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DRUCKVERSION Kriechströme und Korridore

Europas Osten teilen nicht nur alte und neue Grenzen, sondern auch verschiedene Geschwindigkeiten

Von UWE RADA

Kleiner Grenzverkehr, großer Grenzverkehr

Frankfurt (Oder), Stadtbrücke. Über eine Million Menschen passieren jährlich die Brücke über die Oder, die das 60.000 Einwohner zählende Frankfurt mit der 17.000 Einwohnerstadt Slubice verbindet. Studenten der Europauniversität Viadrina bilden an manchen Tageszeiten die Mehrheit derer, die auf ihre Abfertigung warten. Sie sind die Pioniere des neuen Europa und zugleich dessen Hoffnung, sie studieren in Frankfurt und wohnen in Slubice, sie erwerben Abschlüsse, die auf beiden Seiten des Grenzflusses gelten und müssen sich über ihre berufliche Perspektive keine Gedanken machen. In Polen gelten sie als Deutschlandexperten, in Deutschland als Marktöffner für Polen. So rosig können europäische Zukunftsaussichten sein.

Vorerst aber sind die Studenten der Viadrina nur ein Teil des kleinen Grenzverkehrs. Unter denen, die sich Tag für Tag über die Frankfurter Stadtbrücke auf die andere Seite begeben, sind auch solche, für die die Zukunft in Europa weniger aussichtsreich ist. Es sind die Schnäppchenjäger und Tanktouristen aus den brandenburgischen Grenzgebieten, es sind polnische Einkaufskunden oder Kleinschmuggler. Mrówki (Ameisen) nennt man in Polen jene Grenzgänger, die mit einer Stange Zigaretten oder einer Flasche Schnaps in der Tasche mehrmals täglich die Grenze überschreiten. Aber auch sie sind Pioniere, auch sie sind Teil einer neuen, grenzüberschreitenden Bewegung, auch wenn ihr Radius oft nicht mehr als ein paar Kilometer reicht: bis zum Basar von Slubice, der etwas außerhalb der Stadt oderaufwärts liegt. Oder bis zum Spitzkrug-Einkaufszentrum im Norden Frankfurts, das schon fast ein Viertel seines Umsatzes polnischen Kunden zu verdanken hat.

Ein paar Kilometer südlich der Stadtbrücke staut sich der LKW-Verkehr vor dem Zollterminal Swiecko II. Mehr als eine Million Fahrzeuge passieren jährlich die Autobahngrenze bei Frankfurt, dem wichtigsten Übergang an der Außengrenze der Europäischen Union. Die am großen Grenzverkehr von Swiecko teilnehmen, haben keine Universität auf der anderen Seite zum Ziel und auch keine Wohnheime, sie schmuggeln auch keine Kleinstmengen an Zigaretten oder Alkohol. Die Pioniere von Swiecko kommen vielmehr aus Stuttgart und wollen ins Baltikum, sie sind unterwegs auf der großen West-Ostroute, die von Paris über das Ruhrgebiet nach Berlin und von dort weiter nach Poznan, Warschau, Minsk und Moskau führt. Es sind die Explorateure des neuen Europa, wie sie der Osteuropahistoriker Karl Schlögel nennt. "Sie kennen das neue Europa und die verschlungenen Pfade, die dorthin führen. Sie messen den Fortschritt an der Beschleunigung der Grenzabfertigung. Sie sind die Konterbandisten des Ausgleichs, ihr Schmuggel ist der Export von Normalität."

Mit dem kleinen Grenzverkehr an der Frankfurter Stadtbrücke wie auch dem großen Grenzverkehr in Swiecko halten das alte und das neue Europa Kontakt miteinander. Beide Orte sind Stationen einer Suchbewegung, ein Zwischenstop auf der Reise jener Entdecker und Kundschafter, die es gezwungenermaßen über die altbekannten Wege hinaustreibt. "Das neue Europa", ist Karl Schlögel überzeugt, "wächst auf den Routen des Ameisenhandels, die die Basare des östlichen Europas verbinden. Es wächst auf den Routen der Speditionsfirmen, die Europa neu vernetzen." Damit, so Schlögel, bildeten sich auch neue Räume: "Verkehrs- und Kommunikationsräume, Netzwerke des Wissens und der Wissenschaft, eine Infrastruktur moderner Kommunikation, Pendelbewegungen der Arbeitsmigration, Filialen und Niederlassungen internationaler Firmen."

Doch sind die Entdeckungen, die auf den neuen Routen und Pfaden gemacht werde, wirklich dieselben? Ist das Europa der künftigen Viadrina-Absolventen da gleiche wie das der Kleinschmuggler, jenes der Spediteure, dasselbe wie das der LKW-Fahrer? Und welche Räume sind es, die sich den Pionieren des neuen Europa auftun? Was haben sie miteinander zu tun? Wo treffen sie aufeinander - außer an den Grenzübergängen, beim kleinen und großen Grenzverkehr?

Neue Zentren und neue Peripherien

Die Europaoptimisten unter den deutschen und polnischen Politikern behaupten immer wieder gerne, dass es vor allem die deutsch-polnischen Grenzregionen seien, die von einer Erweiterung der Europäischen Union um die mittel- und osteuropäischen Staaten profitierten. Vormals am Rande gelegen, würden sie nun ins Zentrum des neuen Europa rücken, aus dem Standortnachteil würde ein unschätzbarer Vorteil, den es nur noch umzusetzen gelte.

Zu ganz anderen Ergebnissen kommt das Institut für Regionalplanung und Strukturpolitik (IRS) in Erkner bei Berlin. In einer im Frühjahr vorgelegten Studie über die "krisenhaften Auswirkungen der Osterweiterung auf die deutsch-polnische Grenzregion" schreibt der Soziologe Ulf Matthiesen. Nicht in Frankfurt (Oder) oder Slubice würden sich die Investoren niederlassen, sondern in den wirtschaftlichen Zentren Berlin und Poznan. Matthiesen warnt deshalb vor einer weiteren "Peripherisierung" der Grenzregion: "Wir haben auf beiden Seiten zwei wirtschaftliche Zentren, dazwischen ist Niemandsland."

Niemandsland, das klingt freilich ganz anders als Entwicklung und Zukunft. Ein Niemandsland ist nicht nur ein Land, von dem man nicht mehr weiß, wem es gehört. Es ist auch ein Land der Niemande, entvölkert, verlassen. Und die, die zurückbleiben, sind gleichermaßen Schattenexistenzen, die in der Wahrnehmung der Jemande nur noch existieren, wenn sie wieder einmal Schlagzeilen machen.
Es sind diese Niemande, die in der neuen Geografie von Mittel- und Osteuropa die neuen Räume der Peripherie bevölkern. Und ist diese Peripherie manchmal nicht sogar näher als man glaubt? Reicht sie nicht schon von den Migrantenjugendlichen in den Westberliner Innenstadtgebieten über die Zurückgebliebenen in den sterbenden Städten Ostdeutschlands bis zur polnischen Landbevölkerung, die sich auf ihren Klein- und Kleinsthöfen selbst versorgt?


Sie alle sind im dreifachen Sinne ins Abseits gerückt - abseits des gesellschaftlichen Reichtums, abseits der europäischen Perspektiven, abseits der Wahrnehmung. Im Europa der optimistischen Politiker ist für sie kein Platz mehr. Niemandsland heißt ja auch: auf der Strecke bleiben, ohne dass jemand davon noch Aufhebens macht. Und Niemandsland ist noch lange nicht der Endzustand. In der Wochenzeitung "Freitag" wird die Grenzregion zwischen Deutschland und Polen bereits eine "Transitwüste" genannt.

Metropolitan Corridor

Keiner hat für das neue Verhältnis von Zentrum und Peripherie, für das Europa der Jemande und Niemande ein eingängigeres Bild gefunden als Karl Schlögel. Der Osteuropaexperte nennt die neuen Routen, auf denen sich die europäischen Pioniere bewegen, den "Metropolitan Corridor". Dieser Korridor, meint Schlögel, "ist ein Raum verdichteter Bewegung, mit Staus und Knotenpunkten. Die Städte, die im Metropolitan Corridor liegen, haben mehr miteinander zu tun als mit den Provinzen, die sie umgeben. Im Korridor herrscht Hochbetrieb. Unterwegs sind Exploratoren, Prospektoren, Fachleute für Tourismus, Verkehr, Energie, Dienstleistungen, Sanierungsspezialisten, Rohstoffaqkuisiteure, Abenteurer und Missionare. Im Korridor herrscht CNN-Zeit. Sie ist in Moskau nicht anders als in Warschau oder Berlin."

Schlögels Metropolitan Corridor ist eine Metapher für die neuen Räume der Verkehrs- und Kommunikationsrouten, der Netzwerke des Wissens und der Wissenschaft. Und er ist zugleich deren Ende, weil er diese Räume verdichtet und verengt wie eine Pipeline, die durch die Wüsten Zentralasiens von einem Knotenpunkt zum nächsten führt. Wer den Korridor verlässt, schreibt Schlögel, "fällt aus der CNN-Zeit heraus. Er ist nicht mehr erreichbar, nicht einmal durch die Briefpost, auf die kein Verlass mehr ist. Hier gibt es keine Highways. Hier gibt es vielleicht schöne Wälder, aber keine Hoffnung und keine Arbeit mit Perspektive. Während im Korridor die zivile Armada der Trucks rollt, leuchtet in der Dunkelheit, die jenseits der Korridors herrscht, der Mond. Tau fällt."

Wer Tau fallen hört, hat eine andere Wahrnehmung als die, die ständig unterwegs sein müssen. Nicht zuletzt deshalb ist der Metropolitan Corridor auch das Gegenteil der herrschenden Vorstellungen von Raum und Entwicklung. Er definiert das Verhältnis von Zentrum und Peripherie als Einschluss und Ausschluss, weil es zwischen beiden keinen Übergang mehr gibt, sondern nur noch Schnittstellen. Es ist ein neuer Antagonismus, der in dieser Metapher zur Sprache kommt, zwischen denen, die es geschafft haben, die im Geschäft sind, und denen, die schon lange nicht mehr kreditwürdig sind. Der Metropolitan Corridor ist wie eine kommunizierende Röhre quer durch Europa, deren bunte Bilder der Verheißung geradewegs auf die Bildschirme der europäischen Wohnstuben flimmern.

Doch es ist kein Zufall, dass der Metropolitan Corridor nahezu identisch ist mit den gängigen Vorstellungen von Europa. Es ist die Eigentümlichkeit von kommunizierenden Röhren, dass man all das, was in ihnen an Information, Bildern und Austausch stattfindet, für die Realität hält? Doch wie schnell kann man den eigenen Bildern aufsitzen? Wie schnell bringen sie einen Tunnelblick hervor, der denen, die drinnen, im Korridor, unterwegs sind, den Blick nach draußen verstellt? Wenn es im Korridor Fenster gäbe, könnten sie sehen, woraus Europa auch besteht: klapprige Autos, für deren Import man lange Wartezeiten an der Grenze in Kauf nimmt oder altersschwache Ikarusbusse, in denen sich ganze Armeen von Basarhändlern auf den Weg machen. Es ist das Europa der Kriechströme, das die Explorateure und Expediteure im Korridor sähen, wenn sie die selbstgenerierten Bilder ihrer kommunizierenden Röhren einmal verlassen und ihren eigenen Augen trauen würden.

Kriechströme

Europa ist nach dem Fall des eisernen Vorhangs in Bewegung gekommen. Überall herrscht die Dynamik von Aufbruch und Ankunft, von Trennung und Zusammenkunft. Familien, die über Generationen hinweg sesshaft waren, machen sich wieder auf dem Weg, andere halten mit Mühe Kontakt über Hunderte von Kilometern Entfernung. An manchen Stellen kreuzen sich die Wege der neuen Nomaden, manchmal führen sie ins Nichts. An manchen Ballungszentren, wie zum Beispiel dem Ruhrgebiet, Warschau oder Wien, führt kein Weg vorbei, andere Regionen haben noch nicht einmal gepflasterte Straßen.

Das neue europäische Wegenetz ist gewoben aus den Fäden, die die grenzenlosen Hoffnungen und begrenzten Möglichkeiten zusammenhalten. Aus Westpolen pendeln Putzfrauen und Bauarbeiter in die nächst gelegene Metropole des Westens, nach Berlin. Dort verdienen sie noch immer ein Vielfaches dessen, was sie zuhause bekommen, dorthin sind die Verbindungen oftmals besser als nach Warschau. In Warschau wiederum arbeiten illegale Pendlerinnen aus der Ukraine und haben als Haushaltshilfen Anteil am Aufstieg der polnischen Hauptstadt.

In Budapest ist der chinesische Markt sogar zum Umschlagplatz für die Mrówki aus dem gesamten Balkan geworden. Dort kaufen die Basarhändler, die vor noch nicht allzu langer Zeit alles wandere waren als Händler, die Regenschirme, Garnituren an Unterwäsche und Lippenstifte, die es in Sarajewo, Tetowo oder auch im rumänischen Resita nicht gibt. Dort wirken sie mit am weit verzweigten Netz des europäischen "Ameisenhandels". Ein Netz, das zugleich ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte ist. Außer einer Studie des russischen Autoren Alexander Korkotadse über die Schmuggler auf der Route Minsk-Istanbul-Minsk, Malgorzata Ireks Feldforschung über den "Schmugglerzug" Berlin-Warschau-Berlin oder dem Dokumentarfilm von Zoran Solomun und Wladimir Blazewskis über den chinesischen Markt in Budapest ist bislang kaum etwas über die Verlaufsformen dieses "Ameisenhandels" bekannt. Nur manchmal, wenn man vor den Habseligkeiten der Händler steht, wundert man sich, wie wenig man in der Überlebensökonomie zum Überleben braucht.

Manche der Routen, auf denen sich die Ameisen bewegen, sind entweder, wie zwischen Berlin und Moskau Teil alter europäischer Handelsrouten. Andere sind im Verlauf der Nachkriegsgrenzziehungen neue entstanden. Sie sind ein Spiegel des europäischen Wohlstandsgefälles und seiner Ein- und Ausfuhrbestimmungen. Und immer wieder sind sie aktuellen Veränderungen unterworfen. Manchmal reicht ein Gerücht, um einen völlig neuen Zyklus der Bewegung auszulösen, um die Dynamik von Aufbruch und Ankunft auf's Neue zu entfachen. Als im Januar 2002 die Nachricht die Kunde machte, dass die neue polnische Regierung ihre erst kurz zuvor erleichterten Einfuhrbestimmungen für Gebrauchtwagen wieder verschärfen wolle, bildeten sich an den deutschen Grenzübergängen nach Polen sofort tagelange Staus. Jeder, der konnte, machte sich auf den Weg, um in Westeuropa preisgünstige Volkswagen, Opel oder Renaults zu kaufen.

Das ist es, was die europäischen Kriechströme ausmacht: jene spannungsgeladenen Bewegungen, die in der Wahrnehmung derer, die im Korridor zwischen den europäischen Zentren unterwegs sind, nicht mehr vorkommen oder aber solange verdrängt werden, bis sie sich überraschend und an unvorhergesehener Stelle bemerkbar machen. Im Europa der verschiedenen Routen und Wahrnehmungen trifft man sich manchmal nur noch an den Grenzen, so wie beim kleinen und dem großen Grenzverkehr an der Frankfurter Stadtbrücke und dem Autobahnübergang Swiecko.

Europäische Grenzen

Die Diskussion über die Finalität Europas beschränkt sich längst nicht mehr auf die Frage einer europäischen Verfassung, auf den Charakter der Europäischen Union als lose Föderation von Nationalstaaten oder - nach amerikanischem Vorbild - eine Art Vereinigter Staaten von Europa. Sie ist auch eine Diskussion um seine Grenzen. Diese Diskussion freilich hat nicht erst mit den ersten Beitrittsverhandlungen 1998 begonnen und wird mit der ab 2004 beginnenden Osterweiterung der EU noch lange nicht zu Ende sein.

Im Gegenteil: Verläuft die europäischen Außengrenze demnächst am Bug statt an Oder und Neiße, wird man sich erst recht der Frage stellen müssen, wo Europa einmal enden soll. Das Argument der "kulturgeschichtlichen Bruchlinie", die mit Hinweis auf das Schisma von Rom und Konstantinopel das westeuropäische Europa mit seinen zivilisatorischen Traditionen vom "byzantischen" Europa trennt, wird dann nicht mehr greifen. Wenn Länder wie Bulgarien und Rumänien mit ihrer orthodoxen Tradition erst einmal in der Europäischen Union sind, muss man andere Argumente finden, um etwa die Ukraine, Weißrussland oder Moldawien weiter vor den Toren Europas zu halten.

Auf den Trassen der Explorateure und Expediteure gilt diese Grenze ohnehin nicht mehr. Für den schwedischen Möbelproduzenten IKEA zum Beispiel gehört die im März 2000 eröffnete Filiale im Moskauer Vorort Chimki inzwischen zu den umsatzstärksten in ganz Europa. Mit der Eröffnung dieser Filiale, die der Münchner Filmemacher Michael Chauvistré in seinem hinreißenden Dokumentarfilm "Mit IKEA nach Moskau" in die Kinos gebracht hat, setzte IKEA ohnehin nur seine lange währende osteuropäische Tradition fort. Schon in den sechziger Jahren, als die schwedische Holzindustrie auf die Niedrigpreise des Konzerns mit einem Boykott reagiert hatte, wich IKEA-Firmengründer Ingvar Kamprad kurzerhand nach Polen aus. Und auch schon vor der Eröffnung der ersten russischen Filiale in Moskau-Chimki war IKEA in Russland vertreten. 1977 wurden in Priozjersk die ersten Möbel hergestellt. Noch heute landen 35 Prozent des gesamten russischen Möbelexports als Billyregale in den Wohnzimmern derer, für die Europa noch immer an den Grenzen der vermeintlichen Zivilisation endet.

Grenzenlos in seinem Bewegungsdrang ist auch der Spediteur Willi Betz. Betz, der nach dem Zweiten Weltkrieg im schwäbischen Reutlingen seinen ersten Lastwagen mit Holzvergaser gekauft hatte, ist heute mit fast 4.000 LKW der größte Spediteur Europas. Die Routen der Firma führen längst nicht nur nach Mittel- und Osteuropa, sondern weit darüber hinaus - bis in den Iran oder den Irak. Seinen Rang als europäischer Marktführer verdankt Betz aber nicht nur modernster Satellitentechnik, die es ermöglicht, die Zahl der Leerfahrten auf ein Minimum zu reduzieren. Mit dem Kauf der Mehrheitsanteile des bulgarischen Staatskonzerns Somat gelang es dem Spediteur auch, die Konkurrenz durch den Einsatz von Billiglohnfahrern auf Distanz zu halten. Von den 4.000 LKW der Reutlinger Spediteursflotte sind daher nur noch 500 in Deutschland angemeldet.

Die Routen der transnational agierenden Firmen haben schon längst alle Grenzen der Debatte um die europäische Finalität überschritten oder besser: sie haben sie unterlaufen. Auf den Metropolitan Corridors von Paris über Berlin, Warschau und Minsk nach Moskau gibt es keine Grenzen mehr, sondern allenfalls ein paar Staus und lästige Reglements. Der Korridor hat seine eigenen Gesetze. Das Europa der Spediteure und Profiteure ist dem der Politik längst voraus.

Ganz anders dagegen sehen die Zukunftsaussichten der Ameisen aus. Im Ausbleiben der ukrainischen und weißrussischen Händler auf den Basaren des polnischen Ostens zeigen sich schon heute die Schatten, die die neuen Außengrenzen Europas vorauswerfen. Obwohl es Schengeneuropa erst für den "Beitrittsfall" verlangt, hat Polen gegenüber Weißrussland bereits heute eine Visapflicht eingeführt. Auch die Händler aus der Ukraine, die früher Tag für Tag über den Grenzübergang Medyka ins südostpolnische Przemysl gekommen sind, bleiben inzwischen aus. Noch benötigen sie kein Visum, doch auch der Nachweis an ausreichend Devisen für eine Einreise als Tourist hält viele von der beschwerlichen Reise mit ihren oft tagelangen Wartezeiten ab. Das gleiche gilt für die Händler, die aus Bosnien oder Serbien nach Ungarn kommen. Auch sie müssen für die Erteilung eines Visums inzwischen viel Geld und Zeit aufbringen. Schon heute schottet sich das neue Europa von seinem neuen Osten ab.

Tankstellen und Raststätten

Skwierzyna ist ein kleiner Ort. Ein fast unscheinbarer obendrein, wäre da nicht der Umstand, dass Skwierzyna genau auf einer der beiden Routen von Berlin in die polnische Boomtown Poznan liegt. Und dann gibt es in Skwierzyna noch eine Raststätte und Tankstelle. Hier können die Explorateure und Expediteure einen Zwischenstop einlegen bei ihrer Erkundungsreise nach östlichen Märkten oder westlichem Kapital.

Doch die Raststätte und Tankstelle von Skwierzyna ist nicht nur eine Anlaufstelle für die Reisenden auf dem Metropolitan Corridor zwischen Berlin und Warschau. Nach Skwierzyna zieht es auch die Jugendlichen aus den umliegenden Dörfern und Landkreisen. An manchen Tagen kann es vorkommen, dass die Besucher der Gaststätte vom Mittagessen zu ihren Autos zurückkehren und die Wischblätter von den Windschutzscheiben weggeklappt sind. Die Jugendlichen aus der Umgebung haben in der Zwischenzeit die Autoscheiben der Restaurantgäste gewischt und warten nun, höflich und unaufdringlich, auf einen Obulus.

Für manche Jugendliche ist die Raststätte und Tankstelle von Skwierzyna allerdings nur Zwischenstation. Viele der Scheibenwäscher, die auf polnischen Rasthöfen angefangen haben, haben inzwischen von Altersgenossen gehört, dass es auf den Straßen von Berlin sehr viel mehr zu verdienen gibt. Eine Nachricht, die sich wie eine frohe Kunde durch ganz Polen verbreiten kann. Läuft das Geschäft gut, machen sich aus Lódz und Szczecin, aber auch aus dem an der weißrussischen Grenze gelegenen Bialystok die nächsten Scheibenwischer auf den Weg. Es ist einer der typischen Migrationspfade im mobil gewordenen Europa, den sie beschreiten.

Die weniger Mobilen dagegen bleiben. Für sie sind Tankstellen und Raststätten wie in Skwierzyna neben Fernseher und Internet der einzige Ort, an dem sie Verbindung halten mit der "großen, weiten Welt". Oder, wo sie es dieser Welt einmal so richtig zeigen können. So wie an den Tankstellen der A2 von Berlin nach Hannover, wo es immer wieder Übergriffe auf Autos mit Berliner Kennzeichen gegeben hat. "Am Rande des Korridors", sagt Karl Schlögel, "blüht die Sehnsucht und brütet der Hass. Diese Ungleichzeitigkeit der Zeit ist bedrohlicher als der ‚Clash of Civilizations'."

Der Wettlauf

Europa lebt nicht nur in unterschiedlichen Wahrnehmungen und Räumen, sondern, wie es der Gegensatz von Korridor und Kriechpfaden zeigt, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Dabei hat es nicht den Anschein, als würden sich die peripheren Räume irgendwann einmal wieder näher kommen. Ganz im Gegenteil. Die Direktverbindung zwischen Berlin und Gorzów Wielkopolski, immerhin der der deutschen Hauptstadt am nächsten gelegenen polnischen Landeshauptstadt, wurde unter anderem deshalb eingestellt, um den Schmuggel von Alkohol und Zigaretten zu unterbinden. Nun müssen die Reisenden nicht mehr im Zug, sondern auf dem Bahnhof von Kostrzyn die Grenzkontrollen über sich ergehen lassen. Die Zeitersparnis einer Direktverbindung wurde dem Zeitgewinn für den Bundesgrenzschutz geopfert.

Im neuen Berlin-Warszawa-Express dagegen haben sich die Zöllner schon längst auf eine veränderte Kundschaft eingestellt. Wenn, dann schmuggelt die zunehmende Zahl der Geschäftsleute keine Zigaretten, sondern Kapital am deutschen Fiskus vorbei. Doch dafür sind der Bundesgrenzschutz und der polnische Straz graniczny nicht zuständig. Auch in der Intensität der Grenzkontrollen trennen sich die europäischen Suchbewegungen. Während das Europa der Explorateure und Expediteure zusammenwächst, hält man das der "Mrówki" auf Distanz.

In diesem Zusammenhang ist auch Schlögels Warnung vor der "Ungleichzeitigkeit der Zeit", ausgesprochen noch vor dem 11. September 2001, gerechtfertigt. Wenn man aus Lemberg, Kiew und Odessa auf Europa nur noch als Bollwerk schaut, kann es auch für die Explorateure ungemütlich werden - nicht nur auf den Tankstellen des Korridors, sondern auch draußen, vor den Mauern der Festung Europa.
Statt eines Wettlaufs um die besten Autoscheibenwäscherplätze entlang des Korridors, um die lukrativsten Märkte oder die Eröffnung neuer Möbelhäuser wäre ein anderer Wettlauf vonnöten: ein Wettlauf nicht um neue Grenzziehungen, sondern um deren Überwindung. Europäische Grenzen zu überwinden, das meint aber nicht nur eine europäische Perspektive für die Ukraine, Weißrussland, Moldawien oder sogar Russland. Europäische Grenzen überwinden heißt auch, die Grenzen zwischen den Jemanden und Niemanden, dem Korridor und seinen Hinterhöfen wieder aufzulösen: zunächst in der Wahrnehmung, dann in einer Rückkehr der Entwicklungsperspektive.

Vielleicht ahnen ja heute schon die Studenten, die sich täglich über die Stadtbrücke von Frankfurt (Oder) auf den Weg zur Europauniversität Viadrina machen, dass sie mit den Einkaufstouristen und Ameisen mehr zu tun haben als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Und vielleicht haben die polnischen Kommilitonen in der Auseinandersetzung um den 11. September auch mitbekommen, dass ein Clash of Civilizations nicht zuletzt sie selbst meinen kann.

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