Uwe Rada themenpolenbeschleunigung und stillstand

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DRUCKVERSION Beschleunigung und Stillstand
Eine Reise durch Polens Zeitzonen in fünf Etappen

von UWE RADA

1.
Allein schon die Reise an die Grenze ist ein besonderes Erlebnis von Raum und Zeit.

Etwas mehr als eine Stunde braucht der Regionalexpress RE 1 von Berlin nach Frankfurt (Oder). Er verkehrt halbstündlich, also fast so oft wie die S-Bahn im Notfahrplan. Freilich ist Berlin damit nicht näher an Frankfurt und Polen gerückt, sondern Frankfurt näher an Berlin. Manche sprechen deshalb schon von Frankfurt als Berliner Vorstadt im Osten und vom RE 1 als Brain-Train.

In umgekehrter Richtung besteht diesbezüglich kein Grund zur Sorge. Für die meisten Berliner ist Ostbrandenburg schon Teil der asiatischen Steppe. Entsprechend groß ist die gefühlte Distanz. Noch immer wird die beliebte Frage: Wie weit ist es von Berlin zur polnischen Grenze mit 80-100 Kilometer beantwortet. Dabei sind es, von Hohenschönhausen über die B 158 nach Osinów Dolny nur 58 Kilometer. "Oder Center Berlin" hat der Besitzer deshalb auf die Ruine geschrieben, die den dortigen Basar beherbergt. Mit viel größerem Recht könnte der Bund als Bauherr auf dem neuen Humboldt-Forum das gleiche schreiben: "Oder Center Berlin". Die Polen wissen nämlich genau, wie weit Berlin von der Grenze entfernt ist.

Berlin-Frankfurt. Das sind inner-ostdeutsche Zeit-Raum-Dehnungen und -Ballungen. Sie enden abrupt, wenn man auf der Stadtbrücke steht, die Frankfurt und das polnische Slubice verbindet. Wer dort stehen bleibt und sich vielleicht noch im Kreis zu drehen beginnt, einmal, zweimal, immer schneller, die Augen schließt und dann, ganz langsam wieder zum Stillstand kommt, wird Mühe haben, sich zu orientieren. Gehören die Mietskasernen aus der Gründerzeit am Oderufer zu Polen oder Deutschland? Sind die jungen Leute, die die Brücke überqueren Polen, weil sie Polnisch sprechen oder Deutsche, die Polnisch gelernt haben? Warum sind die Promenaden auf der einen Uferseite leer, auf der andern aber voll? Wo spielt hier die Zukunft?

Die Oderbrücke ist die erste Station auf einer Reise durch fünf Zeitzonen in Polen – und sie hat eine verblüffende Botschaft parat. Vertraut nicht euren Erwartungen und Vorurteilen, flüstert sie uns zu, sondern lasst euch ein auf eine Reise durch Raum und Zeit in einem Land der Gegensätze.

Zu dem gehört, dass Dynamik und Wohlstand nicht dasselbe bedeuten müssen. In Frankfurt, immerhin reicher als Slubice, schrumpft sich eine Industriestadt auf den Status quo ante, ob gesund oder nicht, das sei dahingestellt. Slubice platzt hingegen aus allen Nähten. So wird an der Grenze sichtbar, wovon sonst keiner gerne spricht. Polen wächst, holt auf, beschleunigt. Ostdeutschland nimmt den Fuß vom Gas und lässt Dampf ab.

Und noch etwas können wir auf der Stadtbrücke zwischen Frankfurt und Slubice beobachten. Das Vakuum auf der linken und der Stau auf der rechten Oderseite ist Teil ein und derselben Wanderung. Der Westverschiebung der polnischen Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg folgt nun die polnisch-deutsche Bevölkerungsverschiebung nach dem Fall der Mauer. Westen, das scheint immer noch die Himmelsrichtung des Wohlstands und der Zukunft zu sein. Der Osten dagegen steht für Armut und Stillstand. So zieht es alle in den Westen, außer dem Kapital. Das wandert, entgegen der europäischen Hauptblickrichtung, mit dem Wind nach Osten. Dort sorgt es dann für Wohlstand und hinterlässt, wo es herkommt, Stillstand. Nichts mehr stimmt in dieser Welt. Nur der Fluss unter der Brücke, die Oder, strömt wie eh und je.

Wo alles in Bewegung gerät, werden die Karten neu gemischt. Auch das kann man an der Grenze, diesem Ort der Momentaufnahmen, beobachten. Deutsche wohnen in Polen, Polen im deutsche Plattenbau. In den Kneipen werden beide Sprachen gesprochen, die Hinweisschilder am Frankfurter Bahnhof sind zweisprachig, ebenso wie manche Kindertagesstätten. "Slubfurt", die Collage eines Künstlers aus den Wörtern Slubice und Frankfurt, ist nicht mehr nur Utopie und Provokation, sondern Teil des Alltags. Zu dem gehört aber auch, dass Slubfurt im Frankfurter Neubaugebiet Neuberesinchen so weit weg ist wie Polen. Außer beim Zigarettenkaufen.

Aber warum nur Slubfurt, warum nicht Berszawa oder Warschlin? Auch wenn die Stadtbrücke zwischen Frankfurt und Slubice den Grenzgängern gehört, der richtige Grenzverkehr rollt auf der A12. Touristen sind da ebenso unterwegs wie LKW-Fahrer und Schmuggler. Auch wenn es aus der Perspektive der Stadtbrücke so aussehen mag: Slubfurt existiert nicht um seiner selbst willen, sondern ist eingebunden in ein transnationales Netzwerk und Beziehungsgeflecht, das von Westpolen über Berlin bis ins Ruhrgebiet reicht.

Zu Recht hat Karl Schlögel deshalb vom einem Metropolitan Corridor zwischen Paris und Moskau gesprochen, an dem auch Frankfurt und Slubice liegen. Dieser Korridor, meint Schlögel, "ist ein Raum verdichteter Bewegung, mit Staus und Knotenpunkten. Die Städte, die im Metropolitan Corridor liegen, haben mehr miteinander zu tun als mit den Provinzen, die sie umgeben. Im Korridor herrscht Hochbetrieb. Unterwegs sind Exploratoren, Prospektoren, Fachleute für Tourismus, Verkehr, Energie, Dienstleistungen, Sanierungsspezialisten, Rohstoffaqkuisiteure, Abenteurer und Missionare. Im Korridor herrscht CNN-Zeit. Sie ist in Moskau nicht anders als in Warschau oder Berlin."

Schlögels Metropolitan Corridor ist eine Metapher für die neuen Räume der Verkehrs- und Kommunikationsstränge, der Netzwerke des Wissens und der Wissenschaft. Und er ist zugleich deren Ende, weil er diese Räume verdichtet und verengt wie eine Pipeline, die durch die Wüsten Zentralasiens von einem Knotenpunkt zum nächsten führt. Wer den Korridor verlässt, schreibt Schlögel, "fällt aus der CNN-Zeit heraus. Er ist nicht mehr erreichbar, nicht einmal durch die Briefpost, auf die kein Verlass mehr ist. Hier gibt es keine Highways. Hier gibt es vielleicht schöne Wälder, aber keine Hoffnung und keine Arbeit mit Perspektive. Während im Korridor die zivile Armada der Trucks rollt, leuchtet in der Dunkelheit, die jenseits der Korridors herrscht, der Mond. Tau fällt."

2.
Um die nächste Station unserer Reise zu erreichen, einen Bauernhof in der Nähe von Krosno Odrzanskie, verlassen wir den Korridor und radeln an der Oder entlang. Gleich hinter Slubice und dem Schmugglerdorf Urad taucht Klopot auf, wo im Sommer auf jedem Schornstein ein Storchenpaar sitzt. Früher sind hier auch die Binnenschiffe vorbeigekommen, doch das ist lange her. Die Oder ist keine Wasserstraße mehr, sondern ein Fluss der Auen, Störche und Touristen. Leider lässt sie sich nur selten vom Wasser aus bestaunen. Die letzte Reederei, die auf der Oder Flusskreuzfahrten angeboten hat, hat den Betrieb vor einigen Jahren eingestellt. Dann, wenn genug Wasser da ist, ist es zu kalt. Und wenn es nicht kalt ist, hat die Oder kaum Wasser.

Doch neben dem wirtschaftlichen mag es für die Reederei auch einen anderen Grund gegeben haben, die Oder vom Netz zu nehmen. Einer der letzten Kreuzfahrten zwischen Breslau und Stettin widmete die FAZ auf ihrer Reiseseite eine lange Reportage. Die Überschrift: "Die Inszenierung der Langeweile als Ereignis." Und wirklich: Wer mit dem Schiff auf der Oder entlang fährt, sieht Tag für Tag dasselbe: Wasser, Buhnen, Angler, die nur selten zurückgrüßen. Vielleicht hat deshalb mal ein Künstler Joseph Conrads Kongo-Roman "Herz der Finsternis" an Deutsche und Polen verteilt. Eine Flussfahrt auf der Oder ist immer auch eine Reise ins Innere des Selbst.

Nach mehreren Stunden Radfahren auf dem Oderteich und ein bisschen querfeldein stehen wir in Skorzyn, einem kleinen Dorf bei Krosno Odrzanskie. Außerhalb des Dorfs haben Wojciech Halicki und seine Frau Beata Halicka einen Öko-Bauernhof gebaut, der in seiner Große einem kleinen Gutshof kaum nachsteht, in Sachen Wasser und Energie aber autark ist. So schrumpft die Welt da draußen, die der Heimwehtouristen in Crossen oder die der Armut in den Dörfern zusammen auf die kleine, entschleunigte Welt eines Bauernhofs, zu dem nicht einmal Wasser- und Stromleitungen führen. Als Deutscher hat man dafür schnell einen Begriff parat: Aussteiger.

Doch die Halickis sind keine Aussteiger und Ökospinner, sie sind vielmehr Pioniere eines global erfolgreichen ökologischen Landbaus. Die Pflanzenkläranlage, die Wojtek Halicki mit den Mitarbeitern seines Instituts für angewandte Ökologie entwickelt hat, wurde inzwischen in mehr als 2.000 polnische Gemeinden verkauft, meist in den Osten des Landes.

Aber auch die Landwirtschaft boomt in Skorzyn. "In Polen setzen immer mehr Bauern auf industrielle Landwirtschaft und EU-Beihilfen", sagt Wojtek. "Es gibt aber noch viele kleine Höfe, die davon leben, ihre Milch oder ihr Getreide bei der Genossenschaft zu verkaufen – dabei erzielen sie aber immer niedrigere Preise." Wojtek und Beata wollen dagegen einen dritten Weg gehen. Sie wollen zeigen, dass sich Ökoanbau oder Streuobstwiesen rentieren.

Auf einem Rundgang über die fast 400 Hektar großen Felder, Wiesen und Wälder des Instituts finden sich zum Beispiel Obstbäume, die nach einem Jahr auf resistente Stämme aufgepfropft werden, oder Gemüseplantagen, in denen verschiedene Sorten auf Böden unterschiedlicher Qualität gezogen werden. Wojtek versucht, alte Sorten anzubauen, um die genetische Vielfalt zu erhalten. Von genetisch manipuliertem Saatgut hält er nichts – wie die meisten Bauern in Polen. Sechs Mitarbeiter beschäftigt sein Institut. In Skorzyn sind die Halickis der größte Arbeitgeber.

Beata Halicka, Germanistin und Historikerin, pendelt derweil zwischen Skorzyn und der Viadrina, der Europauniversität in Frankfurt, wo sie den Forschungsschwerpunkt Oder leitet. So ist das Leben in dem Dorf bei Krosno beides: Leben in der Einsamkeit und Knotenpunkt im Netz der Global Villages. Auch außerhalb des Metropolitan Corridor gibt es CNN-Zeit. Und manchmal kann man sie sogar abschalten. Auch Wölfe besuchen mitunter den Hof in Skorzyn.

3.
Die nächste Station ist Warschau. Dorthin zu kommen, ist nicht leicht. Beata fährt uns zum kleinen Bahnhof in Budachow, wo der erste deutsch-polnische Heimatverein in Polen entstanden ist. Sein Name "Nasz Budachow/Unser Baudach". Deutsche Vertriebene aus Baudach und polnische Vertriebene, die aus der heutigen Ukraine stammen, treffen sich regelmäßig zum Geschichten erzählen, schreiben die Ortschronik fort und kochen, wie sie meinen, die besten Pierogi in ganz Polen. Mit dem Verkauf der Teigtaschen haben sie sogar das Startkapital für die Sanierung der Dorfkirche gesammelt.

Von Budachow geht es mit dem Pociag Osobowy Richtung Rzepin. Dort ist man wieder im Korridor und hat Anschluss an den Euro-City Berlin-Warschau.

Viel ist über den Berlin-Warszawa-Express geschrieben worden, und wahrscheinlich ist schon alles gesagt. Über die Bisnesmeny, die im Speisewagen über ihren Bilanzen hocken, über die Experten in Sachen deutsch-polnischer Zusammenarbeit, die zwischen den Hauptstädten pendeln, über die Putzfrauen, die sich mehr als den Bummelzug leisten können. Das alles ist wahr, und doch wieder nicht. Der Kontrast im Berlin-Warszawa-Express ist der zwischen ICE-Publikum und dem Charme der PKP. Selbst der Service, sagte letztens eine Studentin, werde immer schlechter. Weil alle englischsprachigen Polen in England arbeiteten, hätten nun die Zurückgebliebenen die PKP übernommen – und die sprächen halt nur Polnisch.

Nett war das nicht, doch die Bewegung stimmt. Fast zwei Millionen Polen haben nach dem EU-Beitritt das Land verlassen. Polen, das Land der Beschleunigung, das vor der Euro 2012 noch einmal richtig Gas gibt, muss das Tempo mit denen schaffen, die an Tempo nicht gewöhnt sind. So entweicht also immer wieder Luft aus dem Kessel. Das ist das eigentlich sympathische an einer Fahrt mit dem Berlin-Warszawa-Express.

Weniger sympathisch ist die Ankunft in Warzawa Centralna. Mag Polens Hauptstadt mit ihren Wolkenkratzern gleich New York in den Himmel stürmen – im Untergrund sieht es noch so aus wie in den 70er Jahren, als Moskau dem Satelliten in Polen nach dem Kulturpalast auch einen unterirdischen Hauptbahnhof spendierte. So schreibt sich also der Kontrast ein ins Bild der polnischen Metropole. Oben hui und unten pfui.

Noch deutlicher war dieser Kontrast, wenn man vor ein paar Jahren auf dem Oberring des Stadions Dziesieciolecia stand. Hier im Stadtteil Praga, auf der anderen Seite der Weichsel, beginnt Polen B, das Armenhaus des Landes. Im Stadion hatten Händler ihre Waren ausgebreitet, Schmuggelgut zumeist oder gefälschte Markenprodukte. Sie verkauften Zigaretten, Wodka, Unterwäsche, Hundefutter, Plastikpalmen, Fahrräder, Hochzeitskleider, Levis-Jeans. Manchmal standen alte Frauen zwischen den Händlern, mit nichts als einem Sack Kartoffeln oder ein paar Zwiebeln in der Hand.

Weiter unten, vor dem Stadion, ging es geordneter zu. Statt wackliger Tische gab es richtige Marktstände, Gassen, geordnet nach dem Sortiment der Waren. Hier fand man Elektroartikel, Autozubehör, Textilien. Alle Sprachen des Ostens waren rund um das Stadion in Praga vertreten: Polnisch, Russisch, Ukrainisch, Lettisch, Vietnamesisch. Der "Jarmark Europa", wie der Markt ganz offiziell hieß, war einer der großen Basare Osteuropas. Nachdem er vom Plac Defilad rund um den Kulturpalast Anfang der Neunziger ins Stadion gezogen war, war er umsatzmäßig sogar das größte Unternehmen in Polen. Und er war Teil einer grenzüberschreitenden Basarwirtschaft, die von der deutsch-polnischen Grenze über den Kalinowski Rynek in Czernowitz bis zum Markt "am siebten Kilometer" in Odessa reicht.

Auf dem Oberring des Stadions sah man, auch das gehört zum Polen der zwei Geschwindigkeiten, auch das boomende Warschau mit seiner glitzernden Skyline. Von der Börse zum Basar und vom Basar zur Börse waren es kaum ein paar Kilometer Luftlinie. Dazwischen lag das, was die Politikwissenschaftler gerne als Transformation bezeichnen.

Die besonders optimistische Lesart dieser Art von Modernisierung ging so: Wer nach der Wende und der Beschleunigung zum Turbokapitalismus aus der Umlaufbahnbahn geworfen wurde, geht auf den Basar. Dort verkauft er Waren und akkumuliert Kapital. Je erfolgreicher er in der informellen Ökonomie ist, desto schneller kommt er an in der Realwirtschaft. Dann wird auch der Basar überflüssig, denn Wurst und Käse, Jeans und CD's kauft man dann in der Shopping-Mall. So lautete das Lehrbuch vom Übergang der Planwirtschaft in den Turbokapitalismus der Zukunft.

Den Basar am Stadion von Praga gibt es nicht mehr, weil es das Stadion von Praga nicht mehr gibt. An der gleichen Stelle wird derzeit das Warschauer Nationalstadion aus dem Boden gestampft, Polens Visitenkarte für die Euro 2012, die das Land zusammen mit der Ukraine austrägt. Doch die informelle Ökonomie gibt es noch immer in Polen. 29 Prozent aller Wirtschaftsleistungen werden dem Fiskus entzogen. Damit liegt Polen zwischen Deutschland mit 17 Prozent und dem übrigen Transformationsstaaten mit 40 Prozent.

Was all die Lehrbuchautoren und Statistiker nicht verraten haben: Der Turbokapitalismus produziert nicht nur Gewinne und Gewinner, er hinterlässt auch Ausschuss. Die Kluft wird also größer in Polen. Nicht nur zwischen Stadt und Land, auch in den Städten selbst gibt es den Unterschied zwischen CNN-Zeit und Stillstand. Dass alle gemeinsam die Leiter hinaufsteigen, war ein schöner Traum. Die Wirklichkeit sieht anders aus, wie Börse und Basar noch immer zeigen.

Nur eines haben beide gemeinsam. Börse und Basar funktionieren, bei allen Unterschieden, nach dem selben Muster. Top oder Flop, No risk no fun. Dazwischen gibt es nichts. Die Hängematte, diese Inkunabel des Sozialstaats aus der Sicht der Neoliberalen, heißt in Polen hamak. Bequem hört sich das nicht an.

4.
Anders als Karl Schlögel hat der kalifornische Soziologe Manuel Castells andere Bilder für die neue Produktion von Zeit und Raum gefunden. Space of flows nennt er sie oder Space of Place, Raum der Ströme und Raum der Orte.

Der "Raum der Ströme", das sind nicht nur die Daten- und Finanzströme der Konzerne, sondern auch die zunehmenden Informations- und Verkehrsströme. In der modernen Netzwerkgesellschaft, sagt Castells, bestimmt nicht länger der Raum die Zeit, sondern die Zeit den Raum. Der Raum der Ströme ist der Raum, in dem die Uhren alle gleich schlagen.

Im Raum der Orte dagegen herrscht keine CNN-Zeit, sondern Zeit im Überfluss. Hier ist man nicht "on the road", sondern sitzt auf der Bank vor dem Haus und wartet auf die Fahrradklingel, die den Briefträger ankündigt. Im Raum der Orte geht man nur selten in ein Internetcafé, dafür umso öfter hinunter zum Fluss und lässt ein paar Kieselsteine übers Wasser springen. Im Raum der Orte ist die Tür nach draußen oft versperrt, auch wenn die Autos frisiert sind und gut 100 PS haben.

Doch es gibt noch einen dritten Raum, einen aus dem es kein Entkommen mehr gibt. Auch dafür hat Manuel Castells einen Begriff. Er nennt sie die "Räume der funktionalen Irrelevanz". Nicht mehr durch "soziale Ausbeutung" würden diese Regionen geschädigt werden, sondern durch komplette Bedeutungslosigkeit. Castells wörtlich: "Wir werden einen Tag sehen, an dem es ein Privileg sein wird, ausgebeutet zu werden, denn noch schlimmer als Ausbeutung ist, ignoriert zu werden."

Auf also dahin, wo nichts mehr geht. Dorthin, wo die Zeit tatsächlich stillsteht. Auf also nach Bialowieza, in den letzten Urwald Europas, in dem einst August II. jagte, später dann die Zaren und noch später Hermann Göring. In jenen Wald, in dem die Wisente heute noch frei leben, dorthin also, wo alle Zivilisation und alles Tempo der Moderne zum Erliegen kommt. Bialowieza, das ist nicht nur ein Ort, es ist lau Simon Schama, dem großen Essayisten der Natur als Imagination, auch ein Beispiel dafür, wie die Natur das Denken derer erobern kann, die einmal angetreten sind, sich selbige zu unterwerfen.

Schon am Warschauer Ostbahnhof erinnert nichts mehr an New York, nichts an Daniel Libeskinds luxuriösen Wohnturm "Zlota 44", dessen Weiterbau der Finanzkrise zum Opfer gefallen ist, nichts an die 200 Gated Communities, hinter der sich die reichen Warschauer verschanzen, nichts an Zaha Hadids futuristischen Wolkenkratzer, der einmal sogar den Kulturpalast überragen soll. Der Ostbahnhof in Warschau ist, wie jeder Ostbahnhof Europas, ein Bahnhof des Ostens.

Die Zeit der Eurocity Züge ist nun vorbei. Nun heißt es umsteigen in die "Koleje Mazowieckie" und in den "Pociag Osobowy" der PKP. Schon die Fahrt nach Bialowieza ist ein Kampf gegen die Kräfte der Entschleunigung. Wie an einem unsichtbaren Gummizug hängt der Zug nach Siedlce, je weiter er nach Osten kommt, desto langsamer wird er. Erst nach mehrmaligem Umsteigen und fünf Stunden Bahnreise erreiche ich Hajnowka. Von dort bringt mich ein Taxi zum Dwor Soplicowo, dem einzigen Hotel mit Internet in Bialowieza.

Je mehr die Geschwindigkeit auf diesem Weg ans Ende der westlichen Welt abnimmt, desto öfter habe ich mich gefragt: Was will ich dort? Was suche ich in Bialowieza? Ist es nur die Arbeit an meinem Buch über die Memel, zu der der Mythos der litauischen Wälder am Mittel- und Oberlauf ebenso gehört wie die multikulturelle Welt in der ehemals preußisch-litauischen Memelniederung? Ist es die Suche nach dem letzten Urwald Europas und damit dem letzten Ort, der sich der Kolonisierung der Natur und unseres Denkens widersetzt? Oder ist es die Außengrenze der Europäischen Union, die peu a peu die Mauer ersetzt, die vor zwanzig Jahren zwischen dem Westen und dem so genannten "Ostblock" niedergerissen wurde? Ich kann die Frage nicht beantworten. Wahrscheinlich ist es von allem ein bisschen.

Auch am nächsten Tag bleibt vieles im Ungefähren? Robert, mein Guide, führt mich durch die Kernzone des Urwalds, durch einen Wald, der mit seinem Totholz aus der Froschperspektive eher horizontal wirkt als vertikal. Er erzählt vom Versuch, den Wald auszubeuten und der adligen Jagdleidenschaft, die dem entgegenstand. Und er bringt mich zur Grenze. Eine zwanzig Meter breite Schneise trennt die Europäische Union von Belarus – und damit auch die Populationen der Wisente. So hat die Sicherung der EU-Außengrenze also dafür gesorgt, dass es zwei letzte Urwälder in Europa gibt: die Puszcza Bialowieska in Polen und die weißrussische Beloweschskaja Puschtscha. In der wurde übrigens, Ironie der Geschichte, im Dezember 1991 die Auflösung der Sowjetunion beschlossen.

Robert, mein Guide, freut sich, dass ich seine Leidenschaft für die Geschichte des Urwalds teile. Am Schluss erzählt er, dass er sich selbständig gemacht habe, eine kleine Pension im Nachbardorf. Heißt das, dass der Tourismus die einzige Chance ist für dieses Flecken Erde am östlichen Ende Polens, frage ich ihn. Ja und nein, antwortet er. Der Tourismus ist wichtig, aber die Puszcza ist genauso wichtig. Ohne Urwald kein Tourismus. So muss ich mich also revidieren. "Räume der funktionellen Irrelevanz" habe ich nicht in Bialowieza gefunden, sondern Räume des Innehaltens und des Nachdenkens. Manche würde sogar sagen: nachhaltige Räume.

5.
Zwei Abende vor der Rückreise hat mich die CNN-Zeit wieder. Im Dwor Soplicowo hat sich außer mir auch eine polnisch-deutsch-amerikanische Softwarefirma einquartiert. Incentive, einmal im Jahr, erklärt mir ein polnischer Programmierer. Und beklagte sich sofort über seine Kollegen aus den USA. Mit den Deutschen klappt das ja halbwegs mit der gemeinsamen Unternehmenskultur, aber die Amerikaner? Die wollen nur das schnelle Geld. Aufkaufen, ausschlachten, abstoßen! Nein, noch habe die amerikanische Mutterfirma nichts dergleichen verlauten lassen, aber würde es Sie überraschen, fragt er mich? In der Welt der verschiedenen Geschwindigkeiten, auch der der Lebensentwürfe, stehen die Polen den Deutschen offenbar näher als den USA. Wegen der Heimatverbundenheit, sagt der Programmierer, es ist doch nicht normal, dass der Arbeitsmarkt so viele Familien auseinanderreißt.

Die Heimatverbundenheit war es auch, die den Direktor der polnischen Niederlassung den Vorschlag unterbreiten ließ, das diesjährige Treffen in Bialowieza abzuhalten. Das erzählt mir der deutsche Vizedirektor auf der Rückfahrt. Zu sechst sitzen wir im VW-Transporter auf dem Weg zum Warschauer Flughafen, getönte Scheiben, Fahrer mit Sonnenbrille, viel zu hohe Geschwindigkeit. Offiziell, so hat es der polnische Chef beschieden, dürfe ich nur bis Hajnówka mitfahren – wegen des Versicherungsschutzes. Kaum im Wagen, meinten Polen, Deutsche und Amerikaner unisono: Wir nehmen dich natürlich mit nach Warschau und setzen dich am Bahnhof ab.

Die dreistündige Autofahrt durch Polen B war das genaue Gegenteil der Hinfahrt. Je mehr wir uns Warschau näherten, desto mehr nahmen die Gespräche Fahrt auf. Und desto unverständlicher wurde den Deutschen und Amerikanern, warum sie, bitteschön, ans Ende der Welt fahren mussten, um sich zwei Abende mit den Kollegen aus Polen zu treffen. "Unser Chef wollte zeigen, wie schön die Natur bei uns ist", erklärt einer der Polen. "Ach was, Natur", sagt ein Deutscher. "Genauso gut hätte man das auch in einem Tagungshotel am Warschauer Flughafen veranstalten können."

Der Mann hatte recht. Der polnische Direktor hatte nämlich eines vergessen: Eine Führung durch den Urwald war im engen Zeitplan nicht vorgesehen. Eine Fototapete im Konferenzraum des Flughafenhotels hätte es auch getan.

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