Uwe Rada themenrezensionenwodka, messer und masuren

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DRUCKVERSION Wodka, Messer und Masuren

Wer sich auf Beckers masurischen Realismus von "Wodka und Messer" einlässt, kann in eine Welt eintauchen, die viel von dem erzählt, was im Westen verloren gegangen scheint, von Intensität statt Zerstreuung, von Existenzialität statt Identität, aber auch vom Abstumpfen und dem langsamen Untergang, dem Ertrinken

von UWE RADA

Inmitten einer masurischen Mischung aus sprechenden Messern, mordenden Seen, gierigem Sex und abkühlendem Dosenbier der Marke Warka sagt Kuba Dernicki einen Satz von philosophischer Tiefe: "Die Integration ist eine Fünfstufenrakete: Eins – man flieht; zwei – man gewöhnt sich; drei – man vergisst; vier – man erinnert sich; und fünf – man will zurückkehren, aber es geht nicht mehr."

Artur Becker, Schriftsteller, Chamissopreisträger, geboren 1968 im polnischen Bartoszyce und mit 16 Jahren nach Westdeutschland gezogen, wirft seinen Romanhelden Kuba Dernicki bei Stufe vier ins Geschehen. In W., einer namenlosen deutschen Kleinstadt, wo er mit seiner "deutschen Frau und zwei deutschen Kindern" lebt, erinnert sich Dernicki plötzlich an Marta, die Jugendliebe in Masuren. Auf der Flucht vor den kommunistischen Schergen war die oppositionelle Studentin im Eis des Dadajsees eingebrochen. Kuba ging für ein Jahr in der Knast, danach zog er, wie sein literarischer Schöpfer, nach Deutschland. Das alles erzählt Artur Becker auf den ersten 28 Seiten seines knapp 500 Seiten dicken Romans. Nachdem ihm Marta in den Träumen erscheint, macht sich Kuba mit seinem Citroen C5 auf den Weg nach Wilimy am Dadajsee. Im Mittelpunkt dieses Fünfstufenraketenromans steht also zweifelsohne Stufe fünf.

Kurz vor seiner Ankunft sieht Dernicki ein Hinweisschild: "Drei-Sterne-Hotel Justyna Star am Dadajsee in Wilimy". Der Rückkehrer reibt sich verwundert die Augen: "Zu seiner Zeit, im allmählich zerbröckelnden Sozialismus der frühen Achtziger, als es in den Läden nur Milch, Essig und Brot zu kaufen gab, waren solche bunten Schilder eine Seltenheit. Aber jetzt war die Landschaft fest in der Hand von Zockern, Dieben, Betrügern und Spekulanten, die die Gunst der Stunde zu schätzen wussten. Goldgräberstimmung schlug einem an jeder Ecke entgegen."

Dernicki schaut auf die masurische Landschaft von heute mit den Augen des Rückkehrers. Und auch auf das Personal, das sie bevölkert: Da ist Justyna Star, die attraktive Hoteldirektorin, mit der Dernicki alsbald eine leidenschaftliche Affäre beginnt; da ist Tante Ala, die Schwester seines Vaters, der ihr bei der Hochzeit ein Auge ausstach – und gleich dazu die eigene Frau ins Jenseits beförderte; da ist Alas ukrainischer Nichtsnutz und Geliebter Wojtek, der greise Pfarrer Kazimierz, von dem man nicht weiß, ob er eigentlich Jude oder Jesuit ist, und Janusz Król, der einstige Funktionär der Kommunisten, der auch nach der Wende noch die Geschicke der Stadt lenkt.

Man hat Artur Becker oft in die Schublade eines magischen Realismus gesteckt, eines barocken, geradezu übersinnlichen Erzählstils – und allzuoft ließ er das auch selbst geschehen. Auch in "Wodka und Messer" wird beschrieben, wie der zwölfjährige Kuba wegen seines dicken Bauchs eines Tages zum Arzt geschleppt wird. Der entdeckt auf einer Röntgenaufnahme Kubas toten und mumifizierten Zwillingsbruder. Nach der Operation wird Kuba wegen der Narbe am Bauch fortan Dwupępek genannt, Zweibauchnabel.

Doch Artur Becker braucht die Übertreibung, die Überzeichnung ins Surreale, er ist eigentlich kein Geschichtenerzähler, sondern zaubert sie hervor. Dann ist er ganz er selbst, wie er einmal bei den Fontanefestpielen in Neuruppin eindrücklich unter Beweis gestellt hat: Vor der Lesung aus "Wodka und Messer", das 2008 erschienen ist, trug Becker das gleichnamige Gedicht stehend und singend vor, das im Roman vom Ukrainer Wojtek stammt so etwas wie die Liebeserklärung eines Säufers an sein Zuhause sein soll: "Wodka und Messer,/Warmia und Masuren,/Würmer und Menschen!/Mein Hornissenland!/Wälder und Moränen,/Wasser und Monde!/Mein stachliger See,/der du immer Sommer und Winter heißt!" Das Publikum war begeistert: Nicht auf den Inhalt kommt es bei Becker oft an, sondern auf die Verpackung – und die ist opulent.

Artur Becker einen Romantiker zu nennen, wäre falsch, dafür ist er zu wenig der Welt zugetan, eher ist er ein Melancholiker, der so lange nicht ertrinkt, wie er schreibend die Dinge beim Namen nennt. Der Dadajsee ist deshalb eine Art literarischer Fixpunkt. Schon in seinem Erstling "Dadajsee" hat Becker der Landschaft Masurens die Aufwartung gemacht, bevor es ihn dann in "Das Herz von Chopin" in die alternative Szene Bremens zog, die mit einem schrägen Autohändler namens Chopin aus Masuren so ihre Probleme hatte. Mit "Wodka und Messer" kehrt Becker wieder an den Dadajsee zurück, der für ihn auch ein Symbol für den Verlust ist: "Jemand aus dem Dorf wusste einmal zu erzählen, dass der Dadajsee auf einem Auge blind sei. (…) Es hieß jedenfalls, ein Auge des Dadajsees sei vollkommen weiß, und dadurch sähe er mit dem anderen, dem gesunden, nicht die ganze Wahrheit über die Menschen, die an seine Ufer kämen oder in seiner Nähe lebten. Er sähe sie als Krüppel, als Missgebildete, jedem Körper fehle ein Glied, eine Hand, manchmal gar der Kopf."

Keine Metapher auf die Vertreibung ist das, denn die Deutschen, die lebten in der Welt des jungen Kuba Dernicki noch immer am See, wenn auch in einer eigenen Ortschaft. Hier die Protestanten, dort die Katholiken. Eher ist der Hinweis auf die fehlenden Gliedmaßen eine Art Phantomschmerz, den Dernicki, der Rückkehrer, nun umso intensiver spürt. Oder besser: dne er, einfach bleibend, betäubt. Je länger Kuba Dernicki in Wilimy weilt, desto mehr wird er selbst Teil des eigentümlichen Personals – bis er schließlich den Geheimnissen seiner Familie auf die Spur kommt. Stufe fünf eben.

Man hat Artur Becker oft vorgeworfen, dass er sein Thema immer wieder aufs Neue durch den Wolf drehe ohne sich dabei literarisch weiterzuentwickeln. Und noch ein Buch eines Emigranten über seine Rückkehr über den Osten brauche es ohnehin nicht, befand die Literaturkritikerin Sigrid Löffler nach der Lektüre von "Wodka und Messer".

Doch das ficht Becker, den Melancholiker, nicht an. Er liebt die Wiederholung, und sei es nur als Kopie. Das gilt auch für Kuba Dernicki. Schließlich ist auch Justyna Star, die Hoteldirektorin, nichts anderes als die Reinkarnation seiner Jugendliebe Marta. Das elegante Umschiffen, das den unweigerlich auftauchenden Problemen aus dem Weg gehen, ist seine Sache nicht, weder die von Dernicki, noch die von Artur Becker. Beide müssen durch ihre Geschichten durch. Beide müssen sie alle fünf Stufen der Fünstufenrakete Emigration durchleben.

Das kann man redundant finden. Wer sich auf Beckers masurischen Realismus einlässt, kann aber auch in eine Welt eintauchen, die viel von dem erzählt, was im Westen verloren gegangen scheint, von Intensität statt Zerstreuung, von Existenzialität statt Identität, aber auch vom Abstumpfen und dem langsamen Untergang, dem Ertrinken. Gleich am Anfang seiner Lesung in Neuruppin hat Becker damit kokettiert, die Deutschen würden ihn nicht verstehen. Dabei hat er sich, schon kurz nach der Ankunft in Deutschland, für die Deutsche Sprache entschieden. Zumindest für ihn scheint es eine Stufe sechs nicht zu geben.

Artur Becker: "Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken". Roman. Verlag Weissbooks, Frankfurt am Main 2008. 472 S., geb., 22,- €.


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