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DRUCKVERSION Das Tor zum Westen

Berlin vor der EU-Osterweiterung: Wirtschaftlich wird die Stadt davon kaum profitieren, aber für Künstler und Wissenschaftler ist sie längst ein faszinierender Anziehungspunkt

von UWE RADA

Für Klaus Wowereit begann das Jahr mit guten Vorsätzen. In seiner Neujahrsansprache setzte der Regierende Bürgermeister das Thema Osterweiterung ganz oben auf die Wunschliste. "Die Erweiterung der EU bringt große Chancen für Berlin", freute sich Wowereit und appellierte an die Berliner: "Nutzen Sie die Chancen, die sich aus dem Zusammenwachsen Europas ergeben. Besuchen Sie unsere Nachbarländer. Nutzen Sie die neuen Möglichkeiten für Unternehmenskooperationen über die bisherigen Grenzen hinweg. Setzen sie auf die dynamisch wachsenden Märkte."

Nun hat es also auch Klaus Wowereit gemerkt, der noch vor Jahresfrist beim Namen seines Osteuropabeauftragten passen musste und Aleksander Kwasniewski einmal als "Regierungschef der Volksrepublik Polen" angesprochen hatte: Der Countdown läuft. Gerade einmal zwölf Wochen sind es noch, dann wird Alteuropa um sein Alter Ego im Osten ergänzt, um zehn neue Länder, in denen 100 Millionen Menschen leben, und Berlin wird mitten drin sein, in dem, was man so beiläufig Osterweiterung nennt.

Zumindest geografisch. Wirtschaftlich dagegen droht die europäische Einigung an der Hauptstadt auch nach dem 1. Mai 2004 vorbeizuziehen. Ost-West-Drehscheiben, aus denen sich Unternehmer in die "dynamisch wachsenden Märkte" aufmachen, sind andere Städte und Ballungszentren in Deutschland geworden. Hamburg zum Beispiel mit seinem Hafen, das Ruhrgebiet, wo fast ein Viertel des deutsch-polnischen Außenhandels umgesetzt wird oder München, jene Stadt, in die es Sommer für Sommer auch die polnischen Studenten in Berlin zieht. In München gibt es schließlich Jobs, in denen man kein Almosen verdient, sondern auch Geld. Auch wenn es Klaus Wowereit nicht gerne hört: Berlin, das nach der Wende wie selbstverständlich diesen Titel für sich in Anspruch nahm, ist keine Ost-West-Wirtschaftsmetropole geworden, sondern eine Grenzstadt, kein Tor zum Osten, sondern das osteuropäische Tor zum Westen.

Aber was für eines! Nicht nur für polnische Putzfrauen, ukrainische Bauarbeiter oder litauische Autohändler ist Berlin die erste Stadt im Westen, sondern auch für die junge Szene zwischen Petersburg und Prag. Für russische Bands ist ein Auftritt in Mitte inzwischen ebenso ein Muss wie der Besuch westdeutscher Abiturienten in Wladimir Kaminers Russendisko. Im Club der polnischen Versager trifft man nicht nur Liebhaber des polnischen Kinos, sondern manchmal auch Olga Tokarczuk, eine der wichtigsten polnischen Autorinnen der Gegenwart. In den Clubs der Hauptstadt tummeln sich die polnischen Studenten der Europauniversität Viadrina in Frankfurt (Oder), und der ungarische Schriftsteller György Dalos bekennt: "Berlin ist für mich ein Ort zum Schreiben und zum Atmen."

Soviel Osteuropa in Berlin bleibt natürlich auch für den Westen nicht ohne Folgen. Für die Studenten der Slawistik haben sich Berlin und Potsdam in den vergangenen Jahren zu einer der ersten Adressen entwickelt, und der Filmemacher Hans-Christian Schmid, der mit "Lichter" im vergangenen Jahr die Kritikerherzen erwärmte, weiß: "Ohne den Umzug von München nach Berlin hätte ich diesen Film über die deutsch-polnische Grenze nicht drehen können." Keine Autostunde von der Grenze zu Polen entfernt, hat sich Berlin nolens volens zu einer kulturellen Metropole entwickelt, deren Anziehungskraft bis Warschau und Moskau, München und Wanne-Eickel reicht.

Warschau, Moskau, München, Wanne-Eickel - das ist auch der Raum, in dem sich Alexander Götz bewegt, weniger physisch allerdings als vielmehr virtuell. JOE-List nennt sich das Netzwerk, das Götz zusammen mit Jörn Grävingholt 1997 gegründet hat. Was als E-Mail-Verteiler für "Junge Osteuropa-Experten" (JOEs) begann, ist inzwischen zum Ort ganz realen Austauschs geworden. Von den 2.000 Abonnenten des Newsletters, in dem sich Veranstaltungshinweise, Wohnungsangebote und Recherchenachfragen finden, haben sich etwa 850 "JOE's" im ganz realen Netzwerk JOE-Fixe zusammengeschlossen. Dass fast die Hälfte von ihnen aus Berlin und Brandenburg kommt, ist für Götz kein Wunder. "Schließlich findet man hier die größte Dichte an Institutionen, die sich mit den östlichen Nachbarn beschäftigen und zugleich die bunteste kulturelle Szene". Diese Mischung aus wissenschaftlicher und kultureller Kompetenz, die nicht zuletzt die 100.000 russischen und polnischen Muttersprachler nach Berlin gebracht haben, macht die Stadt für Alexander Götz zu einer der ersten Adressen für "Junge Osteuropa-Experten" auf dem ganzen Kontinent.

Als Mitarbeiter im Bundestag steht Götz aber noch für eine andere Berliner Besonderheit. Oft sind es die Neuberliner, die die Lage Berlins im Osten des Kontinents am deutlichsten sehen: Regierungsumzügler wie Götz, Filmemacher wie Hans-Christian Schmid oder Schriftsteller aus Mittel- und Osteuropa. Vielen Berlinern, die mit der Mauer groß geworden sind, fällt der Blick aufs nahe Liegende dagegen schwer. Das gilt auch für die Berliner Landepolitik. Wer einmal in den "Europabericht" des Senats schaut, wird zwar auf allerlei Förderprogramme sponsered by Brüssel stoßen. Einen Hinweis auf das Faszinosum, das Berlin für viele JOEs aus Deutschland, Polen, Russland und anderen Ländern ist, findet man dort nicht.

Zu denen, die wegen der kreativen, offenen Atmosphäre nach Berlin gekommen sind, gehört auch Mateusz Hartwich. Drei Jahre hat der 25-jährige Absolvent der Viadrina in Slubice gelebt, zwei Jahre in Frankfurt (Oder), nun lebt er im Wedding, "im polnischen Viertel von Berlin", wie er sagt. Doch das faszinierende der Stadt, sagt Hartwich, ist nicht nur, dass man hier an jeder Ecke auf Polen trifft. "In Berlin kann man ihnen auch aus dem Weg gehen."

Auch wenn er sich selbst einen "Breslauer in Berlin" nennt, ist Hartwich längst in Europa angekommen. Sein Geld verdient er als Mitarbeiter der Grafik- und Übersetzungsagentur "Piktogramm", seine Freunde hat er in Breslau, Stettin, Madrid und Dublin, er spricht fließend deutsch, englisch und spanisch, er mag "Görli, Görli" und kann über den Nationalismus seiner Landsleute ebenso lachen wie über die Provinzpossen einer Metropole wie Berlin. Dass Mateusz Hartwich sein "Wigwam in Berlin aufgeschlagen hat", ist allerdings keine Entscheidung für die Ewigkeit. "Wenn es sich ergibt, ziehe ich weiter, schließlich steht mir ganz Europa offen", sagt er und schämt sich ein bisschen für das "Mondäne", das aus diesen Worten spricht. Aber warum soll Hartwich nicht auch ein "Breslauer in London" werden? Im Europa ohne Grenzen, das wissen auch seine Eliten, wird man an seinen Grenzstädten nicht mehr unbedingt Halt machen müssen.

Es sei denn, sie haben etwas zu bieten. Noch sind die Netzwerke der Studenten, Internetportale wie das deutsch-russische oo7-berlin.de, Vereine wie "MitOst" oder "Ostblick" der Stoff aus dem Europa in Berlin gemacht ist. Damit das auch in Zukunft so bleibt, sagt Alexander Götz, muss die Stadt aber in ihre Kompetenz als europäische Metropole investieren. Schleichende Abwicklungen wie die am Osteuropainstitut der Freien Universität oder überfüllte Sprachlabore bei den Slawisten an der Humboldt-Uni sind dagegen alles andere als eine Investition in die Zukunft. Ohne eine solche Zukunft aber wird Berlin für viele Osteuropaexperten tatsächlich nur Zwischenstation sein. So wie für die Hunderttausenden von Russen in den zwanziger Jahren, an die auch der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit so gerne erinnert. Nach ein paar Jahren haben sie Berlin wieder verlassen, sind weiter nach Paris oder zurück nach Moskau.

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