Uwe Rada themenstadtmit dem rollator unter palmen

Teaser
DRUCKVERSION Mit dem Rollator unter Palmen

Demografische Entwicklung, Klimawandel und die Auswirkungen auf die Stadtplanung

von UWE RADA

1.
Es waren Bilder wie aus einem Katastrophenfilm. Seit Tagen schon tobte der Sturm über der Nordsee, dann drehte der Wind plötzlich auf Nordwest und drückte die Wassermassen in Elbe und Weser. Mit einer Geschwindigkeit von 45 Kilometer pro Stunde raste die Sturmflut stromaufwärts, die ersten Deiche brachen, Menschen retteten sich auf Dächer. Die Wasserstände erreichten mehr als fünf Meter über Normal Null.

340 Menschenleben hat die Jahrhundertflut an der Nordsee in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 gefordert, die meisten von ihnen in Hamburg.

Aber auch in Bremerhaven gab es Opfer. Dort überrollte die Sturmflut den Zoo und tötete 170 Tiere. Wer dieses gewaltige Naturereignis nicht erlebt hat, kennt die Bilder trotzdem: Aus dem Fernsehfilm "Sturmflut", den die ARD 25 Jahre nach der Katastrophe ausstrahlte, oder aus der Geschichtsdoku "Die Nacht der großen Flut" mit Ulrich Tukur als Helmut Schmidt, damals Polizeisenator in Hamburg.

Bilder von einer Sturmflut in Bremerhaven lassen sich auch bei Youtube anschauen. Im Jahre 2008 rollte das Orkantief Emma – als Vorbote der neuen klimatischen Veränderungen – auf die Nordseeküste zu. In vielem sind sich die Bilder von 2008 und 1962 ähnlich, und dennoch gibt es zwei Unterschiede. Zum einen sind da die Deiche und Fluttore, die verhinderten, dass Bremerhaven 2008 erneut geflutet wurde. Und zum andern sieht man in der Innenstadt bereits die Skyline eines Gebäudes, das inzwischen zum Markenzeichen der Stadt wurde – das "Klimahaus acht Grad Ost".

Inmitten der neuen City, der die Stadt die Marke "Havenwelten" verpasst hat, steht das Erlebnismuseum als bauliches Symbol für den Kampf gegen den Klimawandel und – als fast klimaneutraler Bau – als Zeichen für die Umwelt und die selbsternannte Klimastadt Bremerhaven. So symbolisiert das kleine Youtube Video vom 1. März 2008 den Wandel der Städte im Umgang mit dem Klima: Neben der Abwehr, Klammer neue Deiche, gibt es nun auch die Anpassung, Klammer Klimastadt und Bildungsauftrag.

Acht Grad Ost, das ist der Längengrad, an dem Bremerhaven liegt, und dieser Meridian ist zugleich der Kompass für die Ausstellung im Klimahaus. In einer sinnesreichen Reise macht sich der Besucher auf zu einer Erkundung über die Erde. Die Stationen heißen: Isenthal in der Schweiz, Seneghe auf Sardinien, Kanak in Niger, Ikenge in Kamerun, das Königin Maud Land in der Antarktis und, auf der anderen Seite der Erdkugel, Samoa und Alaska. Über die Hallig Langeneß geht es schließlich wieder zurück nach Bremerhaven.

So lassen sich in knapp drei Stunden nicht nur alle Klimazonen der Erde erleben. Man erlebt sie auch an ein und demselben Ort. Im Bremerhavener Klimahaus schlägt man sich, geduckten Hauptes, durch den Regenwald, liegt im Wüstensand und beobachtet die Sterne, sonnt sich auf einer Südseeinsel und wartet, noch trockenen Fußes, auf der Hallig auf die nächste Flut. Übrigens ist das Klimahaus in Bremerhaven auch rollstuhlgerecht. So passt sich Bremerhaven nicht nur dem Klimawandel an, sondern auch der demografischen Entwicklung.

2.
Klimawandel und demografische Entwicklung: Lange Zeit hat man sich mit diesen Megatrends, die auch und vor allem die Städte betreffen, schwer getan. Hitzewellen, Dürreperioden, Starkregenfälle und Sturmtiefs waren meist nicht Vorboten der von Menschenhand gemachten klimatischen Veränderungen, sondern schlicht und ergreifend: Wetter.

Und wer in Ostdeutschland Mitte der neunziger Jahre das böse Wort von der Schrumpfung in den Mund nahm, war schnell ein Nestbeschmutzer. Schließlich galt es, die weithin sichtbaren, weil beleuchteten Erfolge des Aufbaus Ost zu würdigen. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass Politik und Planung, aber auch Betroffene, gleichermaßen hilflos waren. Alle Parameter der Stadtplanung, von der Bauordnung bis hin zu den Abstandsflächen waren auf Wachstum und dessen gerechter Verteilung ausgerichtet, nicht aber auf Schrumpfung und Rückbau. Noch im Jahre 2003, so eine Umfrage des Berlin Instituts für Bevölkerung bis hin nd Entwicklung, kannten gerade einmal 52 Prozent der Bundesbürger den Begriff demografischer Wandel.

Inzwischen freilich kommt kein Förderantrag mehr ohne diese beiden Begriffe aus – und auch in der Stadtplanung gelten Klimawandel und demografische Entwicklung längst als Querschnittsthemen. Das Land Brandenburg leistet sich in seiner Staatskanzlei sogar einen eigenen Beauftragten für demografische Entwicklung. Auf die Frage, ob denn die Schrumpfung nicht eine Gefahr für die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum darstelle, sagte er, ich zitiere sinngemäß: "Auch in Lappland gibt es ein höheres Risiko, am Herzinfarkt zu sterben, weil der Rettungswagen nicht rechtzeitig kommt. Das wird aber selten passieren, weil dort die Luft so gut ist."

Alles auf gutem Wege also? Problem erkannt, Weichen gestellt?
Zweifel sind angebracht. Immerhin wird man den Eindruck nicht los, dass die Planungsrealität dem Planungswillen mit großem Abstand hinterher rennt. Hinzu kommen die Reibungsverluste infolge des föderalen Systems der Bundesrepublik. Oft streiten Bund, Länder und Gemeinden um Zuständigkeiten und ums Geld. Anlass genug also für eine kleine Recherchereise durch die Klima- und Alterszonen in unseren Städten. Wie sieht es aus mit der altersgerechten und nachhaltigen Stadt? Welche Projekte wurden auf den Weg gebracht? Und welche neuen Bilder bringt die Zukunft hervor? Statt Rollatoren unter Palmen konnte man in Berlin in diesem Winter ja eher junge Mütter beobachten, die Mühe hatten, das Kind vom Eis zu kriegen.

3.
Bleiben wir gleich in Berlin. Bleiben wir bei jungen Müttern und ihren Kindern. Damit sind wir, Sie ahnen es, im Stadtteil Prenzlauer Berg, der von den Medien inzwischen auch als "pregnancy hill" bezeichnet wird. Der Berliner Szenebezirk gilt seit Jahren schon als statistische Widerlegung der deutschen Vergreisungsszenarien, ein schwäbisches Muschterländle mit alternativem Anstrich und erstaunlicher Fertilität. Nirgendwo ist die Boogaboo-Dichte größer als rund um den Kollwitzplatz, und die Kinderlosen sehen sich schon zu Verzweiflungstaten hingerissen, so wie das Café Niesen, das seit einiger Zeit ein Separée eingerichtet hat. Warum, verrät ein Schild am Eingang:
"Neu. Für Ältern, mit Ä, ohne Kinder."

Seitdem ist über den Wohlfühlbezirk ein wahrer Kulturkampf hereingebrochen. Überfällig, sagen die einen, Diskriminierung schreien die andern.

Das mag albern sein, doch der Blick hinter die Kulissen zeigt, dass sich die Alltagskultur im Bezirk verändert hat. So berichtete der grüne Stadtrat für öffentliche Ordnung vor kurzem von einer Demonstration junger Väter und Muttis (das sind, auf Ostdeutsch, die Mamis) für eine Verkehrsberuhigung vor dem Volkspark im Bezirk. "Da kommen die Wortführer der Bürgerinitiative im Geländewagen vorgefahren", sagte er in einem Interview, "packen ihre Kinder und Transparente vom Rücksitz und gehen gegen den Autoverkehr auf die Straße. In solchen Momenten", gestand der grüne Stadtrat, "ringe ich um professionelle Distanz".

Auch wenn der statistische Baby-Boom in Pregnancy Hill bei weitem nicht so deutlich ist wie der gefühlte: junge Familien haben begonnen, den Bezirk zu erobern. Gegenüber des Volksparks zum Beispiel stehen die Prenzlauer Gärten. Nach dem Vorbild der Londoner Szeneviertel Notting Hill und Kensington hat der Berliner Architekt Stephan Höhne 60 Reihenhäuser bauen lassen. Ganz in Weiß stehen sie seit 2006 Spalier und geben einen Vorgeschmack darauf, wie sich der Stadtbürger von heute das Wohnen von morgen vorstellt: gediegen, aber nicht protzig, individuell, aber nicht marktschreierisch, zurückgezogen, aber nicht vom Schuss.

Dafür nimmt man auch das Tor in Kauf, dass die beiden Kopfbauten am Eingang der "Prenzlauer Gärten" vom Rest der Stadt trennt und dem Ganzen, wiewohl immer offen, einen Hauch von Gated Community verleiht. Manch ein Bewohner ist darum so sehr im Zwiespalt, dass er auf die Frage nach dem Tor nur noch gereizt antwortet: „Gated Community? Wovor sollen wir uns schützen? Etwa vor den Bewohnern in Prenzlauer Berg?“ Sie haben wohl recht. Im Bionade-Biedermeier sind schließlich alle gleich.

4.
Die Prenzlauer Gärten wie auch der Prenzlauer Berg, meine Damen und Herren, sind – jenseits des demografischen Wandels und den klimatischen Veränderungen – Beispiel für zwei Trends, die derzeit in den meisten deutschen Städten zu beobachten sind: die Renaissance der Innenstadt sowie die zunehmende räumliche Spaltung der Stadt in Gewinner- und in Verliererquartiere.

Es sind vor allem die jungen Mittelschichtsbewohner, die den neuen Run auf die Stadt ausgelöst haben. Das hat Bernd Hallenberg herausgefunden. Der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes für Wohnen und Stadtentwicklung (vhw) hat als einer der ersten die Parameter der Immobilienwirtschaft mit denen der Milieuforschung abgeglichen. Das Ergebnis: Vor allem die Milieus der "Postmateriellen", der "modernen Performer" und der "Hedonisten" zieht es in die neuen schicken Altbauviertel der Innenstädte – und in die neuen Townhouse-Projekte. Zurück auf der grünen Wiese bleibt die "bürgerliche Mitte", die das Milieumodell zu den "Traditionalisten" zählt. Und noch etwas hat Hallenberg herausgefunden. Die neuen Milieus der Mittelschicht wachsen. Schon heute machten Performer und Hedonisten ein Drittel der Stadtbevölkerung aus, Tendenz steigend.

Was aber bedeutet der neue Trend zum schicken Wohnen für das soziale Gefüge der Stadt? In der alten Stadt, sagte einmal der Stadtforscher Andreas Feldkeller, der in der Tübinger Südstadt als einer der Pionieren die Renaissance der Innenstadt eingeläutet hat, gehörte der Kompromiss – Lärm, Gewerbe, Parkplatzsuche – dazu. Im neuen Quartier ist man hingegen kompromisslos. Bis hin zum Egoismus der Geländewagenfahrer, die für Verkehrsberuhigung demonstrieren. Nicht ein mehr an Stadt muss die "Renaissance der Innenstadt" also bedeuten, es kann auch ein mehr an Provinz sein.

Ein kleines Beispiel: Einer der bekanntesten Clubs in Prenzlauer Berg, der Knaack-Club, muss schließen, weil Anwohner wegen des Lärms vor Gericht gingen. Der Architekt hatte einen schicken Neubau neben den Club gebaut, ohne den Mindestabstand für physische Schallübertragung einzuhalten. Den Prozess gewonnen haben die neuen Urbaniten. Ihre Lobby ist inzwischen größer als die der Clubgänger. Mitunter beginnt die gefühlte Alterung der Stadtgesellschaft nicht erst mit 65, sondern schon mit 35. Suburban Beauty mitten in Berlin.

Der Knaack-Club ist auch ein Beispiel dafür, was in Berlin derzeit unter dem Schlagwort Gentrifizierung, also Aufwertung und Verdrängung in den Stadtquartieren diskutiert wird. Mit der Renaissance der Innenstädte geht nämlich auch ein Verteilungskampf um die Ressourcen der Stadt einher. Wer es sich nicht leisten kann, muss gehen, womöglich sogar an den Stadtrand. So gibt es in unseren Städten drei Megatrends, die sich gegenseitig bedingen und auf die die Planung reagieren muss: die Alterung der Gesellschaft, der Klimawandel und die zunehmende Segregation der Stadträume, also die ungleiche Verteilung von Arm und reich, jung und alt, deutsch und Multikulti in ganz bestimmten Quartieren. Oder, um beim Bild mit den Palmen zu bleiben, die zunehmende Verinselung der Städte.

5.
Damit sind wir mitten drin im Planungsalltag der Städte. Was die "Renaissance der Innenstadt" betrifft, wird der Trend nach Kräften unterstützt. Das ist verständlich, schließlich haben Kommunen das Interesse, Familien und Gutverdienende nicht an die grüne Wiese zu verlieren. Also wird Liegenschaftspolitik und Flächenmanagement gern in den Dienst der neuen Mittelschichten gestellt. Dass dabei die räumliche Segregation in der Stadt befördert wird, nimmt man in Kauf. Auch deshalb, weil die Spielräume von Politik und Planung für den Erhalt der sozialen Mischung weit geringer sind. Das nämlich würde Geld kosten. Alte Bahnflächen oder Brachen an Investoren oder Baugruppen zu verkaufen, bringt dagegen Geld in die Kasse.

So bestimmen also zwei Themen die derzeitige Stadtplanung: Die aktive Unterstützung neuer Wohnquartiere auf der einen Seite. Und das Quartiersmanagement als Feuerwehrpolitik für die Problemviertel der Unterschichten.

Noch eine kleine Bemerkung zum Prenzlauer Berg, auch weil ich da lange gelebt habe. Der Prenzlauer Berg wird natürlich nicht so bleiben, wie er ist. Die Menschen, die rund um den Kollwitzplatz leben, wollen und werden bleiben. Für Stadtforscher ist das ein Glücksfall. Bislang war es nämlich immer so, dass die jungen Kreativen, die in die vernachlässigten Altbauquartiere zogen, wieder wegzogen, wenn sich der Nachwuchs ankündigte. Die Renaissance der Innenstadt aber sorgt nun für den entsprechenden Wohnraum und auch die nötige Infrastruktur. So entsteht eine Alternative zum Reihenhaus auf der grünen Wiese. Deshalb kann man am Prenzlauer Berg zum ersten Mal das Durchaltern eines bestimmten Milieus im städtischen Raum beobachten.

Man darf also gespannt sein auf die Themen und Konflikte der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Was, wenn die Kinder, die gerade geboren werden, ins schwierige Alter kommen? Steigt dann die Kriminalität und sinken die Immobilienpreise? Und was wird in 30, 40 oder 50 Jahren sein, wenn die Eltern von heute Großeltern oder Urgroßeltern sind? Sieht man vor den schick renovierten Fassaden dann überall Fahrstühle und Rollatoren? Wie wird der öffentliche Nahverkehr auf die demografische Entwicklung reagieren? Welche Protestformen werden die Alternativen von damals ins Alter retten? Wird der Prenzlauer Berg sogar ein Modellbezirk für die Hospizbewegung, weil am Ende eines selbstbestimmten Lebens das selbstbestimmte Sterben steht.

6.
Die Stadt der Alten, meine Damen und Herren, das ist mancherorts längst Realität. Das Durchschnittsalter in Deutschland liegt derzeit bei 43 Jahren, in der EU liegt es bei 40 Jahren. Der Trend setzt sich fort. 2030 wird das Durchschnittsalter bei 49 Jahren liegen, in der EU dagegen nur bei 45 Jahren. Dass Deutschland schneller altert als andere EU-Länder hat viele Gründe, unter anderem die anhaltend niedrige Geburtenrate, die steigende Lebenserwartung und die abnehmende Zuwanderung. Freilich ist diese durchschnittliche Alterung der Deutschen, wie das Beispiel Prenzlauer Berg zeit, räumlich sehr unterschiedlich verteilt. Mit 38,4 Jahren hat Tübingen derzeit einen der jüngsten Alterdurchschnitte der deutschen Städte. Mit am höchsten ist er dagegen mit fast 49 Jahren in Bad Reichenhall.

Auch dieser Trend der demografischen Segregation wird zunehmen wie eine aktuelle Veröffentlichung der EU-Statistikbehörde Eurostat zeigt. London, Paris, Oslo, der Süden Irlands und Brüssel werden der Studie zufolge Europas "jüngste" Orte sein. Das Durchschnittsalter liegt dort im Jahr 2030 unter 38,8 Jahren. In den ostdeutschen Regionen hingegen prognostizieren die Demografen einen Durchschnitt von 52,8 Jahren. Die mit Abstand älteste Stadt Europas wird dann Chemnitz sein. Der Anteil der über 65-Jährigen wird dann bei mehr als einem Drittel liegen.
Verstärkt werden diese recht unterschiedlichen Szenarien durch die innereuropäischen und innerdeutschen Wanderungsbewegungen. Dabei ist eine interessante Tendenz zu erkennen: Während die Bevölkerungsdichte im Westen und Nordwesten weiter zunimmt, wird Europa immer "leerer", je weiter man nach Osten kommt.

Das gilt auch für Deutschland. Ein Beispiel dafür ist der Oberrhein im Südwesten Deutschlands. In Freiburg und Umgebung zum Beispiel, der, wie manche meinen, Toskana Deutschlands, wächst die Bevölkerung. Aber, und das ist interessant, sie altert auch schneller als im deutschen Durchschnitt. Ein untrüglicher Hinweis also auf eine ganz besondere Wanderungsbewegung. Nicht nur die Jungen werden nämlich immer mobiler. Auch die Alten machen sich auf den Weg. Und zwar am liebsten dahin, wo es schön ist und die Sonne scheint. Bei Stadtsoziologen heißt diese Alterswanderung auch "Florida-Effekt".
 
7.
Warm ist es aber nicht nur im Breisgau, sondern auch in der Lausitz. Der Unterschied ist nur der, dass der Osten Deutschlands normalerweise nicht Wanderungsziel ist, sondern Wanderungsquelle. Trotzdem, oder gerade deshalb schält sich, etwa in Görlitz, seit einigen Jahren ein Stadttyp heraus, der die demographische Entwicklung nicht nur als Bürde begreift, sondern auch als Chance – die Pensionopolis.

Görlitz, das ist zweifelsohne eine der schönsten Städte Deutschlands, mit viel Spätrenaissance am Untermarkt, italienisch anmutenden Tuchhallen, ausgedehnten Gründerzeitquartieren und kleinen Altstadthäusern, in denen man im eigenen Haus wohnt und dennoch mitten in der Stadt. Görlitz hat aber auch kulturell einiges zu bieten. Nur knapp ist die Grenzstadt an der Neiße gemeinsam mit dem polnischen Zgorzelec gegen Essen im Rennen um den Titel europäische Kulturhauptstadt 2010 gescheitert.

Der Wettbewerb um den Titel war gleichzeitig auch der Wendepunkt in der Görlitzer Stadtentwicklung. Lange Zeit galt an der Neiße: Schönheit alleine macht keine Zukunft: Die Zahl der Einwohner sank von 80.000 auf unter 60.000, und mit ihr sank die Hoffnung. Oft war es sogar so, dass die Eltern der 20 bis 25-Jährigen, die Görlitz in Richtung Westen verlassen hatten, ihren Kindern hinterherzogen.

Dennoch konnte der oberste Stadtplaner von Görlitz, Lutz Penske, vor zwei Jahren mitteilen: Der Wanderungssaldo ist erstmals seit der Wende positiv. Zumindest in der Innenstadt. Dort nämlich hat die Zahl der Zuwanderer die der Abwanderer übertroffen und damit auch den Sterbeüberschuss ausgeglichen.

Prompt hatte Görlitz seinen Ruf weg: Pensionopolis, die Stadt der Rentner. Denn es waren vor allem Senioren aus dem Westen, die in den letzten Jahren an die Neiße zogen. Plötzlich waren sie doch etwas wert, die Schönheit der Stadt und das kulturelle Angebot. Vor allem aber sind die Mieten in Görlitz im Vergleich zu Freiburg unschlagbar niedrig. So gibt es also unter Verlierern auch Gewinner. Zu denen zählt im übrigen auch die Klassikerstadt Weimar. Die hat als Kulturhauptstadt 1995 schon ihre Schrumpfung stoppen können und gilt inzwischen als Baden Baden des Ostens. Mit dem Rollator zu Goethe und Schiller. Warum auch nicht?

8.
Dass es Menschen nach dem Ende des Arbeitslebens in die Städte zieht, ist nicht neu. Dort finden sie alles, was sie brauchen: Kurze Wege, einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr, Gesundheitsversorgung, Kultur. Dennoch wissen die Planer in Görlitz und Weimar auch, dass Pensionopolis eine Falle sein kann. Je mehr Alte in eine Stadt kommen, das ist die Kehrseite des Floridaeffekts, desto mehr flüchten die Jungen. Am Ende besteht die Pensionopolis, wie das Beispiel Sun City in Arizona zeigt, nur noch aus Alten. Eine solche Stadt braucht keine Kindergärten und Schulen, dafür aber Krankenhäuser und Friedhöfe.

Auch deshalb stellt man sich in Görlitz und Weimar die Frage: Soll man die Entwicklung zur Pensionopolis weiter befördern? Das bedeutete aber, quasi vorsorglich, Kindergärten zu schließen und Friedhöfe neu anzulegen. Oder soll man weiter auf den klassischen Mix setzen und auch neue Angebote für Familien schaffen? Doch das könnte bedeuten, Zeit zu verlieren und im Rennen mit den anderen Rentnerstädten womöglich den kürzeren zu ziehen.

Entschieden hat sich Görlitz noch nicht. Freilich betreibt es seine Ansiedlungspolitik mit einiger Konsequenz. Wer als Neugörlitzer in spe einen Brief oder eine Mail ins Rathaus am italienisch anmutenden Untermarkt schickt, bekommt postwendend ein ganzes Görlitz-Welcome-Paket zugeschickt.

Verlässt man die Alterszonen unserer Städte, stellt man aber bald fest: Nicht die Pensionopolis ist, auch in Zeiten der Alterung der Gesellschaft, das Ziel der Stadtplanung, sondern eine gesunde Mischung aus jung und alt. Auch als Gegengift zur zunehmenden Segregation, der Spaltung der Stadt in arme und reiche, junge und alte Quartiere. In Bielefeld zum Beispiel werden Fördergelder für Bauprojekte nur noch bezahlt, wenn auch barrierefrei gebaut wird. Aber auch in der Verwaltung selbst kommt das Thema an, etwa in der Vorgabe, altersgemischte Teams zu bilden. In Mehrgenerationenhäusern arbeiten Senioren als Babysitter, die Jungen kaufen für die Alten ein. Dass demografische Entwicklung und Migration zusammenhängen zeigt die Tatsache, dass es in allen Kindergärten kostenlosen Deutschunterricht für Migrantenkinder gibt.

In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung bekommt Bielefeld daher den Titel, diejenige deutsche Stadt zu sein, die am besten für die Herausforderungen des demografischen Wandels gerüstet sei. Dies ist umso bemerkenswerter als es Bielefeld eigentlich gar nicht nötig hätte. Anders als Chemnitz, der bald ältesten Stadt Deutschlands, steht Bielefeld recht gut da. Die derzeitige Einwohnerzahl von 327.000 Einwohnern soll der Prognose zufolge bis 2025 stabil bleiben. Mit 42 Jahren werden die Bielefelder zudem jünger bleiben als im Bundesdurchschnitt.

9.
Die lebenswerte Stadt für jung und alt – das ist auch der Übergang zum Thema Klimawandel. Seniorenstädte gedeihen nur dort, wo die Sonne scheint und wenig Regen fällt. Die Senioren können sich also freuen: Je wärmer es in Deutschland wird, desto größer wird Deutschlands Sunbelt.

Dass es wärmer wird, steht außer Frage. Einer Prognose des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung zufolge wird sich die Durchschnittstemperatur in Deutschland bis zum Jahr 2050 um 2,5 Grad Celsius erhöhen. Das ist ein halbes Grad mehr als die zwei Grad, die in der bisherigen Diskussion um den Klimawandel als gerade noch beherrschbar gelten. Das gilt auch für die Städte, denn in ihnen macht sich der Temperaturanstieg besonders bemerkbar. Wegen der dichten Bebauung und Versiegelung der Flächen staut sich die Hitze und kann vor allem in den Sommernächten nicht abkühlen. Die Folgen sind Herz-Kreislaufbeschwerden oder  Atembeschwerden. Das sieht auch das Potsdam Institut so. Von einer „Einschränkung der Lebensqualität“ ist in dem Gutachten die Rede und „zusätzlichen gesundheitlichen Belastungen durch klimatisch bedingten Stress“. Grade für die ältere Bevölkerung gilt: Ein bisschen Sonne ja, tropische Temperaturen nein.

Doch es wird nicht nur wärmer, es wird auch trockener. Zwar wird es infolge des Klimawandels auch verstärkt Starkregenfälle geben, so dass die Regenmenge übers Jahr verteilt auch 2050 nicht abnehmen wird. Doch im Sommer werden die Niederschläge immer geringer. Durch die Verdunstung infolge höherer Temperaturen führt das dazu, dass der Wasserhaushalt der Städte unter Druck gerät, Seen zu Stauseen werden, die Wasserqualität abnimmt. Für Brandenburg will das Potsdam Institut sogar eine Versteppung nicht ausschließen.

Wie aber soll man darauf reagieren? Wie sieht die Anpassung der Stadtplanung an den prognostizierten Temperaturanstieg aus? Und gibt es auch Möglichkeiten, diesen Anstieg zu verringern?

In Berlin, das neben Brandenburg vom Temperaturanstieg in Deutschland besonders stark betroffen ist, arbeitet man derzeit mit Hochdruck an einem Stadtentwicklungsplan Klima. Dort wird ein besonderer Augenmerk vor allem auf die so genannten Kaltluftentstehungsgebiete gelegt. Das sind meist große, unbebaute Flächen wie der Tiergarten, der Flughafen Tempelhof und Tegel. Ein weiteres Augenmerk gilt den Kaltluftschneisen, in denen die kühle Luft in den Städten zirkuliert. Das sind große Straßenzüge, aber auch Bahntrassen. Kaltluftentstehungsgebiete und Kaltluftschneisen sollen auch künftig von größerer Bebauung frei gehalten werden. Mehr noch: Jedes Bauvorhaben soll im Genehmigungsverfahren auch auf seine stadtklimatischen Auswirkungen untersucht werden. So gesehen würde es ein Projekt wie Stuttgart 21 in Berlin schwer haben.

Aber die Kühlschränke der Stadt im Blick zu haben, reicht bei weitem nicht. Ihre kühlende Wirkung verbreiten die Kaltluftschneisen nur in einem Radius von 300 Metern. Umso wichtiger, sagen Experten, sei es deshalb, Flächen zu entsiegeln, Brachen nicht zu bebauen, sondern zu Grünflächen umzuwandeln, Bäume zu pflanzen. Aber auch Arkaden und Sonnensegel können hilfreich sein. Dabei gilt für Stadtplaner die Faustregel, dass ein schattiger Ort im Hochsommer nicht mehr als fünf Gehminuten entfernt sein sollte.

Grade in wachsenden Städten ist darum eine Debatte entbrannt. Soll man wegen des Klimawandels verstärkt auf Hochhäuser setzen? Oder tragen die Hochhäuser wegen der Mengen an Beton gerade zur Erwärmung der Städte bei? In Frankfurt am Main, wo die Tage mit mehr als 25 Grad Celsius bis 2050 von derzeit 46 um 12 bis 26 zunehmen werden, weiß man um die Vor- und Nachteile der Wolkenkratzer. Zwar spenden sie am Tage häufig Schatten, in der Nacht jedoch wird die Wärmeinsel durch den Beton oder das Glas verstärkt.

10.
Blickt man auf solche Diskussionen, meine Damen und Herren, könnte man den Eindruck gewinnen als wäre Anpassung das einzige, was Stadtplaner und Kommunalpolitiker beschäftigt. Das hat wohl auch damit zu tun, dass das Thema Abwehr, in diesem Fall die radikale Verringerung der CO2-Emmissionen ein politisch umstrittenes Thema ist. Sie alle kennen die Liste der Dinge, die nötig sind, aber aus Angst vor dem Wähler unterbleiben: vom Tempolimit auf den Autobahnen bis hin zur Kerosinsteuer.

Klimaschutz ist aber nicht nur ein politisch schwieriges, sondern auch ein sozial brisantes Thema. Ein Beispiel dafür ist das einst sehr ambitionierte Berliner Klimaschutzgesetz. So ist der Entwurf bislang mehrfach am Widerstand nicht nur der Hausbesitzer gescheitert, sondern auch des Mietervereins und der SPD. Der Grund: Die Angst vor steigenden Mieten.

Dabei ist klar: Viel Zeit ist nicht zu verlieren. Nach Berechnungen der EU-Kommission stammen alleine 40 Prozent aller CO2-Emmissionen in Europa von Gebäuden. Energetische Sanierung ist also kein Modethema, sondern das Gebot der Stunde. Freilich gibt es die Dämmung von Fassaden, den Einbau neuer Heizanlagen oder die Installation von Solardächern nicht umsonst. Auch nicht für die Mieter. Da die energetische Gebäudesanierung als Modernisierungsmaßnahme gilt, darf der Eigentümer elf Prozent der Investitionskosten auf die Miete umlegen. Schätzungen zufolge würde die Mehrbelastung für die Mieter nach einer umfassenden energetischen Sanierung 2,50 Euro pro Quadratmeter bedeuten. Die Einsparungen an Energiekosten betragen demnach ein Euro pro Quadratmeter. Macht unterm Strich also 1,50 Euro pro Quadratmeter Belastung für die Mieter, bei einer 100 Quadratmeter großen Wohnung sind das immerhin 150 Euro im Monat.

Mit ihrem Vorstoß, die energetische Sanierung und den Austausch von Heizanlagen, die älter als 20 Jahren sind, für Eigentümer zur Pflicht zu machen, kam die Berliner Umweltsenatorin nicht durch. Nun soll ein Stufenmodell her, bei die Eigentümer selbst entscheiden können, wie sie eine bestimmte Umweltvorgabe erreichen wollen. Was die Argumentation des Senats gegenüber den Hauseigentümern, aber auch den besorgten Mietern nicht gerade erleichtert: Bei den Gebäuden der öffentlichen Hand ist die energetische Sanierung längst nicht abgeschlossen.

Was lernen wir daraus? Klimaschutz ist schön und gut, er darf aber nichts kosten, vor allem nicht im eigenen Geldbeutel. Mit dieser zögerlichen Haltung freilich sind die Städte in der Vergangenheit genau an den Punkt gekommen, an dem sie heute sind. Anpassung alleine wird aber nicht reichen. Man muss auch an die Ursachen ran, auch wenn das bedeutet, dass wir unseren Lebenswandel überdenken müssen.

Das gilt nicht nur für Tempolimit und Kerosinsteuer, sondern auch für die Renaissance der Innenstädte. Im Umland mögen zwei Autos für Familien ja noch nötig sein, in der Stadt sind sie es definitiv nicht. Und auch Heizpilze sind keine urbanistische Kulturtechnik, sondern Klimakiller.

11.
So ergibt die kleine Recherchereise durch die Klima- und Alterszonen unserer Städte ein höchst unterschiedliches Bild. Kaum ein Ort, an dem der demografische Wandel und der Klimawandel kein Thema wären. Doch die kleinteiligen Strategien der Planer und die zögerliche Haltung der Politik werden oftmals der Dringlichkeit des Themas nicht gerecht.
Dabei wird der Problemdruck in Zukunft noch wachsen. Noch bestimmen die geburtenstarken Jahrgänge das Bild in unseren Städten. In einiger Zeit aber werden die Kinder, die heute nicht geboren werden, als die Eltern von morgen fehlen.

Ein zweiter Punkt, auf den Planung und Politik bisher kaum reagiert haben, ist das Thema Alterung und Migration. Hier fehlt es, auch deshalb, weil man lange an die Rückkehr der „Gastarbeiter“ geglaubt hatte, an entsprechenden Beratungsstellen und Einrichtungen.

Ein anderes Beispiel ist das Internet. Dass eine flächendeckende Versorgung mit schnellen Breitbandverbindungen nicht nur die Teilhabe der Bevölkerung im ländlichen Raum sichern kann, sondern auch Wege verkürzt, zeigt dass Beispiel Estland. Dort sind freie Wifi-Hotspots in allen Städten und auch Gemeinden die Regel und nicht die Ausnahme. Das gleiche gilt für E-Governance bis hin zu E-Voting. In Deutschland, vor allem in den neuen Ländern, gibt es noch ausgedehnte Internet-Wüsten. Selbst UMTS ist nur spärlich erreichbar. Der Grund: Anders als in Estland überlässt man die Abdeckung mit W-Land der Industrie anstatt das Thema als hoheitliche und damit staatliche Aufgabe zu begreifen.

Freilich wäre es verkürzt, Planer und Politiker alleine für diese Fehlstellen verantwortlich zu machen. Wie beim Thema Segregation ist auch bei der demografischen Entwicklung und dem Klimawandel der Spielraum der Städte gering. Die Rahmenbedingungen geben nach wie vor der Bund vor oder die wirtschaftliche Entwicklung, die für die räumliche Entwicklung stärker denn je verantwortlich ist. Hinzu kommt, dass auch die finanzpolitischen Folgen der Alterung über die Städte eher hereinbrechen werden als dass sie von ihnen bewältigt werden können. Dass bei Städten und Gemeinden zuallererst der Rotstift angesetzt wird, zeigt ja das jüngste Sparpaket der Bundesregierung.

Welchen Sprengstoff das Thema des demografischen Wandels birgt, hat übrigens vor drei Jahren ein Dokudrama des ZDF gezeigt. Es hatte den Titel „2030. Aufstand der Alten“ und handelte von der Zweiklassenmedizin, die uns, den Alten von morgen, droht. Wer es sich leisten kann, profitiert von der Hochleistungsmedizin und den Annehmlichkeiten der Tourismusindustrie. Die Kassenpatienten werden zur Minimalversorgung nach Afrika geschickt, weil dort die Pflegekosten niedrig sind. Und wer als Kranker das Erbe nicht an die Krankenkassen geben will, wird von den Kindern zum Selbstmord gedrängt. Im Leistungskatalog der Kassen heißt das "freiwilliges Frühableben".
Dagegen setzte sich ein "Kommando Zornige Alte" zur Wehr, das bei einer Protestaktion in Baden-Baden Silikonkissen und Fettbeutel auf flanierende wohlhabende Senioren warf. Ein Schocker, gewiss, aber vielleicht braucht es sogar mehr solcher heilsamen Schocks.

Auch in dieser Doku, vom ZDF auch als Demografiekrimi beworben, lautete die Botschaft also: Es geht um Geld und damit um Verteilung. Es ist deshalb unerlässlich, dass wir die Diskussion um demografischen Wandel und Klimawandel in einem ähnlichen Dreisatz von Ökonomie, Ökologie und Sozialem sehen wie die Diskussion um nachhaltige Entwicklung. Es geht um Alterung und Klimaschutz, es geht um neue Wirtschaftszweige, mit denen sich Geld verdienen lässt, Stichwort Solarenergie oder Life Sciences. Es geht aber immer auch um soziale Gerechtigkeit. So müsste der Titel des Vortrags also lauten: Mit dem Kassenrollator unter Palmen.

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Wie aber könnte eine Politik aussehen, die den ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen dieser Themen gerecht wird? Lernen können wir dabei vor allem von Ostdeutschland. Nirgendwo zeigen sich die demografischen Trends (und auch die zunehmende Trockenheit) so deutlich wie zwischen Elbe und Oder. Und nirgendwo hat die Debatte dabei so radikale Lösungen hervorgebracht wie in den schrumpfenden Städten in Schwedt, Hoyerswerda oder Görlitz. Dort hat man zuerst gelernt, dass mit der Arbeit und den Menschen auch die Sparkassen verschwinden, die Kommunikation und der soziale Zusammenhalt. Man hat gelernt, dass man Häuser nicht einfach abreißen kann, sondern auch dafür sorgen muss, dass dies von außen nach innen geschieht, sonst steht das Wasser in der Kanalisation. Man hat integrierte Stadtentwicklungspläne und Landesentwicklungspläne aufgestellt, in denen Parameter schulischer oder gesundheitlicher Grundsversorgung neu definiert werden mussten.

Vor allem aber hat man, hier und da, auch an einem Tabu gerüttelt. Muss nicht in Zeiten der Alterung und der Schrumpfung das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse neu diskutiert werden? Kann man wirklich überall in unserer Republik alles mit dem gleichen Maß messen? Liegt nicht auch eine Chance darin, manche Gebiete kontrolliert zu entvölkern und sich selbst zu überlassen? Muss nicht auf der Ebene der Raumplanung dasselbe passieren wie beim Abriss Ost: die Konzentration auf die überlebensfähigen Kerne? Kann man nicht sogar manche Regionen aus den Gebietskörperschaften von Bund, Ländern und Gemeinden entlassen, in der Hoffnung, dass sich dort alternative Lösungen entwickeln, jenseits der Bauordnung oder der Anschlusspflicht an die Wasserversorgung?

13.
Kommen wir am Ende unserer Reise zurück ins Klimahaus in Bremerhaven.  Die erste Station, die der Besucher dieses wunderbaren Museums auf seiner Reise entlang des 8. Längengrads Ost unternimmt, ist Isenthal in der Schweiz. Isenthal im Kanton Uri liegt an einer Grenze. Es ist die Grenze, wenn sie so wollen, zwischen der flachen Schweiz und den Bergen, zwischen den wachsenden Agglomerationen und den schrumpfenden Alpentälern. Das hat das kleine Nest mit seinen 500 Einwohnern bislang davon bewahrt, ein Auslaufmodell zu sein. Schließlich teilt die Schweizer Raumplanung ihre ländlichen Regionen in drei Typen: die periurbanen Räume, die alpinen Tourismuszentren und die peripheren Räume. Weil Isenthal von Luzern schnell erreichbar ist, haben sich auch einige Aussteiger dort niedergelassen, in Brandenburg nennt man solche Leute auch Raumpioniere.

Isenthal hatte also Glück. Seine Bevölkerung blieb im vergangenen und auch in diesem Jahrhundert stabil, sie ist nicht einmal besonders alt. Ganz anders dagegen in anderen Bergregionen der Schweiz. In vielen Tälern, die abseits der Touristenrouten liegen, trifft man nur noch die Alten. Mit andern Worten. Manche Bergregionen der Schweiz werden aussterben. Was aber bedeutet das für die Raumplaner?

Das Raumkonzept Schweiz, das derzeit neu überarbeitet wird, formuliert die Zukunftsszenarien für diese peripheren Räume dezent, aber bestimmt. "Die Entwicklung in diesen Räumen", heißt es da, "ist eher ungewiss. Insbesondere bei Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern und bereits lang anhaltendem Bevölkerungsrückgang stellt sich die Frage der Überlebensfähigkeit."

Noch deutlicher werden die Raumplaner des Büros "Metron", die einen alternativen Entwurf zum Schweizer Raumkonzept entwickelt haben: "Nur mit außerordentlich hohem Aufwand zu haltende alpine Räume", heißt es, "bereiten sich innerhalb der kommenden 15 Jahre auf den Rückzug der Grundversorgung vor und bleiben nur soweit besiedelt, wie es für Abenteuer-, Trekking- oder Jagdtourismus erforderlich ist."

Kein trotziges Festhalten am Grundsatz gleichwertiger Lebensverhältnisse ist das, sondern das Anerkennen der Realität. "Nicht zuletzt legt die Leitidee zugrunde", schreiben die Autoren des alternativen Raumkonzepts, "dass eine Zentralitäts-Hierarchie besteht. Dass die Existenz zentraler und peripherer gelegener, intensiver und extensiver nutzbarer Räume anerkannt wird, statt sie mit immer aufwändigeren Maßnahmen zu negieren."

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Keine rosigen Aussichten, gewiss, aber auch keine falschen Hoffnungen. Eine solche Kultur der Ehrlichkeit in Sachen Demografie und Klimawandel wäre auch in Deutschland wünschenswert. Schließlich drohen uns auch hierzulande, vor allem in Ostdeutschland, Versteppung und Entleerung. Schon heute gelten, nach den statistischen Kriterien der Vereinten Nationen betrachtet, die Prignitz und die Uckermark als unbesiedelt. 

Man kann Wahrheiten wie diese negieren, man kann sie aber auch, wie es eine Gruppe Architekten und Planer im Brandenburger Oderbruch machen, als Herausforderung begreifen. In einem virtuellen Oderbruchpavillon haben sie, zusammen mit Anwohnern und Initiativen vier Szenarien für diesen peripheren Raum entwickelt. Eines davon bedeutet, das Oderbruch zu entvölkern und stattdessen eine gigantische Plantage für nachwachsende Rohstoffe anzulegen.

Unsere Zukunft braucht also nicht nur Prognosen, sondern auch neue Bilder.

Ich danke Ihnen

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