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DRUCKVERSION Von Swinemünde nach Kolberg

Die polnische Ostseeküste bringt verschiedene Bilder hervor. Die berühmtesten von ihnen stammen von Lyonel Feininger

von UWE RADA

Einer der prominentesten Gäste kam aus Dessau. Im Sommer 1928 machte sich der Maler Lyonel Feininger auf von der Bauhaus-Stadt, in der er den Luxus eines Meisters ohne Lehrverpflichtung genoss, an die Ostseeküste ins Seebad Deep. Angetan hatte es ihm aber ein Ort, der schon damals ein Mythos war — Hoff und seine Kirchenruine an der Steilküste. Als die Kirche im 16. Jahrhundert errichtet wurde, lag sie zwei Kilometer von der Küste entfernt. Doch 300 Jahre später hatte sich die See so viel von der Küste geholt, dass die Kirche von Hoff direkt am Abgrund stand.

Namentlich die großen Stürme in den Jahren 1843, 1853 und 1855 hatten dazu geführt, dass der Abstand zwischen dem 20 Meter hohen Steilufer und der Kirche nur noch wenige Fuß betrug. Das Schicksal des Gottesshauses schien unvermeidlich. 1874 hielt der Pastor den letzten Gottesdienst ab, sechs Jahre später wurde die neue Kirche von Hoff geweiht — weit von der gefräßigen Ostsee entfernt. 1900 schließlich stürzte die Küste an der Nordwestecke der Kirche ab, ein Jahr später folgte die gesamte Nordwand. Doch dann, wie von Gottes Hand gebändigt, gab das Meer Ruhe. Die Kirchenruine mit den drei erhaltenen Bögen des Südflügels, die der berühmte Badegast aus Dessau Ende der zwanziger Jahre vorfand, steht noch heute.

Und wie damals ist die Gemeinde stolz auf die Sehenswürdigkeit am Kliff. Nur, dass die Gemeinde heute nicht mehr Hoff heißt, sondern Trzesacz. Auch Lyonel Feininger, der Maler, der in New York geboren wurde, in New York starb und doch den größten Teil seines Lebens in Deutschland verbracht hatte, wirbt noch immer für diesen Teil der Ostseeküste. Auf der Internetseite der Gemeinde Pobierowo, zu der Trzesacz gehört, wird aus einem Brief des 57-Jährigen an seine Frau Julia zitiert, in dem die Entdeckung der Kirchenruine und ihr Weg in die Kunstgeschichte für die Nachwelt verständlich wird: "Die Küste ist hoch und steil, wunderbar weit in den Linien, aber lange Strecken schmelzen dahin, denn die Regenfälle haben Erdrutsche verursacht. Weit entfernt — am höchsten und steilsten Punkt stand etwas Rätselhaftes, ein dicker Kubus, welcher eine Festung gewesen sein mochte, aber tatsächlich war er etwas ganz anderes. Da oben am Rande des Abgrundes und ohne Zweifel dem Untergang geweiht, stand die Ruine einer Kirche."

Sehr irritiert zeigte sich Feininger ob der Entdeckung. Doch gleich darauf machte er sich ans Werk. "Meinen Zeiss Feldstecher benutzend, studierte ich die Sache, machte ich Skizzen, und Visionen von Bildern entstanden in meinem Geist. Allmählich, so wie wir uns näherten, enthüllten Öffnungen Stützpfeiler, und schließlich kam eine Reihe wunderbar gestalteter, bogenförmiger Fensteröffnungen im gotischen Stil ins Blickfeld. Als ich näher kam, sah ich, dass in der nüchternen Wirklichkeit die Mauern kaum 24 Fuß hoch waren — aber das konnte mich nicht entzaubern. Für mich erschienen sie monumental wie in einer großen Kathedrale."

Monumental wie eine Kathedrale erscheint die Kirchenruine noch heute. Die 30 Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde, die Lyonel Feininger bis zu seinem Tod im Jahre 1951 angefertigt hat, sind auch in Polen bekannt. Die deutsche Vergangenheit der pommerschen Küste, nach 1945 noch verdrängt, verschwiegen und aus den Grabsteinen gemeißelt, ist längst zu einer Herausforderung für polnische Heimatkundler, Historiker und Stadtväter geworden. Und zu einem veritablen Standortvorteil für die Touristiker. Schließlich kommen immer mehr Gäste aus Deutschland an die weißen Strände zwischen Swinemünde und Kolberg. Kulturgeschichtliche Landmarken wie die Kirchenruine von Hoff gehören zum Tourismusgeschäft inzwischen ebenso dazu wie die Überzeugung, westlichen Standard zum halben Preis zu bieten.

Das Baltische Meer, wie die Ostsee in Polen heißt, ist bis heute eine weitgehend unberührte Landschaft geblieben. Das erfährt vor allem jener Reisende, der die Welt der Küste vom Strand her vermisst. Die Städte sind noch immer auf Abstand, haben sich vor den Naturgewalten zurückgezogen in die sicheren Gefilde hinter Steilküsten, Dünen und Kiefernwäldern. Nur die wenigen Hafenstädte, wie Swinemünde und Kolberg, haben sich im Schutz der ins Meer mündenden Flüsse herangewagt an die See, geschützt von betonbewehrten Molen und Hafenanlagen. Die Macht der See, in diesem Teil Europas ist sie noch immer sichtbar. Nicht nur an der Kirchenruine von Trzesacz.

Begonnen hatte die touristische Entdeckung der pommerschen Ostseeküste auf der Insel Udedom. Namentlich die Kaiserbäder Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin waren Ende des 19. Jahrhunderts zur "Berliner Badewanne" geworden, erschlossen durch die Bahnverbindung Berlin–Swinemünde. Heute heißt Swinemünde Swinoujscie und ist auf dem besten Wege, wieder zu alter Geltung zurückzufinden. Überall entstehen neue Hotels, Cafés und Wellnessoasen, viele von ihnen für die Gäste aus Deutschland. Zwischen Swinemünde auf Usedom und dem Seebad Miedzyzdroje–Misdroy auf Wollin ist die Ostsee zur polnischen Riviera geworden.

Dazwischen aber gibt es, nicht nur in Trzesacz, vieles zu entdecken. Zum Beispiel keine 500 Meter nördlich von Misdroy. Hier beginnt nicht nur die Steilküste, der Feininger seine malerischen Denkmäler gesetzt hat, sondern auch der Nationalpark Wollin, einer von 23 Nationalparks in Polen. Zum Vergleich: Deutschland kann ganze 15 Nationalparks vorweisen. Berühmt ist der Wolliner Nationalpark vor allem wegen seiner Wisente, die dort leben. Und jener Stadt, die der Halbinsel den Namen gegeben hat — Wollin, für viele das sagenumwobene Vineta, die untergegangene Stadt an der Ostsee, deren Reichtum der Historiker Adam von Bremen 1075 so beschrieben hat: "Hinter den Liutizen, die auch Wilzen heißen, trifft man auf die Oder, den reichsten Strom des Slawenlandes. Wo sie an ihrer Mündung ins Skythenmeer fließt, bietet die sehr berühmte Stadt Jumne (synonym für Vineta, d. A.) für Barbaren und Griechen in weitem Umkreis einen viel besuchten Treffpunkt. Weil man sich zum Preise dieser Stadt allerlei Ungewöhnliches und kaum Glaubhaftes erzählt, halte ich es für wünschenswert, einige bemerkenswerte Nachrichten einzuschalten. Es ist wirklich die größte von allen Städten, die Europa birgt. Die Stadt ist angefüllt mit Waren aller Völker des Nordens, nichts Begehrenswertes oder Seltenes fehlt."

Weil die Bewohner von Vineta überheblich waren, so geht die Sage, waren sie dem Untergang geweiht. Tatsächlich aber dürften es die Dänen gewesen sein, die der unbefestigten Stadt ein Ende bereiteten. In Wollin aber pflegt man die Erinnerung an das "Atlantis des Nordens". Und befindet sich damit in guter Gesellschaft mit Koserow auf Usedom und Barth auf dem Darß, die ebenfalls für sich reklamieren, das Vineta der Sage zu sein.

Entdeckungen bieten sich auch zwischen Wollin und Kolberg. Im Fischereimuseum von Niechorze zum Beispiel werden nicht nur alte Fischkutter ausgestellt, ein Thema ist auch der Alltag der Ostseefischer. Ein Alltag, der bis vor kurzem noch alltäglich war. Bis zum Beitritt zur Europäischen Union gehörte die Fischerei an der polnischen Ostseeküste zum einträglichen Geschäft. Doch dann kamen die Beamten aus Brüssel und stellten fest: Der Dorschbestand in der Ostsee ist gefährdet. Also wurden die Fangquoten für Dorsch, bekannt auch als Kabeljau, drastisch gesenkt. Vor allem im jungen EU-Mitgliedsland Polen führte das zu Protesten. Anders als in Deutschland oder Schweden fischen die Polen in küstennahen Gewässern — mit alten Kuttern, die oft noch mit Seilwinden zu Wasser gelassen und an Land gezogen werden. Die EU, sagen viele, führt mit ihren restriktiven Bestimmungen dazu, dass die Kutter verschwinden oder zur bloßen Kulisse für Nostalgietouristen werden. Die alten EU-Länder dagegen machen mit der Hochseefischerei nach wie vor ihren Reibach, heißt es hier.

Von Nostalgie kann in Kolobrzeg keine Rede sein. Zwar buchen die meisten Touristen aus Deutschland ihren Ostseeurlaub oder Kuraufenthalt im ehemaligen Kolberg. Doch jene Zeiten, als Kolberg wie die Kaiserbäder auf Usedom zum Muss für die Ostseefreaks aus Berlin gehörten, sind vorbei. Heute ist Kolobrzeg vor allem eine Tourismusmaschine. Gut zwei Drittel der deutschen Ostseeurlauber in Polen steigen hier ab, die Hotels und Pensionen sind vor allem in der Saison im Juli und August ausgebucht. Kolobrzeg, im Krieg als Hitlers Festung weitgehend zerstört geblieben, ist als Ferienfestung wieder auferstanden. Wem es gefällt, bitte sehr.

Weitaus reizvoller als der Rummel an der Kolberger Promenade ist jedoch die Ostseeküste, die von Kolobrzeg bis Mielno führt. Schon in Ustronie Morskie zeigt sich die Ostsee wieder von ihrer wilden Seite. Wie Trzesacz liegt auch es an einer Steilküste. Der Unterschied ist nur der, dass es hier keine Kirchenruine gibt, sondern einen weithin sichtbaren Leuchtturm. Und eine Pizzeria, ganz am Rand der Klippe. Ihr Besitzer, ein Nachfahre der ins Ruhrgebiet ausgewanderten Polen, ist nach der Wende ins Land seiner Väter zurückgekehrt. Er sei einer der wenigen, die den umgekehrten Weg gegangen sind, sagt er selbst. "Die meisten wollen noch immer in den Westen. Dabei boomt der Tourismus an der Ostsee wie verrückt."

Ein bisschen klingt das wie das Pfeifen im Walde. Anders als in Swinemünde, Misdroy oder Kolberg wartet die Ostseeküste im Osten Pommerns noch auf ihre Entdeckung durch die Deutschen. Warum das so ist, versteht der Pizzeriainhaber von Ustronie Morskie bis heute nicht. "Bis Swinemünde fährt man mit dem Auto von Berlin genauso lange wie bis Kolberg oder Kosel." Was er unterschätzt: Kosel, heute Koszalin, war nie eine Berliner Badewanne gewesen. Die Entdeckung der polnischen Ostseeküste durch die Deutschen hält sich offenbar bis heute an die ungeschriebenen Gesetze der Geographie. Und mitten drin in dieser Geographie liegt Berlin.

Von Berlin aus hat auch Lyonel Feiniger, der prominente Gast in Hoff, die Ostseeküste kennen gelernt, lange bevor er von der Hauptstadt nach Dessau zog. Noch in seinen späten Jahren, Feininger war längst vor den Nazis geflohen und wieder in seine Geburtsstadt zurückgekehrt, erinnerte er sich an das Urlaubsdomizil, das inzwischen polnisch geworden war: "Pommern und die Ostsee waren für mein ganzes Schaffen mitbestimmend, und ich zehre noch jetzt an den Erlebnissen, die ich dort hatte. Hier gibt es nichts, was damit zu vergleichen wäre."

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