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DRUCKVERSION Polen lernen

Am 1. September vor achtzig Jahren begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen. Was aber wissen wir über die Zeit der deutschen Besatzung?

Von UWE RADA

Genau um 4.37 Uhr senken die Stukas ihre Nase. Mit sogenannten Jericho-Trompeten, weithin hörbaren Sirenen, attackieren die Sturzkampfbomber eine Stadt, deren 16.000 Einwohnerinnen und Einwohner ahnungslos schlafen. Die ersten Bomben fallen um 4.40 Uhr auf das Allerheiligen-Hospital. Insgesamt werden 29 große 500-Kilo-Bomben und 112 kleinere 50-Kilo-Bomben abgeworfen. Im Stadtzentrum sind 90 Prozent der Gebäude in Schutt und Asche gelegt, über den Rest der Stadt verteilt sind 70 Prozent der Gebäude zerstört. Unter den Trümmern liegen 1.200 Leichen. Wer heute vom einzigen Hotel der Stadt auf den ehemaligen Marktplatz schaut, sieht einen Park. Bis heute ist die Innenstadt von Wieluń eine offene Wunde.

Womit begann der Zweite Weltkrieg? Mit dem Überfall auf Polen, klar. Aber schon beim Wann und Wo gerät das Allgemeinwissen an seine Grenzen. War da nicht was mit dem Sender Gleiwitz? Ja, die Nazis haben behauptet, polnische Truppen hätten den deutschen Sender angegriffen, deshalb habe die Wehrmacht vor achtzig Jahren am 1. September 1939 "zurückgeschossen". So verkündete es Adolf Hitler in seiner Rundfunkansprache am 1. September um 10 Uhr. Gleiwitz, die Propagandalüge der Nazis, ist noch immer präsent.

Also die Danziger Westerplatte? Das polnische Militärdepot, eine Exklave in der dem Völkerbund unterstellten Freien Stadt Danzig, wird vom ehemaligen Linienschiff "Schlewsig-Holstein" beschossen, das zu dieser Zeit in der Danziger Bucht liegt. Die Kanonen werden um 4.47 Uhr abgefeuert. Doch die polnischen Truppen verteidigen die Westerplatte wie auch später die Polnische Post in der Innenstadt, beides Heldengeschichten, die dazu führten, dass viele Polen den Beginn des Zweiten Weltkriegs in Danzig verorten. Tatsächlich aber begann der Krieg nicht mit einer Heldentat und auch nicht mit einem fingierten Überfall, sondern mit einem Massenmord – der Vernichtung der Kleinstadt Wieluń 125 Kilometer östlich von Breslau.

In Deutschland kaum bekannt.

"Es gibt kaum eine polnische Familie, die nicht betroffen war und ist von der deutschen Besatzungsherrschaft von 1939 bis 1945. In Deutschland ist dieses barbarische Unrecht nur unzureichend bekannt." So beginnt der Aufruf, mit dem Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft seit November 2017 für ein "Polen-Denkmal" in der Mitte Berlins am Askanischen Platz werben.

Nicht nur der jüdischen Opfer der Besatzung Polens solle gedacht werden, sondern auch der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung. Jeweils drei Millionen Menschen fanden zwischen 1939 und 1945 den Tod. Auf dem Denkmal soll auf Deutsch und Polnisch stehen: "Wir gedenken der Opfer der deutschen Besatzung Polens 1939–1945. Wir ehren die Heldinnen und Helden des polnischen Widerstands. Für ein gemeinsames Europa".

Aber stimmt das überhaupt, dass das Wissen um das Unrecht der deutschen Besatzung nur "unzureichend bekannt" ist? Nein, sagt der Historiker Sven Felix Kellerhoff: "Es hat noch nie einen Staat gegeben, der länger und mit mehr Engagement selbst verursachte Verbrechen der Vergangenheit aufgearbeitet hat als die Bundesrepublik", argumentiert der Kritiker der Denkmalinitiative.Dem hält der Verleger Andreas Rostek von der Edition Fototapeta entgegen: "Das Wissen ist vorhanden. Es gibt viele Debatten, auch gemeinsame. Aber inwieweit ist das in der Gesellschaft präsent? Inwieweit ist es Gemeingut?" Man könnte auch hinzufügen: Wer weiß, dass der Zweite Weltkrieg mit der Bombardierung von Wieluń begonnen hat?

Denk mal an Polen

Unter der Überschrift "Denk mal an Polen" hat Rostek nun rund um den 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen ein umfangreiches Literaturprogramm auf die Beine gestellt. Lesen und diskutieren werden unter anderem Esther Kinsky, Ziemowit Szczerek, Emilia Smechowski, Piotr Paziński oder Brygida Helbig.

"Es gibt in Deutschland wenig Aufmerksamkeit für dieses Datum, das in Polen mit viel Empfindlichkeit begangen wird", sagt Rostek auf die Frage nach dem Warum seiner Initiative. "In Deutschland ist der 8. Mai als Datum des Kriegsendes präsenter. Das Ende des Krieges zu begehen ist für die Deutschen viel einfacher als an den Auftakt zu einem katastrophalen Verbrechen zu erinnern."

Rostek spricht in diesem Zusammenhang von einem "Verdrängungsmechanismus" und "weißen Flecken" im Wissen über den Alltagsterror während der deutschen Besatzung in Polen. "Die Tatsache, dass in Polen neben den drei Millionen Juden auch drei Millionen nichtjüdische polnische Bürger ermordet wurden, ist in Deutschland nicht präsent." Ein Denkmal alleine reicht Rostek aber nicht. "Es braucht auch einen Ort für eine Auseinandersetzung, die zu diesem Thema geführt werden muss."

Kaum Orte der Erinnerung

Solche Orte gibt es in Berlin bislang nur wenige oder sie haben andere Schwerpunkte. Im Volkspark Friedrichshain steht das "Denkmal des polnischen Soldaten und deutschen Widerstandskämpfers", es trägt die zweisprachige Inschrift "Für Eure und unsere Freiheit". Eingeweiht wurde es 1972, das DDR-Denkmal rückte, auf polnischer Seite, vor allem die Kämpfer der polnischen Volksarmee in den Vordergrund.

Erst 1995 wurde mit einer Zusatztafel auch an die Polnische Heimatarmee erinnert, die den Großteil des polnischen Widerstands gegen die deutsche Besatzung getragen hatte. Alleine diese Korrektur zeigt, dass man zunächst das Denkmal erklären muss, bevor es selbst etwas erklären kann.

Ein anderer, diskursiver Ort war einmal das Polnische Institut in der Burgstraße. Zu DDR-Zeiten gab es hier Platten von polnischen Underground-Musikern als Bückware, nach der Wende moderierte der Bürgerrechtler Wolfgang Templin, der enge Kontakte zur polnischen Opposition hatte, die Veranstaltungsreihe "Wege zum Nachbarn". Allerdings wurde das ­Institut mit der Entlassung seiner Direktorin Katarzyna Wie­l­ga-Skolimowska im Dezember 2016 von der nationalkonservativen PiS-Regierung in Warschau auf Linie gebracht.Das heimliche "Polnische Institut" in Berlin ist seitdem die deutsch-polnische Buchhandlung "Buchbund" in der Neuköllner Sanderstraße, die auch beim Programm "Denk mal an Polen" beteiligt ist. Zum Auftakt am 29. August diskutieren dort Emilie Mansfeld vom Deutschen Polen-Institut, der Publizist Kamil Majchrzak und der Historiker Jabub Sawicki zum Thema "Denk mal an Polen oder: Polendenkmal?"

In die Schulbücher

Kann ein Denkmal, ähnlich dem Holocaust-Mahnmal, der Auslöser für eine neue Diskussion über die Verbrechen der Deutschen in Polen sein? Marcin Wiatr ist sich da nicht so sicher. "Ein solches Denkmal wäre eher ein Akt der Symbolpolitik", sagt er. "Aber neben Symbolpolitik braucht es auch eine breite Auseinandersetzung." Die kann nach Ansicht von Marcin Wiatr nur in der Schule stattfinden.

Wiatr, geboren in Gleiwitz, studierte in Polen und Deutschland Germanistik und ist seit Jahren Sekretär bei der deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Er sagt: "Wenn die Generation der Zeitzeugen ausstirbt, muss man die Bildungspolitik neu justieren."

Bislang sieht der Rahmenlehrplan Geschichte für die Jahrgangsstufen 9 und 10 unter dem Schwerpunkt "Demokratie und Diktatur" nur die Behandlung des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts als Basismodul vor. Als "Opfergruppen" werden genannt: "Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle".

Allerdings gibt es ein Wahlmodul mit dem Thema "Deutschland und seine Nachbarn". Unter der Leitfrage "Deutsche und Polen: Feinde-Freunde-Fremde?" sind auch die "deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen für das deutsch-polnische Verhältnis" ein möglicher Unterrichtsstoff.

Anders aufbereiten

Ein ganz neues Angebot, das die Schulbuchkommission auf den Markt gebracht hat, sind die deutsch-polnischen Geschichtsbücher. Drei Bände sind bereits erschienen, im nächsten Jahr soll der mit Spannung erwartete Band über das 20. Jahrhundert erscheinen. "Der Zweite Weltkrieg wird in Deutschland als etwas unterrichtet, das man bereits kennt", erklärt Marcin Wiatr das Konzept. "Das muss heute anders aufbereitet werden, es muss auch verschiedene Perspektiven geben."

So erhoffe man sich auf polnischer Seite, dass in deutschen Schulen Themen wie die polnischen Teilungen oder der historische Zusammenhang rund um die Gedenktage an den Warschauer Aufstand behandelt werden. Umgekehrt würden die polnischen Schülerinnen und Schüler auch etwas über den deutschen Widerstand gegen Hitler erfahren.

Doch ganz so einfach ist das nicht. Zwar gibt es bislang keine Anzeichen dafür, dass die Warschauer Regierung die Arbeit am vierten Band behindert. Doch auch so sind die Hürden groß. Die für die Sekundarstufe 1 an Gymnasien entwickelten Geschichtsbücher sind in vielen Bundesländern nicht zugelassen, in Bayern etwa, weil die höfische Kultur der Stauferzeit nicht hinreichend behandelt sei.

Aber auch in der Berliner Robert-Jungk-Oberschule kommt das Schulbuch noch nicht zum Einsatz, obwohl es vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier sogar in der deutsch-polnischen Europaschule vorgestellt wurde. Als Grund nennt die Schule die hohen Kosten. Marcin Wiatr sagt deshalb: "Die Geschichtsbücher müssen ihren Weg in die Schule erst noch finden." Vorerst kommen sie vor allem dann zum Einsatz, wenn Schülerinnen und Schüler eine Klassenreise nach Polen antreten.

Endlich über Polen reden

Achtzig Jahre nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, sieht auch Wiatr zahllose weiße Flecken, zum Beispiel das Wissen um den Hitler-Stalin-Pakt. Denn dem Angriff der Deutschen auf Polen folgte am 17. September 1939 der Überfall der Sowjetunion auf Ostpolen. Sowohl Hitler als auch Stalin hatten bei der Unterzeichnung ihres Abkommens am 23. August 1939 Osteuropa in Einflusssphären aufgeteilt – und Polen nach den drei Teilungen im 19. Jahrhundert ein viertes Mal aufgeteilt.

Aber Wiatr bemerkt auch Fortschritte. "Der Warschauer Aufstand von 1944 und der Aufstand im Warschauer Ghetto ein Jahr davor werden heute nicht mehr so oft verwechselt." Das war nicht immer so. Vor seinem ersten Warschau-Besuch 1994 hatte der frisch gewählte Bundespräsident Roman Herzog in einem Interview mit der Zeit über den 50. Jahrestag des Ghettoaufstands gesprochen.

Tatsächlich ist der Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto lange präsenter gewesen als der Aufstand der polnischen Heimatarmee am 1. August 1944, bei dem zwischen 150.000 und 225.000 Zivilisten ermordet wurden und Warschau dem Erdboden gleichgemacht wurde. In diesem Jahr hat Außenminister Heiko Maas (SPD) in Warschau des Aufstands gedacht und zugleich die Opfer des Massakers von Wola gewürdigt. Alleine in diesem Stadtteil Warschaus starben 50.000 Menschen bei einem Angriff der Wehrmacht im August 1944.

Was mit einem Massaker am 1. September 1939 in Wieluń begonnen hatte, erlebte also fünf Jahre später einen weiteren mörderischen Höhepunkt. Umso weniger versteht es Marcin Wiatr, dass bis heute vom "Polenfeldzug" der Deutschen die Rede ist. "Bei diesem Begriff habe ich ein schlechtes Gefühl. Er blendet die zivilen Opfer schlicht aus."

Die vielen zivilen Opfer

Um die zivilen polnischen Opfer geht es auch Joanna Maria Stolarek. "Der Holocaust und die Shoa sind aufgearbeitet, alles andere ist etwas in Vergessenheit geraten", sagt sie. Stolarek ist im oberschlesischen Dobrodzień geboren, studierte Germanistik in Tübingen und arbeitet heute als Journalistin und Grenzgängerin zwischen Deutschland und Polen. Zuletzt moderierte sie die Diskussion "Opfer der deutschen Besatzungspolitik in Polen 1939–1945" sowie die Tagung "80 Jahre danach. Der deutsche Überfall auf Polen und der Beginn des Zweiten Weltkriegs in deutsch-polnischer und internationaler Perspektive".

Auch Stolarek hat beobachtet, dass es viele Wissenslücken gibt, nicht nur was den Beginn des Zweiten Weltkriegs angeht, sondern auch den Versuch der Nazis, Polen als Kulturnation auszulöschen. Sie erinnert in diesem Zusammenhang an die "Sonderaktion Krakau", bei der 183 Professoren der Krakauer Jagiellonen-Universität unter einem Vorwand in eine Falle gelockt und verhaftet worden waren. Anschließend wurden sie in die Konzentrationslager Dachau und Sachsenhausen verschleppt. "Die polnische Intelligenz auszulöschen war eine der ersten Schritte während der deutschen Besatzung in Polen", sagt Stolarek.

"Geht es in Deutschland um den Zweiten Weltkrieg", gibt Stolarek dem Verleger Andreas Rostek recht, "ist nicht selten dessen Ende am 8. Mai 1945 präsenter als der Kriegsbeginn am 1. September 1939." In Polen sei das anders, auch deshalb, weil das Kriegsende dort von der übergroßen Mehrheit nicht als Befreiung gesehen wird, sondern als Beginn einer neuen Unfreiheit. Die Besatzung wurde abgelöst von der verhassten kommunistischen Diktatur. In der DDR wurde dagegen früh, in der Bundesrepublik dann seit 1985 von Befreiung gesprochen.

Aber auch in Deutschland wünscht sich Stolarek mehr Augenmerk für den 1. September, auch wenn sie weiß, "dass das im Land der Täter natürlich das schwierigere Datum ist". Befreiung, das hat immer auch etwas mit Entlastung, vielleicht sogar mit Entschuldung zu tun. Umso wichtiger findet es die Journalistin, dass zum achtzigsten Jahrestag der deutsche Bundespräsident nach Wieluń fährt. "Der Zweite Weltkrieg begann mit einem Terrorangriff", sagt Stolarek. "Das weiß kaum einer in Deutschland. Wieluń ist das polnische Guernica." Es sei der Wunsch des dortigen Bürgermeisters gewesen, dass der Bundespräsident Wieluń besucht. "Das wird dann ein weiteres Symbol für die deutsch-polnische Versöhnung", hofft sie.

Und wie kann man jenseits solcher Staatsbesuche das Wissen breiter vermitteln? "Man muss immer wieder darüber reden", sagt Stolarek.


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