich, doch imVergleich zur "Galaxy" ist es ein Dorf. Zweitausendachthundert Personen kann das 2006 in Dienst gestellte Flagschiff über den Finnischen Meerbusen bringen. Gewohnt, gearbeitet und gehandelt wird auf zwölf Etagen. Drei Stunden und fünfzehn Minuten dauert die achtzig Kilometer lange Überfahrt nach Helsinki. Die Schnellfähren der Tallink-Reederei schaffen den Sprung über den Meerbusen sogar in zwei Stunden.

Am Terminal D kann man es mit eigenen Augen sehen: Tallinn und Helsinki, die estnische und die finnische Hauptstadt, sind zu einer grenzüberschreitenden Metropolregion zusammengerückt. Nirgendwo wächst Europa schneller als hier im Norden – in Tallsinki. Anderthalb Stunden später ist es soweit. Die "Galaxy" legt ab. Langsam und mit großem Getute löst sich der wolkenweiß und meeresblau bemalte Ostseeriese vom Terminal. Noch sind die meisten Passagiere nicht in die Bars, Geschäfte und Restaurants entschwunden. Der Blick auf Tallinn von der Seeseite gilt als einer der schönsten im ganzen Baltikum. Schon das alte Reval – wie Tallinn einmal hieß – wurde vom Maler Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski 1845 aus dieser Perspektive gemalt. Wir sehen Türme, Domberg und Befestigungen, die Kulisse der alten Hansestadt, vor der die Schiffe bei rauer See in den Hafen laufen. Damals war Reval einer der wichtigsten Häfen des russischen Zarenreichs. Helsinki dagegen war vom Zaren erst dreißig Jahre zuvor in den Rang der Hauptstadt des russischen Großfürstentums Finnland erhoben worden.

Noch immer könnten die Türme, die Befestigungen und der Domberg von Tallinn nicht malerischer sein. Doch der Blick auf die touristische Kulisse täuscht. Das eigentliche Zentrum von Tallinn liegt gleich daneben – im neuen Central Business District der vierhunderttausend Einwohner zählenden Boomtown. Dort residieren die "Tallinna Pank", die estnische Börse, und Niederlassungen europäischer Konzerne. Hier arbeitet die junge Elite des Landes: Broker, die gerade von der Uni kommen, Bankdirektoren, die noch keine Dreißig sind, Konzernchefs auf der Suche nach dem nächsten Übernahmekandidaten. Viele von ihnen schauen dabei in Richtung Norden nach Finnland.

Der "Eesti Tiigrihüppe", der estnische Tigersprung in die digitale Zukunft, den der damalige Präsident Lennart Meri und Premierminister Mart Laar ihrem Volk in den neunziger Jahren verordnet haben, hat längst auch die Wirtschaft des Landes erreicht. Jüngstes Beispiel: Als die finnische Fährlinie "Silja-Lines" 2006 schwächelte, schlug die estnische "Tallink" zu. Seither heißt die Linie "Tallink-Silja". Man ist höflich zum nördlichen Nachbarn, mit dem man sich schon verbunden fühlte, als über dem estnischen Parlament noch die Sowjetfahne wehte. Schließlich verstehen sich Esten und Finnen nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell. Estland, sagt man in Tallinn, war schon immer skandinavisch.

Langsam leert sich das Oberdeck auf der "Galaxy". Wind zieht auf, eine Bö fegt die leeren Colabüchsen über die Tische. Noch vor zwanzig Jahren war eine Fährverbindung zwischen Tallinn und Helsinki undenkbar. Die estnische Sowjetrepublik und Finnland trennte ein ebenso undurchlässiger Eiserner Vorhang wie die Mauer Ost- von Westberlin. Kein europäisches Mare Nostrum war die Ostsee damals, sondern ein geteiltes Meer. Zwischen Tallinn und Helsinki lagen nicht nur achtzig Kilometer, sondern Welten. Umso erstaunlicher ist es, dass Estland schon kurz nach der Unabhängigkeit zum ersten Tigersprung ansetzte. Über Nacht wurde aus der Sowjetrepublik ein kapitalistischer Staat. Zwar haben auch Länder wie Lettland, Litauen und Polen die Lehrbücher von Karl Marx gegen die des Neoliberalen Milton Friedman ausgetauscht. Doch nur in Estland haben die Politiker aller Regierungskoalitionen auch Kurs gehalten. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Schon fünf Jahre nach dem Ende der Sowjetunion waren fünfundsiebzig Prozent der ehemaligen Staatsbetriebe privatisiert. Die estnische Krone, die 1992 den Rubel ablöste und an die D-Mark gekoppelt wurde, ist stabil. Die Wachstumsraten Estlands gehören mit bis zu zehn Prozent jährlich zur EU-Spitze. Estland, wenngleich auf niedrigem Niveau gestartet, ist tatsächlich ein Tigerstaat.

Vor allem aber ist es, wie Finnland, ein Musterland des Internet. In Estland kann man nicht nur elektronisch das Parlament wählen oder Parkuhren und Straßenbahnkarten per SMS bezahlen. Man findet in den entlegensten Regionen mit dem eigenen Notebook den Weg ins World Wide Web. Dafür sorgen die tauseneinhundert Hotspots, die etwa fünfundvierzigtausend Quadratkilometer der Landesfläche abdecken. "Wir haben den kostenlosen Zugang zum Netz zu einem Grundrecht der estnischen Bürger erklärt", freut sich Expremier Mart Laar noch heute. "In Büchereien, Schulen und anderen städtischen Einrichtungen gibt es freie Internetzugänge." Tatsächlich sind in Estland drei Viertel aller Bewohner online, bei den Zehn- bis Vierundzwanzig-Jährigen sind es sogar neunzig Prozent. Verglichen mit dem elektronischen "E-stland", wie manche schon schreiben, sind viele Regionen Deutschlands noch Entwicklungsländer. In Tallinn dagegen hat man begriffen: Für ein Land mit boomendem Zentrum und schrumpfender Peripherie ist die flächendeckende Internetversorgung ein wichtiger Schritt, um der wachsenden Ungleichheit zwischen Stadt und Land entgegenzutreten.

Kostenloses Internet gibt es auch auf der "Galaxy". Nachdem die Türme der Tallinner Altstadt außer Sicht sind, steht vielen Fahrgästen der Sinn aber nach anderem: Eines nämlich unterscheidet Tallinn noch immer vom benachbarten Helsinki – die Alkoholpreise. Vor allem an den Wochenenden setzen die Finnen in Scharen über die Ostsee. Nicht überall in Tallinn freut man sich über die Alkoholtouristen. Noch größer ist der Katzenjammer aber, wenn sie ausbleiben. Das war der Fall, als die estnische Regierung nach den Unruhen wegen der Umbettung des sowjetischen Siegesdenkmals ein Alkoholverbot über Tallinn verhängt hatte. Allein im Mai 2007, bilanzierte die Baltic Times wenig später, kamen mehr als zehn Prozent weniger Finnen nach Tallinn.

Entgegen den Erzählungen, die uns kundige Grenzgänger mitgegeben hatten, geht es in den Geschäften auf "Galaxy"-City gesittet zu. Keine Schnapsleichen zwischen den Stiegen mit Büchsenbier, keine Schwankungen, die zu denen der Großfähre hinzukommen. Eher scheint es, als würde mancher Vorräte fürs Alkoholteuerland Finnland und die dunklen Wintermonate anlegen. Kauft man bei uns zuhause einen Sixpack, gibt es auf der "Galaxy" Kartons mit vierundzwanzig Dosen, transportierbar auf eigens angebrachten Rollen. Das ist ebenfalls wirtschaftlicher Erfindergeist à la Tallsinki.

Mittlerweile hat man auch in Brüssel erkannt, welche Wucht in dem wirtschaftlichen Aufschwung am Finnischen Meerbusen steckt. Natürlich, die größte Stadt an der Meerenge zwischen Estland, Finnland und Russland ist und bleibt die Fünf-Millionen-Metropole Sankt Petersburg. Doch Petersburg ist trotz seines gigantischen Hafens eher eine russische denn eine baltische Metropole. ur etwa ein Fünftel seines Handels wickelt Russland via Petersburg mit den anderen neun Ostseeländern ab, in denen hundertfünfzig Millionen der insgesamt vierhundertfünfzig Millionen EU-Bürger wohnen. In Estland, Lettland und Litauen sind es dagegen sechzig Prozent. Kein Wunder also, dass Tallsinki, noch vor Malmö und Kopenhagen am Öresund die inzwischen am schnellsten wachsende Metropolregion in ganz Europa ist.

Doch in Brüssel schaut man nicht nur mit einem lachenden Auge auf die Region. Sorge bereitet der EU-Kommission, dass der Aufschwung vor allem in den Städten stattfindet. Auch im Baltikum wächst der Unterschied zwischen Stadt und Land. Vor allem seit dem Beitritt Estlands, Lettlands und Litauens zur EU haben Hunderttausende ihre Heimat in Richtung Westen verlassen. Ein Ende der Abwanderung ist nicht abzusehen. "Das Baltikum gehört nicht nur zu den am schnellsten wachsenden, sondern auch zu den am stärksten schrumpfenden Regionen Europas", sagt Thomas Straubhaar vom Hamburger Institut für Weltwirtschaft. So werden Estland, Lettland und Litauen nicht nur, was das Internet betrifft, zu Versuchslaboren für den Umgang mit regionalen Ungleichheiten im zusammenwachsenden Europa. Geprobt wird hier auch, welche Standards im ländlichen Raum notwendig sind, und auf welche man verzichten kann.

In einer der Bars auf der "Galaxy" findet ein Karaoke-Wettbewerb statt. Der Sound ist vorgegeben, der Gesang die Zugabe. Es sind nur wenige, die sich auf der Bühne versuchen, die üblichen Selbstdarsteller. Die meisten sind ohnehin wieder aufs Oberdeck gegangen. Es ist Land in Sicht, Finnland, oder besser das, was ihm vorgelagert ist – die Schären. Gleich werden wir Helsinki sehen, die finnische Hauptstadt, die "weiße Stadt im Norden". Eine Metropole, die so gar nicht zur seelischen Tristesse passen will, die ihr der Regisseur Aki Kaurismäki in seinem Helsinki-Film "Lichter der Vorstadt" verpasst hat.

Verglichen mit Tallinn ist Helsinki eine junge Stadt. Als der russische Zar 1812 beschloss, die Hauptstadt des Großfürstentums Finnland von Turku ins näher an Petersburg gelegene Helsinki zu verlegen, zählte die Stadt gerade einmal viertausend Einwohner. Doch dann ging alles ganz schnell. Ein deutscher Architekt, Carl Ludwig Engel, bekam den Auftrag, aus der verschlafenen Kleinstadt eine repräsentative Hauptstadt zu machen. So entstand zwischen dem Parlamentsgebäude und dem Alten Hafen die klassizistische Stadt mit ihren schachbrettartigen Straßenzügen. Sankt Petersburg ließ grüßen.

Heute, knapp zweihundert Jahre nach der ersten Hauptstadtwerdung, hat Helsinki fünfhundertfünfzigtausend Einwohner. Ein Zehntel ist erst in den letzten Jahren zugezogen. Auch im einstigen Holz- und Papierland Finnland drängt es die Menschen in die Hauptstadt. Lebten 1950 erst elf Prozent der Finnen in und um Helsinki, ist es nun schon jeder vierte Einwohner des Landes. Längst hat Finnland sein Hinterwäldlerimage abgestreift. Der Großraum Helsinki mit seinen 1,2 Millionen Bewohnern ist dank seiner Forschungs- und Bildungslandschaft von der EU unlängst sogar zur "innovativsten Region Europas" gekürt worden. Fast scheint es uns, als lägen zwischen dem Tigerstaat Estland und dem modernen Helsinki keine achtzig Kilometer, sondern nur ein paar Brückenpfeiler. Vielleicht verläuft in Zukunft die Grenze tatsächlich nicht mehr zwischen Estland und Finnland, sondern zwischen ihren Metropolen und dem abgehängten Rest?

Großes Getute auch im Hafen von Helsinki. So mächtig ist die "Galaxy", dass sie nicht an die Kais am traditionellen Olympiaterminaali im Alten Hafen passt. Stattdessen muss sie im Industriehafen der Hauptstadt anlegen. Ein Glück, wie sich bald herausstellt. Als uns die Fähre nach langem Warten und Gedränge an Land entlässt, liegt uns Ruoholahti zu Füßen. Seit den neunziger Jahren ist aus dem ehemaligen Hafenviertel ein modernes Wohn- und Dienstleistungsquartier für zweiundzwanzigtausend Menschen geworden. Kein gesichtsloses Stadtumbauprojekt wie in vielen anderen Städten Europas, sondern voller Leben. In Ruoholahti hat man ernst gemacht mit der Mischung aus Wohnen, Arbeiten und Vergnügen. Denn das ist das Erfolgsgeheimnis des zweiten Tigerstaates am Finnischen Meerbusen: Skandinavische Wohlfahrtstradition wird mit osteuropäischer Risikofreude gepaart.Selbst im benachbarten Schweden, dem Finnland über Jahrhunderte als Hinterland diente, schaut man inzwischen voller Neid auf Helsinki.

Und noch etwas sehen wir, als wir aus der "Galaxy" geradewegs in das nächstbeste Café steigen. Mit Ruoholahti ist Helsinki ein Stück weiter ans Wasser herangerückt, an die Ostsee, die vielen Menschen im Norden das Versprechen eines besseren Lebens bedeutet. So wie es den estnischen Tigersprung nach Tallsinki gibt, gibt es den finnischen Sprung in die gemeinsame Zukunft.

Abends beim Wein malen wir sie uns aus, die Doppelstadt, die der Finnische Meerbusen verbindet. Wem der Sinn nach großzügig angelegten Straßen und Plätzen steht, flaniert rund um das "Weiße Haus" in Helsinki, rustikale Gemütlichkeit findet man dagegen in den Kneipen der Tallinner Altstadt. Wo was los ist, kann man auf den Videoscreens am Terminal D oder am Olympiaterminaali erfahren. Manches Spektakel wird man live von einem Teil in den anderen übertragen. Zu den Olympischen Spielen, um die sich der Finnische Meerbusen erfolgreich beworben hat, wird ein Tunnel unter der Ostsee gebaut. Bis dahin verkehrt noch ein Hubschraubershuttle, der die Broker, Bankdirektoren und Konzernchefs in achtzehn Minuten auf die andere Seite bringt. Das schönste aber an Tallsinki ist: Hier werden alle wichtigen Sprachen Europas gesprochen und verstanden – estnisch und finnisch, englisch und russisch. Selbst in Sankt Petersburg werden inzwischen Stimmen laut, die eine engere Kooperation mit der Nachbarstadt am Meerbusen fordern.

Nur eines suchen wir in Helsinki vergebens, als wir am nächsten Morgen aufwachen: Touristen aus Estland. Ein Blick auf die Rechnung des Hotels und der Hotelbar zeigt uns, warum. Die europäische Zukunft im Norden ist nicht nur schön, in Helsinki ist sie auch teuer.

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