Uwe Rada themenosteuropader hinterhof von warschau boomt

DRUCKVERSION Der Hinterhof von Warschau boomt

Einst war Lódz die größte Textilstadt Europas. Nach der Wende brach die Produktion zusammen. Im Schatten der Hauptstadt scheint Lódz seine Rolle nun gefunden zu haben – als polnischer Billiglohnstandort mit kulturellen Enthusiasten

von UWE RADA

Schwer zu sagen, was die "Manufaktura" eigentlich ist. Eine zu groß geratene Shopping-Mall? Ein ambitionierter Kulturstandort? Ein trendiges Urban Entertainment-Center? Auch die meisten Lódzer haben keine eindeutige Antwort. Eines aber wissen sie. So etwas wie die "Manufaktura" gibt es kein zweites Mal in Polen. Nicht einmal im nur 130 Kilometer entfernten Warschau.

Das ist sogar untertrieben. In Wirklichkeit ist die "Manufaktura" sogar in Europa einzigartig. Mit seinen 306 Geschäften, zahllosen Restaurants, Kinos, Kunstgalerien, Diskotheken, Veranstaltungsorten und Büros ist der Komplex an der Kreuzung Ogrodowa- und Zachodnia-Straße auf einer Fläche von 27 Hektar eine "Stadt in der Stadt", wie sie ihresgleichen sucht. Zum kulturgeschichtlichen Ereignis wird die "Manufaktura" darüber hinaus wegen ihres Genius loci. Sie befindet sich auf dem Gelände der einstigen Textilfabrik von Izrael Poznanski, einem jener Unternehmer, der Lodz im 19. Jahrhundert zur größten Textilmetropole des Ostens gemacht hat. In der Geschichte dieses Ortes spiegelt sich der Aufstieg, der Fall und die Neuerfindung einer Stadt, die den meisten Deutschen wohl eher als Schlager etwas sagt: Theo, wir fahr’n nach Lodsch.

Als Izrael Kalmanowicz Poznanski das Grundstück an der Lodzka 1866 erwarb, war Lodz schon auf dem Sprung in eine neue Zeit. Das hatte vor allem mit der geografischen Lage der Stadt zu tun. Nach dem Wiener Kongress und der Auflösung des von Napoleon gegründeten Herzogtums Warschau gehörte Lodz seit 1815 zum so genannten Kongresspolen. Damit war es zugleich der westlichste Vorposten des Russischen Reiches. Die unmittelbare Lage an der Grenze zum preußischen Teilungsgebiet hatte der Dichter und Staatsmann Rajmund Rembielinski zum planmäßigen Ausbau der Stadt für ausländische Investoren genutzt. Alsbald lockte Lodz mit Billiglöhnen, niedrigen Steuern und seiner Anbindung an wichtige Handelswege.

In jener Zeit war auch Izraels Vater Kalman nach Lodz gekommen. Doch erst sein Sohn sollte das Textilimperium aus dem Boden stampfen, das die Stadt zu jenem "gelobten Land" machte, als das es der Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Wladyslaw Reymont beschrieb. 1872 ging die erste Weberei auf dem Poznanski-Gelände in Betrieb. Fünf Jahre später entstand das bis heute mächtigste Gebäude der Stadt – die längs der Ogrodowa-Straße gelegene Texteilspinnerei.

Gleich daneben ließ Izrael Poznanski den Wohnpalast der Familie errichten. Ein Gebäude, dessen protzig zur Schau gestellter Reichtum im Kontrast steht zur gegenüberliegenden Werkssiedlung mit ihren schmucklosen Fassaden. Im "gelobten Land" gibt Reymont einen fiktiven Dialog zwischen dem Bauherrn und seinem Architekten Hilary Majewski wieder. "In welchem Stil soll ich Ihnen den Palast entwerfen?", fragt der Architekt. Die Antwort: "In allen, denn ich kann mir alles leisten." So entstand der "Poznanski-Palast" mit seiner neobarocken Fassade, der mit der fünfstöckigen Textilspinnerei durch ein schmiedeeisernes Eingangstor verbunden ist. Zusammen mit der Werksiedlung war der Grundstein für das Poznanski-Ensemble gelegt und auch für die städtebauliche Typologie, die Lodz bald zum "Manchester des Ostens" machte - das enge Nebeneinander von Arbeit, Wohnen und herrschaftlicher Repräsentanz. Neben Izrael Kalmanowicz Poznanski stehen für den sagenhaften Aufstieg von Lodz zur Industriemetropole auch die Namen von Karl Scheibler, Ludwig Geyer, Traugott Grohmann und Julius Henzel.

Reymont hat im "Gelobten Land" aber nicht nur Fabrikant und Architekt miteinander ins Gespräch gebracht, sondern auch den Typus jener Lodzers herausgearbeitet, dem die Stadt ihren Aufstieg verdankt. Lodzermensch hieß dieser, und das war nicht nur positiv gemeint, auch wenn der Osteuropahistoriker Karl Schlögel den ums eigene Wohl bedachte Emporkömmling ex post zum Prototypen der kapitalistischen Moderne erklärt: "Es spielte keiner Rolle, woher jemand kam, wenn er nur etwas zuwege brachte. Es spielte keiner Rolle, welchen Gott man verehrte, wenn man nur dem Erfolg huldigte. So wird das russisch verwaltete Lodz zum Melting pot für deutsche, jüdische, polnische Emigranten, sogar Tschechen, Armenier, Griechen lassen sich hier nieder."

Bei Reymont dagegen ist der Lodzermensch nicht selten ein skrupelloser Betrüger. "Vergiss nicht, dass du in Lodz bist", spricht der Held in einer Stelle des Epos zu einem Freund. "Du vermeinst, Geschäfte mit zivilisierten Menschen Mitteleuropas zu führen. Lodz aber, das ist ein Wald, eine Wüste – hast du scharfe Krallen, dann geh mutig vorwärts und erwürge rücksichtslos deinen Nächsten, sonst erwürgen sie dich, saugen dich aus und werfen dich rücksichtslos beiseite."

In Reymonts Epos, ab 1897 als Fortsetzungsroman erschienen, deuten sich die Schattenseiten des Aufstiegs zur Textilmetropole bereits an. Noch dunkler wurde es um die Stadt als es 1905 zum Aufstand der – zumeist polnischen - Arbeiter gegen die – zumeist deutschen und jüdischen - Fabrikanten und zur Revolution in ganz Russland kam. Zwei Jahre später ist von Lodz als einer Erfolgsgeschichte keine Rede mehr. In den Skizzen des Warschauer Autors Zygmunt Bartkiewicz erscheint Lodz bloß noch als Moloch: "Es gibt in Polen eine Stadt, die so ist: böse. Und verlogen noch dazu, denn sie ist wie in einen Trauerschleier eingehüllt und macht sich doch über den Tod lustig. Tausende Dächer hat sie aufgerichtet, hoch in den Himmel, aber unten wälzt sie sich im Blut. Aus den schlaffen Blüten der Baumwolle schöpft sie eine unbeugsame Kraft, und von totem Gold lebt sie. Ihre Verdienste verdankt sie Verbrechen." Joseph Roth schließlich beschrieb Lodz nach dem Ersten Weltkrieg als "eine Stadt des Regens und der Trostlosigkeit".

Fragt man die Polen heute nach Lódz fällt ihnen nicht viel ein. Offenbar wirkt das Image von der trostlosen Stadt bis heute. Natürlich, die 1948 gegründete Filmhochschule kennt in Polen jeder. Das gilt auch für ihre Absolventen, die es schon früh zu Weltruhm gebracht haben: Andrzej Wajda, Krzysztof Kieslowski, Roman Polanski, Krzysztof Zanussi. Ihnen ist ein kleiner Abschnitt von Europas größter Boulevard gewidmet, die vier Kilometer lange Flaniermeile "Piotrkowska", die die Stadt von Nord nach Süd durchzieht. Als eine Art polnische Variante des "Walk of fame" wurden ins Straßenpflaster vor dem "Hotel Grand" sternförmige Gedenksteine ins Straßenpflaster eingelassen. So weht über der Fabrikstadt auch ein Hauch von Glamour.

Auch Wajdas Verfilmung von Wladyslaw Reymonts "Gelobtem Land" gehört zum kulturellen Erbe der polnischen Nachkriegsgeschichte. Gedreht wurde das filmische Meisterwerk aus dem Jahre 1975 auf historischem Terrain - dem Gelände der Poznanski-Fabrik an der Ecke Ogrodowa/Zachodnia. Die Fabrik aber war zu diesem Zeitpunkt längst verstaatlicht. Wo einst der sagenhafte Aufstieg von Lodz zum "Manchester des Ostens" begonnen hatte, arbeiteten nun 10.000 Menschen im Texteilkombinat "Poltex". Der Palast der Familie Poznanski war bereits 1918 verstaatlicht worden als Polen nach 123 Jahren der Teilung als Staat wieder auf der europäischen Landkarte auftauchte. Am Image von Lódz als "Regenstadt" hat auch das nichts ändern können. Als nach der Wende in Polen die Texteilindustrie zusammenbrach, schien das Ende der Stadt besiegelt. Lódz, die einst so bedeutende Metropole, war plötzlich nicht mehr als der leerstehende Hinterhof des boomenden Warschau.

In der ulica Tymienieckiego ist von der dicht bebauten Stadt der Gründerzeit nur noch wenig zu sehen. Stattdessen Vorstadtidylle, ein Park, und gleich daneben eine alte Fabrik samt Fabrikantenvilla und winzig kleinen Arbeiterwohnungen. Willkommen in Ksiezy Mlyn, jenem Ort, an dem Lódz das 19. und 20. Jahrhundert endgültig hinter sich lassen möchte.

So jedenfalls suggeriert es ein Werbefilm, den der australische Investor Opal Property Development über das ehemalige Pfaffendorf gedreht hat, in dem der deutsche Fabrikant Karl Scheibler in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts sein Textilimperium errichten ließ. Auch dieser Komplex im Süden der Stadt gehörte bald zu einem der Symbole des Aufstiegs von Lodz zur Texteilmetropole im Osten Europas. Geht es nach der Stadtpräsidenten von Lódz, könnte das Ensemble Scheiblers bald sogar auf der Weltkulturerbeliste der Unesco stehen.

Geht es nach dem australischen Investor, wird Ksiezy Mlyn mit 410 geplanten Appartements vor allem ein Ort für die Jungen, Schönen und Reichen. In ihrem Imagefilm werben die Investoren für die schöne, heile Welt in den Lofts "U Scheiblera" – "Bei Scheibler". Wir sehen hohe, helle Räume hinter abgestrahlten Ziegelmauern, Wohngalerien mit weißen Sofalandschaften, Laptops auf Designertischen, die globalen Accessoires von Reichtum und Erfolg. Das neue Motto von Ksiezy Mlyn lautet: "Find yourself in history".

Kein Wunder, dass das Vorhaben des Investors nicht nur auf Gegenliebe stößt. Anders als der Fabrikkomplex, in dem bis zur Wende in Polen die Firma Uniontex produzierte, stehen die Arbeiterwohnungen nicht leer. Entsprechend irritiert sind die Bewohner, zumal der Investor keinen Zweifel daran lässt, auch diesen Teil von Ksiezy Mlyn nach und nach zu geräumigen Lofts aufmöbeln zu wollen. Nach einer zweitägigen Konferenz zur "Revitalisierung" des Standorts im September 2006 verschafften sich die Anwohner in den Medien Gehör. Ihr Argument: Ksiezy Mlyn muss man nicht neu erfinden, es lebt. Zwar sind die meisten Bewohner arm und arbeitslos, das soziale Netz aber funktioniert. Und es würde durch die schrittweise Luxussanierung der Werkssiedlung zerstört werden. Die von der Stadt angebotenen Ersatzwohnungen lehnen die meisten ab. Zu teuer, zu anonym. Zwischen den Werbebilder des Investors und dem Lebensbedingungen der Bewohner liegen Welten. In Ksiezy Mlyn treffen sie unmittelbar aufeinander, Ausgang offen.

Der Protest der Anwohner gegen Luxussanierung und drohende Vertreibung hat die Verantwortlichen der Stadt, die von einer postmodernen Zukunft von Lódz träumen, auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Und die sind am besten in nüchternen Zahlen zu beschreiben: Die Arbeitslosigkeit in Lódz beträgt 18 Prozent und ist damit deutlich höher als in den anderen Großstädten in Polen. Noch düsterer sieht die demografische Entwicklung aus. Im 19. Jahrhundert gehörte Lódz zu den am schnellsten wachsenden Städten Europas. Als Izrael Kalmanowicz Poznanski 1866 sein Grundstück an der Kreuzung Ogrowdowa/Zachdonia kaufte, zählte die Stadt etwas mehr als 40.000 Einwohner. Zur Jahrhundertwende hatte sich die Zahl der Einwohner fast verzehnfacht – 314.000 Menschen wohnten nun in Lódz. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs zählte die Stadt mit 600.000 Einwohnern ihren damaligen Höchststand.

Der Rückgang der Einwohnerzahl nach dem Ersten Weltkrieg zeigt aber auch, wie sehr die demografische Entwicklung in Lódz ein Spiegel der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Eine Stadt, die einem nicht mehr bietet als Arbeit, verlässt man, wenn die Arbeit nicht mehr da ist. So war es nach dem Ersten Weltkrieg, so kam es auch – mit einiger Verspätung - nach der Wende in Polen und dem endgültigen Zusammenbruch der Texteilindustrie. Von 800.000 Einwohnern 1999 sank die Zahl der Lodzer bis 2004 kontinuierlich auf 774.000. Eine solche Entwicklung kennt man sonst nur aus den schrumpfenden Städten Ostdeutschlands.

Verstärkt wurde der Aderlass noch einmal seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union. Wie viele seitdem ihrer Stadt den Rücken gekehrt haben, weiß keiner so recht. Wohin sie aber gehen, wissen alle: nach Großbritannien und Irland. Überall in der Stadt sind die Plakate zu sehen, die der irische Billigflieger Ryan-Air anbringen ließ: Billig von Lódz nach London, Nottingham (East Midlands) und Dublin. Selbst ein Provinzflughafen wie der von Lódz bringt inzwischen genügend Arbeitsemigranten auf die Beine, damit sich das Geschäft für die Airline lohnt.

250 Flugzeuge pro Woche verlassen Polen derzeit in Richtung Großbritannien und Irland. Zwei Millionen, so die Schätzungen, haben das Land seit dem EU-Beitritt verlassen, um ihr Glück dort zu finden, wo es Arbeit gibt, höhere Löhne und vor allem Aufstiegsmöglichkeiten. In England gehören polnische Staatsbürger vor Pakistanis und Indern bereits zur größten Einwanderungsgruppe. Manchen Stadtteile wie Ealing in Westlondon sind bereits fest in polnischer Hand. Schon macht in Polen das Wort von "Wielka Polska Brytania" die Runde: Polnisch Großbritannien.

Der Grund für den Exodus, der den in der achtziger Jahren vor dem Kriegsrecht in Polen längst überstiegen hat: Anders als die meisten EU-Staaten haben Großbritannien und Irland nach der letzen EU-Erweiterung ihre Arbeitsmärkte nicht abgeschottet. Polens Elite hat ihre Chance genutzt. Selbst Baufachleute sind inzwischen rar. Es grenz fast schon an Verzweiflung, wenn die linksliberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza die Milliardengelder, die zur nächsten EU-Förderperiode 2007-2013 nach Polen fließen sollen, mit der Schlagzeile kommentiert: "Wer soll in Polen die Straßen bauen?"

Natürlich hat nicht nur Lódz mit diesem Braindrain zu kämpfen. Was für die Stadt im Schatten der Boomtown Warschau aber erschwerend hinzu kommt, ist ihr Image. Zur "Regenstadt" und "bösen Stadt", als die sie Joseph Roth und Zygmunt Bartkiewicz Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben haben, kommt nun das nicht minder depressive Wort vom "Hinterhof Warschaus". Und der wartet tatsächlich immer wieder mit Negativschlagzeilen auf. So berichten selbst ausländische Medien darüber, dass in der Fastmillionenstadt Zehntausende noch immer nicht an die Kanalisation angeschlossen sind. Um das zu ändern, müsste die Stadt 500 Kilometer Abwasserrohre bauen. In manchen Stadtteilen wie Chojny stinkt es nach Kloake. Auch die "achtarmige Krake", eine in Lódz tätige Mafiaorganisation, sorgt immer wieder für bad news.

Traurige Berühmtheit aber hatte Lódz im Januar 2002 erlangt. Damals war bekannt geworden, dass Ärzte und Rettungssanitäter von Bestattungsunternehmern 500 Euro für jeden Toten kassiert haben, den sie bei ihnen ablieferten. In einigen Fällen wurde sogar werden Mordes ermittelt. Die "Skalpjäger von Lódz", das war eine Geschichte, die man eher in der Dritten Welt, denn in der zweitgrößten Stadt Polens vermutet hätte. Plötzlich machten sich die Reporter auf nach Lódz und entdeckten nicht nur Korruption und Armut, sondern auch antisemitistische Schmierereien, die anscheinend niemanden störten. Und das in einer Stadt, in de nur 800 Juden das Ghetto von Litzmannstadt überlebt hatten. Dem ramponierten Image fügte schließlich die amerikanisch-jüdische Schriftstellerin Lilly Brett in ihrem Roman "Zu viele Männer" das Bild einer Stadt hinzu, deren polnische Bevölkerung vom Holocaust profitiert hat und dessen Opfer ein zweites Mal verschwunden sind – diesmal aus dem Gedächtnis. Das Buch hatte auch einen biografischen Hintergrund: Bretts Eltern hatten sich im Ghetto von Lódz kennen gelernt. Sie überlebten und wanderten nach dem Krieg nach Australien aus.

Inzwischen aber hat sich vieles verändert. Wer heute durch die Straßen von Lódz geht, findet allenthalben Hinweise auf die 240.000 Juden, die einst zum Aufstieg der Stadt beigetragen haben. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet das "Festival des Dialogs der vier Kulturen", das seit 2002 an das einstige Miteinander von Polen, Juden, Deutsche und Russen erinnert. Für Festivaldirektor Ryszard Maciej Okunski baut das Festival nicht nur eine Brücke zwischen den Kulturen, sondern auch "zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart". Besonderes Augenmerk, so Okunski, gilt dabei auch der Begegnung von Polen und Juden im Lódz von heute. Mit einiger Verspätung hat die Stadt entdeckt, was in Krakau längst Alltag ist. Dort geht das "Festival der jüdischen Kultur" bereits ins siebzehnte Jahr. Mit diesem Festival, kommentierte die Journalistin Anna Mateja von der liberalen katholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny, "hörte Krakau für die Juden auf, ein Friedhof zu sein".

In Lódz dagegen wird der "Friedhof", das ehemalige Ghetto im Stadtteil Baluty, gerade erst entdeckt. Einen entscheidenden Anstoß dafür gab Stadtpräsident Jerzy Kropiwnicki - am 60. Jahrestag der Liquidierung des Ghettos Litzmannstadt: "Dieser Jahrestag", sagte Kropiwnicki, "ist unsere letzte Chance, der Welt zu zeigen, dass wir unsere Juden nicht vergessen haben." Im gleichen Jahr wurde am ehemaligen Bahnhof Radegast, von dem die meisten der Lodzer Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager Kulmhof und Auschwitz deportiert wurden, ein Ghettomahnmal errichtet – in Gestalt eines Krematoriums, auf dem in Polnisch, Hebräisch und Englisch steht: "Du sollst nicht töten."

Inzwischen führen auch ausgeschilderte Touristenwege "Auf den Spuren der Lodzer Juden" durchs jüdische Lodz und das ehemalige Ghetto. Eine spätere Rehabilitierung erfuhren dabei auch der Lodzer Schriftsteller Julian Tuwim, der nach dem Krieg als einer der ersten Juden nach Polen zurückgekehrt war, und natürlich Izrael Poznanski, ohne dessen Fabriklandschaft Lódz heute um eine Attraktion ärmer wäre.

Der Imagewandel, den Lódz mit der Wiederentdeckung des Ghettos und der jüdischen Vergangenheit der Stadt eingeleitet hat, hat sich inzwischen nicht nur bei Touristen herumgesprochen, sondern auch bei Investoren. In jüngster Zeit haben unter anderem Bosch-Siemens-Hausgeräte, General Electric, Gillette, Coca Cola, Philipps und ABB in der Stadt investiert. Zu den Tausenden von kleinen und Kleinstunternehmern, die nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie und der Märkte in der Sowjetunion ihr Glück versuchten , bilden sie das Rückgrat des neuen Aufschwungs im "Hinterhof von Warschau."

Im neoklassizistischen Rathaus in der ulica Piotrkowska 104 gilt es inzwischen als offenes Geheimnis, was neben dem Imagewandel die neue Attraktivität von Lódz im polnischen und internationalen Städtewettbewerb ausmacht. "Wir sind billig. Löhne, Mieten, Lebenshaltungskosten, all das ist in Lódz niedriger als im Rest Polens. Im Vergleich zu uns ist Warschau oft doppelt so teuer."

So setzt man im Rathaus erneut auf jene Standortfaktoren, die Lodz im 19. Jahrhundert auf wundersame Weise an die Spitze europäischer Städte katapultierte. Und siehe da, die Signale aus dem Schnäppchenparadies werden in der Welt gehört, zum Beispiel von Hendrik Kampmann aus dem niedersächsischen Lingen. Der produziert in Lodz Heizkörper für den polnischen Markt bauen: "Unsere polnischen Mitarbeiter verdienen etwa ein Viertel von dem, was wir in Deutschland bezahlen müssen." Ebenfalls aus Deutschland kam 2005 der Maschinenbauer Anton Haering von Bubsheim auf der Schwäbischen Alb ins polnische Billigparadies Lódz. Haering investierte 50 Millionen Euro und schuf 300 Arbeitsplätze.

Den dicksten Fisch aber haben die Lodzer gerade mit dem Computerhersteller Dell an der Angel. Das US-Unternehmen will sein zweites Computerwerk in Europa in Polen bauen – und hat sich nicht für Warschau oder Posen entschieden, sondern für Lódz. 200 Millionen Euro sollen zunächst investiert werden, tausend Menschen sollen Arbeit finden. Wenn alles gut läuft, heißt es im Lodzer Rathaus, könnte die Investition bei den Zulieferbetrieben 10.000 neue Jobs schaffen.

Sucht man in Lódz nach dem Ort, der den Boom im Schatten Warschaus möglich gemacht hat, muss man sich nicht nur ins Rathaus an der ulica Piotrkowska 104 aufmachen, sondern auch in Richtung Ksiezy Mlyn. In unmittelbarer Nachbarschaft zum umstrittenen Loftprojekt von Opal Property Development hat Marcin Nowacki sein Büro. Nowacki ist 24 Jahre alt, und hat den derzeit vielleicht wichtigsten Job seiner Stadt inne – er leitet die Sonderwirtschaftszone Lódz, eines von insgesamt 14 Steuerparadiesen in ganz Polen.

Der neue Boom der Stadt, das sind zunächst einmal Zahlen. Nowacki rechnet vor: 2005 konnte seine Sonderwirtschaftszone 16 Unternehmen nach Lódz holen, 2006 waren es bis zum Herbst bereits 25. Und der Boom wird weitergehen, verspricht Nowacki. "Krakau, das ist in Polen Vergangenheit, Warschau ist die Gegenwart, die Zukunft heißt Lódz."

Doch ist "billig" wirklich ein Erfolgsrezept? Natürlich, räumt Marcin Nowacki ein, sind die niedrigen Löhne für die Hochqualifizierten ein weiterer Grund, ins Ausland zu gehen. Auf der anderen Seite ziehen billige Mieten und Lebenshaltungskosten auch junge Leute in die Stadt. "Lódz", sagt Nowacki, "ist inzwischen die beliebteste Studentenstadt in Polen. Nirgendwo lässt es sich mit wenig Geld so gut leben wie hier."

Tatsächlich haben die mehr als 100.000 Studenten Lódz inzwischen den Stempel aufgedrückt. Mit ihnen hat auf der Piotrkowska tagsüber die Coffee-Shop Kultur Einzug gehalten. Abends und nachts sind die Keller der Studentenkneipen voll. Selbst ein kleines Literatur- und Galeriecafé wie das Café Verte kann sich auf der Flaniermeile halten. Zur beliebtesten Universitätsstadt Polens aber ist es noch ein weiter Weg. Anders als in Warschau, Krakau oder Breslau kommen 90 Prozent der Studenten in Lódz aus der unmittelbaren Umgebung. Für die Stadtverwaltung ist das ein Grund, inzwischen in ganz Polen für die Hochschulen der Stadt zu werben. Auch hier lautet das Motto: "Kommt nach Lódz, nirgendwo ist es billiger."

Was der Stadt bei ihren Bemühungen tatsächlich helfen könnte ist nicht nur die neue Aufmerksamkeit von Lódz gegenüber seiner eigenen Geschichte. Auch der Mythos der Filmstadt steht vor einer Renaissance. "Lódz wird wieder boomen". Das jedenfalls verspricht Lukasz Dzieciol, der in der Stadt die Opus Filmstudios betreibt. Gerade erst hat Opus den Film "Z odzysku" von Slawomir Fabicki produziert, der beim Filmfestival in Cannes lief und dort einige Aufmerksamkeit erregt hat. Was Dzieciol aber zum Symbol des neuen Booms in Lódz macht, sind nicht nur seine Erfolge als Produzent – es ist auch sein Werdegang im Filmgeschäft. Vor einigen Jahren war er nach Los Angeles gegangen, um dort mit den Größen Hollywoods zusammenzuarbeiten. Doch das kommerzielle Filmbusiness trieb ihn wieder nach Polen zurück. Dass Dzieciol nach Lódz und nicht ins benachbarte Warschau zurückkehrte, beschreibt er so: "Für einen Produzenten hat die Stadt unglaubliche Vorteile. Nirgendwo gibt es so wunderbare Filmstudios wie in Lódz. Vor allem aber gehören zu Lódz die vielen Enthusiasten und die Absolventen der Filmhochschule."

"Panstwowa Wyzsza Szkola Filmowa, Telewizyjna i Teatralna". So heißt die Filmhochschule in der ulica Targowa 61 ganz offiziell. Tradition wird großgeschrieben in der staatlichen Einrichtung, die Lódz nur durch eine List der Geschichte bekommen hat. Weil Warschau nach 1945 von den Deutschen zerstört worden war, verlegte die polnische Regierung ihre Hauptstadt für einige Jahre ins benachbarte – und unzerstörte – Lódz. Zwar kehrte der Regierungstross bereits 1947 wieder an die Weichsel zurück. Doch die Filmschule, deren Gründung man beschlossen hatte, sollte an der Lodzka bleiben. Begeisterung rief das allerdings nicht überall hervor. In seiner Autobiographie urteilte Roman Polanski über Lódz nicht anders als zuvor schon Joseph Roth und die anderen Autoren aus der Vorkriegszeit: "Es ist ein Drecksnest. Ich frage mich, ob ich es hier aushalten werde."

Polanski hielt es aus, und mit ihm all die anderen, die die harte Schule in der ulica Targowa durchliefen. Und durchlaufen wollen. Der Run auf die Filmhochschule ist ungebrochen, und die Aufnahmebedingungen sind so rigide wie eh und je, schreibt der Schweizer Autor Mikael Krogerus in seiner Innenansicht der Schule: "Die angehenden Kameraleute müssen zum Beispiel die exakte Uhrzeit anhand der Lichtverhältnisse auf Fotos ihrer Bewerbungsmappe bestimmen, Szenen inszenieren und sich schließlich im berüchtigten Interview der Prüfungskommission stellen. Polanski brauchte zwei Anläufe, Kieslowski sogar drei." Dass das Filmgeschäft, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in Warschau gemacht wird und selbst Andrzej Wajda seine Regisseurschule in der Hauptstadt gegründet hat, interessiert die Enthusiasten wenig. Lódz, sagen sie sich wie Lukasz Dzieciol, ist anders. Anders als Warschau und anders als Hollywood.

Einer, der ebenfalls immer wieder nach Lódz kommt, ist der amerikanische Regisseur David Lynch. Mit Filmen wie Velvet Underground, Wild at heart oder Mullholland Drive weltweit bekannt geworden, war Lynch erstmals im Jahr 2000 in Lódz – und hat sich sofort in die Stadt verliebt. Seinen neuen Streifen "Inland Empire", der 2006 ebenso wie der von Opus produzierte "Z odzysku" auf dem Festival in Cannes lief, hat Lynch sogar teilweise sogar in Lódz gedreht. Auch dieses Detail ist die Geschichte einer Rückkehr. Schließlich sei ihm die Idee für diesen Film in einem Lodzer Hotelzimmer gekommen, "in einem kleinen, grün gestrichenen Schlafzimmer, in dem auch die ersten Szenen des Films spielen".

Anlass für Lynchs erste Stippvisite in den "Hinterhof von Warschau" war das Festival "Camerimage". Als Hommage an die besondere Bedeutung der Kameraleute in Polen und die Ausbildung, die sie an der Filmhochschule genießen, findet das Festival seit 2000 statt. David Lynch war das Festival in der Folgezeit Grund genug, sein Engagement in Lódz auf feste Beine zu stellen. Nach langen Verhandlungen gab Lynchs "Stiftung Weltkunst" im Herbst 2006 bekannt, einen weiteren Fabrikkomplex in Lódz neu beleben zu wollen – das Gelände des Kraftwerks EC1 in unmittelbarer Nähe der Filmhochschule. Anders als der australische Investor Opal Property Development wird Lynchs Stiftung keine Lofts bauen, sondern ein Kulturzentrum, das vor allem zur Begegnungsstätte von Filmleuten aus aller Welt dienen soll. Dass dort in Zukunft auch das "Camerimage" stattfinden soll, gehört zu den Sentimentalitäten, die sich vielleicht nur Enthusiasten leisten können.

So stehen die verschiedenen Welten der Stadt nebeneinander, als gingen sie zueinander auf Distanz – Manufaktura, Ksiezy Mlyn, Sonderwirtschaftszone, EC1. Vielleicht aber haben sie mehr miteinander zu tun, als sie glauben mögen. Vielleicht wird ja bald wieder von Lodzermenschen die Rede sein, denen, die das "Drecksnest", von dem Polanski sprach, aus dem Dreck gezogen haben.

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