DRUCKVERSION
Ostseeküste auf zwei Rädern
Eine Reise von Riga und Tallinn mit dem Rad ist längst kein Geheimtipp
mehr. Vor allem Estland ist ein Fahrrad-Musterland
von UWE RADA
Global Bike. Bei der Bikernieku Straße kommt es nicht so sehr darauf
an, sie auf dem Stadtplan zu finden. Entscheidend ist die Hausnummer.
Immerhin gehört die Bikernieku zu den großen Ausfallstraßen
in Riga. "Immer die Brivibas Straße entlang, dann schräg
rechts in die Bikernieka, und ihr werdet das Fahrradgeschäft finden",
hatte unsere Bekannte gesagt. Dass die Bikernieka mehrere Kilometer lang
ist, hat sie verschwiegen. Immerhin: Wir waren froh, dass es in Riga überhaupt
einen Fahrradladen gibt. Mit gebrochenem Vordergepäckträger
radelt es sich schlecht bis nach Tallinn.
Eine halbe Stunde später stehen wir vor dem "Global Bike"-Laden
in der Bikernieku Straße 11. Wie durch ein Wunder sind alle Autos
und Brummis im Berufsverkehr in ausreichendem Abstand an uns vorbeigebraust.
Noch dankbarer sind wir darüber, dass das Einzige von zwei Fahrradgeschäften
in Riga auch das passende Ersatzteil auf Lager hat. Nach dem Bruch des
Gepäckträgers auf einer Schotterpiste im Kurland sind wir schlappe
dreihundert Kilometer ohne Vorderpacktaschen gefahren. Achthundert Kilometer
haben wir noch vor uns. Da kommt "Global Bike" gerade recht.
Nachdem alles montiert ist, gibt uns der Azubi noch einen Tipp. "Wenn
ihr Richtung Pärnu wollt, nehmt am besten den Vorortzug nach Saulkrasti.
Es macht keinen Spaß, im Berufsverkehr durch Riga zu radeln."
Aber welcher Vorortzug fährt uns nun von der Bikernieku Straße
zurück zum Rigaer Stadtzentrum?
Lange Zeit galt Radfahren im Baltikum als Geheimtipp. Das ist vorbei,
wie schon die zahlreichen Radwege zeigen, die in Litauen, Lettland und
Estland ausgewiesen sind. Es gibt den noch recht neuen Küstenradweg
Nummer 10 in Litauen, der von der Kurischen Nehrung zur lettischen Grenze
und in die andere Richtung bis zum Memeldelta bei Rusne führt. In
Lettland gibt es inzwischen zehn thematische Radtouren. Eine von ihnen
führt über den Gauja-Nationalpark ins Landesinnere bis zum Grenzort
Valka und dort weiter bis nach Tartu und Narva in Estland. Man kann aber
auch an der Küste bleiben und um das Kap von Kolka zur Bucht von
Riga radeln. In Estland führt der R1 von der lettischen Grenze über
Pärnu und die estnischen Inseln an der Küste entlang bis in
die Hauptstadt Tallinn. Wir entscheiden uns für die Küste. Schließlich
soll die Tour durchs Baltikum Teil eines großen Ganzen sein –
die Umrundung der gesamten Ostsee. Auch dafür gibt es inzwischen
einen Begriff – "Euro Velo 10".
Saulkrasti. Der Tipp des Lehrlings von "Global Bike" mag gut
gemeint gewesen sein, doch nicht gut genug. Vielmehr hätten wir einen
Vorortzug von Riga bis an die estnische Grenze nehmen sollen – wenn
es den geben würde. So sind wir auf dem Weg von Saulkrasti bis Pärnu
auf die Autobahn "Via Baltica" angewiesen. Das Prestigeprojekt
der EU, das von Warschau über Riga und Tallinn nach Helsinki führen
soll, ist auf unserem Streckenabschnitt noch Baustelle. Statt an einsamen
Küstenstraßen entlang zu radeln, geht es dreißig Kilometer
lang im Rhythmus der Baustellenampeln: Ob beim Ausbau der Rennstrecke
auch ein Radweg vorgesehen ist, können wir nicht herausfinden. Wir
machen ein paar Fotos und nehmen uns vor, sie an die Grünen nach
Brüssel zu schicken. Oder an die Regierung in Riga. Was nützt
die Ausweisung von zahlreichen Radwegen, wenn man an der entscheidenden
Stelle auf die Autobahn muss.
Aber Saulkrasti war immerhin ein guter Start. Kaum waren wir aus dem Zug
gestiegen, wehte uns Ostseeluft um die Nase. Bis zum Strand waren es keine
fünf Minuten. Da störte nicht, dass hinterm Bahnhof die LKW
auf der Via Baltica entlang donnerten. Bis zum Bau der Fernverkehrsstraße,
hatte unsere Bekannte in Riga gesagt, haben es Saulkrasti und sein siebzehn
Kilometer langer Strand durchaus mit dem Ostseebad Jurmala aufnehmen können.
Was auch sie nicht wusste: In Saulkrasti gibt es sogar ein Fahrradmuseum.
Janis Seregins und sein Sohn Guntis haben es als kleines Privatmuseum
aufgebaut und über die Jahre allerhand Skurrilitäten gesammelt.
Prunkstücke sind das erste Hochrad in Lettland, das 1888 von der
Firma Simplex in Holland gefertigt wurde, sowie ein englisches Rad aus
Coventry, eines der ersten mit Luftreifen. Janis, der 1959 in Saulkrasti
geboren wurde, hat seine Liebe fürs Fahrrad erst spät entdeckt,
wie er eingesteht. Anfangs begeisterte er sich für Autos. Doch das
dürfte ihm der Bau der Via Baltica inzwischen verleidet haben. Ein
Fahrradmuseum in Saulkrasti ist ein Statement, auch wenn die neunhundert
Fahrradtypenschilder aus Osteuropa, die zahlreichen Klingeln und Lampen,
wohl eher der Sammelwut entsprungen sind.
In Janis Radmuseum erfahren wir auch, dass wir auf unseren Zweirädern
im Baltikum keineswegs Pioniere sind. Schon in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts hatten sich in und um Riga zahlreiche Fahrradclubs
gegründet. Der wahre Pionier dieser Zeit war der Mechaniker Aleksander
Leutner. Der hat in Riga 1886 die erste Fahrradwerkstatt Russlands gegründet.
Ob sie an derselben Stelle entstanden war, an der sich heute "Global
Bike" befindet, haben wir nicht herausgefunden.
Pärnu. Fünf Kilometer vor der Grenze können wir die Via
Baltica verlassen. Wir glauben es kaum. Von nun an geht es tatsächlich
auf kleinen Küstenstraßen weiter. So haben wir uns das Radeln
an der Ostsee vorgestellt. Geteerte Wege ohne Autos, Wälder und Dünen
und eine See, die immer wieder zwischen den Kiefern hindurchschimmert.
Vor allem Estland, hat uns die Bekannte in Riga verraten, ist ein Paradies
für Radler. Einzige Einschränkung, meinte sie, sei der Bitumen.
Der rieche mitunter gewöhnungsbedürftig. Sie sollte Recht behalten.
Kaum haben wir den Minigrenzübergang in Ainazi hinter uns, weht uns
der Duft frisch geteerter Radwege in die Nase. Noch erstaunlicher ist
die Tatsache, dass von nun an alle Radwege ausgeschildert sind. Auch das,
finden wir, sollte Brüssel erfahren: Estland ist das Fahrradmusterland
im Baltikum.
Und Pärnu ist eine Stadt wie aus dem Katalog. Ganz in Weiß
behaupten sich die eleganten Sommerhotels aus den zwanziger Jahren und
nehmen an der Promenade des Kurorts die Touristenparade ab. Es weht ein
Hauch von Skandinavien über der Stadt. Die Hotels, Villen und Kureinrichtungen
brauchen kein Abstandsgrün, um zur Geltung zu kommen, ganz unprätentiös
sind sie Teil der Landschaft, hineingebaut in den Kiefernwald, Landschaftsstadt.
Dazu der kontinentale Sommer. Mediterranes Baltikum. Kein Wunder, dass
die Gäste wiederkommen. Pärnu ist tatsächlich zurück
in den Katalogen der Reiseveranstalter. Für die Tallinner ist es
ohnehin das Sommerbad geblieben. Pärnu, die weiße Stadt, hat
uns der Reiseführer versprochen. Er hat sein Versprechengehalten.
Erst am Abend sind wir hier angekommen. Ein Hotel haben wir nicht suchen
müssen, Pärnu hat einen Campingplatz, der keine Wünsche
offen lässt. Auf ihm finden wir auch die Mitradler, die wir seit
unserer Ankunft in Ventspils vermisst hatten. Trotz der Tatsache, dass
das Fahrradfahren im Baltikum kein Geheimtipp mehr ist, sind bislang nur
wenige Enthusiasten auf zwei Rädern begegnet. So wenig, dass uns
vor Pärnu ein paar freche Jungs zugerufen hatten: "Crazy Germans".
Vermutlich hatten sie sogar Recht. Wenn überhaupt, sind die Deutschen
die würdigen Nachfolger von Aleksander Leutner, dem ersten Radhändler
im Russischen Reich. Auch auf dem Campingplatz von Pärnu treffen
wir nur auf deutsche Radler. Die anderen Gäste kommen aus Finnland
– mit dem Wohnmobil.
Beim Frühstück am nächsten Morgen – Coffee to go
auf einer Parkbank an der Strandpromenade – besprechen wir die nächsten
Etappen der Tour. Von Pärnu können wir entweder über den
Binnensee Vörtsjärv in die Universitätsstadt Tartu und
von dort weiter nach Narva an die russische Grenze fahren. Oder wir bleiben
an der Küstenstraße und radeln über die estnischen Inseln
weiter nach Tallinn. Nach den guten Erfahrungen im Radelmusterland bleiben
wir bei unserem Plan – und an der Küste. Schließlich
wollen wir weiter auf unserer "Euro Velo 10" unterwegs sein,
entlang am finnischen Meerbusen bis Petersburg und Helsinki. Und dann
die Königsetappe – der bottnische Meerbusen von Helsinki hoch
nach Haparanda und die schwedische Küste hinunter nach Stockholm.
Vorerst aber sind wir auf Kuressare gespannt.
Kuressaare. Livland hat wie viele Geschichtslandschaften, die es nicht
mehr gibt, noch heute einen Klang. Livland klingt nach Ordensrittern,
Deutschbalten und alten Ortsnamen. Es ist der gleiche Sound, den wir von
der Lektüre der Bücher von Eduard von Keyserling oder Werner
Bergengruen im Ohr haben: stolz, melancholisch, nicht von dieser Welt.
Eigentlich ist Livland von Beginn an ein Symbol des Verlustes. Seit der
Eroberung des heutigen Estlands und Lettlands durch den Bremer Bischof
Albert I. und den ihm verbundenen Schwertbrüderorden, befinden sich
die Liven, die dem Land einst ihren Namen gaben, auf dem Rückzug.
Heute leben nur noch wenige livischsprachige Fischer in Kurzeme, der kurländischen
Küste in Lettland. Gleichwohl ist Livland allgegenwärtig in
Estland und Lettland. Das hat vor allem mit dem Schwertbrüderorden
und dem Deutschen Orden zu tun, in den dieser 1237 aufgegangen ist. Zur
Sicherung ihrer Herrschaft haben die Ritter des Ordensstaates zahlreiche
Burgen gebaut – in Riga, Hapsal (Hapsalu), Windau (Ventspils) und
Dorpat (Tartu). Die am besten erhaltene Burg ist die von Arensburg (Kuressaare).
Die Vorfreude auf eines der bedeutendsten Bauwerke des Baltikums hat uns
die Schotterpiste aushalten lassen, die gleich hinter Pärnu begonnen
hatte. Wahrscheinlich hätten wir unserer Karte trauen sollen, in
der die Strecke zwischen Pärnu und dem Fährhafen Virtsu gestrichelt
eingezeichnet war. Und Strichelung, das bedeutet Schotterpiste. Auch Virtsu,
wo die Fähren auf die Insel Muhu übersetzen, hatten wir uns
anders vorgestellt. Schließlich gibt es Hafenstädte, die ihren
Namen verdienen. Es sind Städte mit Hafen, wobei es keine Rolle spielt,
wie groß sie sind. Selbst eine kleine Stadt mit einem winzigen Hafen
kann eine Hafenstadt sein. Hauptsache, es gibt einen Hafen und das dazu
gehörende Hafenviertel, in dem man essen, trinken und zur Not übernachten
kann.
Von all dem ist in Virtsu nichts zu sehen. Virtsu ist ein Hafen ohne Stadt.
Das einzige, was an ein Hafenviertel erinnert, ist eine Behausung, die
eher einer Suppenküche gleicht als einer Hafenkaschemme. Gut, dass
wir wenigstens unsere Radtaschen mit Proviant gefüllt hatten. Blieb
nur die Frage, was würde uns auf den estnischen Inseln erwarten?
Inseln, die keine sind? Zumindest unser Reiseführer beruhigte uns.
Die Inseln Muhu, Saaremaa und Hiumaa, verspricht er, gehören zum
Schönsten, was Estland zu bieten habe.
Und nun stehen wir hier, vor der Burg von Kuressaare. Noch größer
und mächtiger ist diese Ordensburg, als wir sie uns vorgestellt haben.
Mit ihren mehr als zwanzig Meter hohen fensterlosen Mauern ist sie nicht
nur ein Beispiel dafür, wie lebendig die Vergangenheit in Livland
noch immer ist. Sie stellt auch den Rest von Kuressaare in den Schatten,
was schade ist. Immerhin gehört die Stadt mit ihren pastellfarben
gestrichenen Holzhäusern, geschmackvoll eingerichteten Cafés
und der kleinen, aber feinen Altstadt zu den schönsten Orten Estlands.
Ohne Zweifel: Saaremaa, Estlands größte Insel, ist ein Paradies
zum Radeln, seine Hauptstadt dagegen ein Paradies fürs Pausemachen.
Mit dem Bau der viereckigen Ordensburg wurde 1340 begonnen, da hatte der
Deutsche Orden den Schwertbrüderorden bereits geschluckt und Arensburg
zum Bischofssitz ausgewählt. Doch bald wussten die Bischöfe
von Ösel, so der deutsche Name der Insel, nichts mehr mit ihrer Burg
anzufangen und verkauften sie 1559 an Dänemark. Von den Dänen
bekam Arensburg das Stadtrecht. Lange aber währte die dänische
Herrschaft nicht. 1645 fiel Arensburg an die Schweden. Im Großen
Nordischen Krieg wurde die Stadt 1710 von russischen Truppen niedergebrannt.
Mit dem Frieden von Nystad fiel die Insel 1721 schließlich an das
Zarenreich. Die Burg selbst hat alle Wirren der Geschichte unbeschadet
überstanden.
All das hätten wir auch im Stadtmuseum von Kuressaare erfahren können,
das seit dem 19. Jahrhundert in der Ordensburg untergebracht ist. Doch
dort erzählt man uns eine andere Geschichte. Erst seit Kurzem nämlich
heißt die Inselhauptstadt von Saaremaa wieder Kuressaare. Zu Sowjetzeiten
wurde die Stadt "Kingissepp" getauft, benannt nach dem in Kuressaare
geborenen Bolschewiken Viktor Kingissepp. Von Livland nach Kingissepp,
denken wir, hier wird auch nichts ausgelassen. Immerhin, erzählt
man uns im Inselmuseum, war Kuressaare die erste Stadt in Estland, die
schon vor der Unabhängigkeit des Landes ihr Recht auf kommunale Selbstverwaltung
zurückbekommen hatte.
Am Abend, im Restaurant am Burggraben, leuchtet die Ordensburg im lila.
Abendhimmel. Am nächsten Morgen, so erzählte uns die Museumsführerin,
wird es Ritterspiele vor der Burg geben. Das Spektakel wird ohne uns auskommen
müssen. Wir fahren morgens weiter an der Küste entlang.
Naturschauspiele. Schon kurz nach der Ankunft in Mändjala ist uns
klar: Hier bleiben wir nicht nur eine Nacht, sondern ein paar Tage. Unser
Zelt stellen wir in den Dünen auf, im Schatten einiger Kiefern, vor
uns das Meer. Ein Ort wie geschaffen für Radler mit Zelt: Den Campingtisch
und die Klappstühle ersetzt uns eine Sitzgruppe aus Holz, als Dusche
fungiert ein Plastikbeutel, den wir an einen Ast hängen. So erholsam
und meditativ das Radeln sein mag. Uns steht der Sinn plötzlich nach
Lesen, Sonnen, Lesen, Baden.
Und Natur. Auf halbem Weg zwischen Campingplatz und dem zehn Kilometer
entfernten Kuressare befindet sich ein alter Eichenwald. Hundertfünfzig
bis dreihundert Jahre alt sind die niedrigen Steineichen, die an manchen
Stellen auch als Alleebäume gepflanzt sind. Kurzwüchsig sind
sie deshalb, weil der Mutterboden nicht allzu tief ist. Der Boden ist
auch ein Paradies für Orchideen, die hier wachsen wie andernorts
Unkraut. Was für ein Kleinod, und was für eine wohltuende Abwechslung
zu den Wacholderwäldern, die sonst auf den estnischen Inseln vorherrschen.
Naturschauspiele gibt es hier überall, auch solche, die eher himmlischen
Ursprungs sind. In Kaali, achtzehn Kilometer nördlich von Kuressaare,
treffen wir auf der Weiterreise nach Hiumaa auf einen Kratersee, der auf
einen Meteoriten zurückgehen soll. Vor rund dreitausend Jahren soll
der achtzig Tonnen schwere Himmelskörper auf Saaremaa eingeschlagen
und einen hundert Meter großen Krater hinterlassen haben. Heute
ist er mit Wasser gefüllt. Schnell radeln wir weiter, wer weiß,
was in Kaali noch so vom Himmel fällt.
Das letzte Stück Natur auf den Inseln erleben wir in Kassari auf
der Insel Hiumaa. Eigentlich ist Kassari selbst eine Insel, mit dem Haupteiland
nur über zwei Dämme verbunden. Das Besondere an dem Ort ist
aber der mit dichten Wacholderbüschen bewachsene Küstenstreifen.
Von der schmalen Landstraße geht es auf unzähligen Trampelpfaden
hinab zum Meer – ein Platz wie geschaffen zum wilden Zelten. Gern
hätten wir auch bezahlt, nur ist vom Campingplatz, der an dieser
Stelle auf unserer Karte eingezeichnet war, nichts zu sehen. Immerhin
Camper sind da und eine Imbissbude.
Dafür treffen wir in Kassari den Radler wieder, den wir schon auf
der Fähre von Rostock nach Ventspils kennen gelernt hatten. Frank
Schätzings "Schwarm" hat er fast zu Ende gelesen, die meisten
Seiten sind mit der Nagelschere herausgetrennt. Ob er nun guter Dinge
zum Nordkap aufbreche, wollen wir wissen. "Jetzt kann nichts mehr
passieren", grinst er und erzählt von seinem Gabelbruch kurz
vor Riga. "Lass uns raten", scherzen wir. "Deine neue Gabel
stammt von Global Bike."
Tallinn. Eigentlich, hatten wir uns vorgenommen, unsere Schlussetappe
soll bis Tallinn führen. Doch schon auf der Landstraße von
Haapsalu in die Hauptstadt nimmt der Verkehr zu. Warum also nicht, wie
in Riga, die Strecke abkürzen und den Vorortzug nehmen? Schließlich
fährt die "Elektriraudtee", die S-Bahn, schon von Keila
nach Tallinn. Eine knappe Stunde später sind wir in der Hauptstadt.
Was für ein Unterschied zu Riga. Keine fünfgeschossigen Gründerzeithäuser
an breiten Boulevards empfangen uns, sondern ein kleiner Provinzbahnhof
am Fuße des Altstadtbergs. Gäbe es in Tallinn nicht den Hafen,
das Finanzzentrum und die kilometerlangen Plattenbausiedlungen, könnte
man sich in Heiderberg oder Meißen wähnen.
Um es aber vorwegzunehmen: Wir haben die Altstadt von Tallinn unterschätzt.
Vom Bahnhof bis zur Uus-Straße, in der wir ein Hostel gebucht haben,
radeln wir eine halbe Stunde. Der Fußweg am Abend hinaus zur Burg
ist nicht viel kürzer. Die UNESCO hatte schon ihre Gründe, der
Tallinner Altstadt 1997 den Welterbetitel zu verleihen. Mittelalter pur
finden wir hier. Und mit uns Scharen von Touristen. Aus aller Herren Länder
kommen sie mit ihren weißen Shorts und Basecaps – Engländer,
Norweger, Japaner, Amerikaner, Deutsche. Und natürlich Finnen. Im
Baltikum sind die Finnen, was die Holländer im Rest Europas sind
– moderne Nomaden. Uns nicht unsympathisch.
In der Pikk-Straße finden wir ein wunderbares Café, eine
Schokoladenmanufaktur mit kleinen bunten Tischen in einem malerischen
Hinterhof. Noch einmal breiten wir die Karten vor uns aus. Bis Narva an
der russischen Grenze sind es zweihundert Kilometer, bis Petersburg noch
einmal dasselbe, von Petersburg bis Helsinki müssen wir mit vierhundert
Kilometern rechnen. Vor allem die Strecke durch Russland verspricht spannend
zu werden. Doch das ist eine andere Geschichte. Morgen geht es mit der
Fähre nach Helsinki und von dort mit dem Flieger zurück nach
Berlin.
"Bitteschön", sagt der Kellner und serviert uns einen Cappuccino.
Der Milchschaum lässt nichts zu wünschen übrig, das Ambiente
im Szene-Hinterhofcafé ebenso wenig. Ein bisschen fühlen wir
uns an Berlin und zuhause erinnert. Das Hinterhofcafé in der Pikk-Straße
wollen wir uns merken. Wir werden es wieder besuchen, wenn wir nicht als
Radler, sondern als Städtereisende nach Tallinn kommen.
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