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DRUCKVERSION Meine Mütze, mein Kiez, meine Geschichte

Die meisten Berliner Museen haben das Wort Heimat schon aus ihrem Namen gestrichen. Wo sich die Bevölkerung wenig verändert, wird die Lokalgeschichte aber immer noch traditionell erzählt. Je mehr Zuwanderung es gibt, desto größer ist die Lust auf Neues. Eine Spurensuche in Neukölln, Zehlendorf und Marzahn

von UWE RADA

Wie viel Heimat steckt in einer Mütze? In einem Automaten? In einer Bombe? Im Museum Neukölln hilft kein Zettel, der schief neben den Exponaten hängt. Wer es wissen will, muss mit einem beweglichen Computerterminal die Vitrinen umkreisen, in denen diese Dinge liegen, die beispielhaft sind für Neukölln und seine Geschichte.

Etwa diese Mütze mit der arabischen Aufschrift. Hat der Computer sie erfasst, poppt ihre Geschichte auf den Monitor. "Rütli" steht da auf Arabisch, denn die Mütze ist Teil des Labels "Rütli-Wear", mit dem Nordneuköllner Jugendliche ihrer Schule ein anderes Image verpassen wollen. Weg vom Problemfall, hin zum innovativen Campus samt Modelabel: ein Stück Berliner Bildungsgeschichte - und ein Stück Neuköllner Lokalgeschichte.

Die Rütli-Mütze ist eins von 99 Objekten, die Udo Gößwald, der Leiter des Neukölln Museums, zur Ausstellung "99 x Neukölln" zusammengestellt hat. Auch der erste "Totomat" ist dabei. Mit ihm wurde die spätere Firma Bally-Wulff zum Marktführer bei Geldspielautomaten - und hat Neukölln zum Daddelbezirk gemacht. "Wir erleben gerade eine neue Hinwendung zu den Dingen", sagt Gößwald, der das Museum seit 1985 leitet.

Das Neuköllner Museum, das vor drei Jahren aus seinen Räumen hinter dem historischen Stadtbad auf den Gutshof Britz gezogen ist, präsentiert als erstes der 19 Berliner Regionalmuseen seine Dauerausstellung auf diese Weise. Gezeigt wird nicht, was gesammelt wurde. Gezeigt wird, was wichtig ist und Geschichten erzählen kann. Geschichten von Menschen, die mit dem Bezirk verbunden sind. "Das ist ein neuer Zugang, der vor allem für Jüngere interessant ist", sagt Gößwald. Der Erfolg gibt ihm recht. Fast 20.000 Besucher kommen jährlich in sein Haus. Die Zeit der Oberstudienräte ist vorbei.

Ziemlich muffige Stuben

Heimatmuseen entstanden Ende des 18. Jahrhunderts, um die Identität eines Ortes und seiner Geschichte gegen die verändernde Wucht der Industrialisierung zu verteidigen. Lange waren sie ziemlich muffige Stuben, Kabinette, in denen die Geschichte nach Verlust roch.

Oder nach politischem Auftrag. So wie im gleichnamigen Roman von Siegfried Lenz aus dem Jahre 1978. In ihm erinnert der aus Masuren stammende Ich-Erzähler Zygmunt Rogalla an die verlorene Heimat. Sein Museum hat er auf der Flucht mitnehmen können. Als es die Revanchisten für sich beanspruchen, brennt er es nieder. "Heimat ist der Winkel vielfältiger Geborgenheit", heißt es in Lenz' "Heimatmuseum". "Es ist der Platz, an dem man aufgehoben ist, in der Sprache, im Gefühl, ja selbst im Schweigen aufgehoben." Damit hat der Schriftsteller den Heimatbegriff entstaubt.

Nach wie vor etwas staubig ist es hingegen im Zehlendorfer Heimatmuseum, dem Klassiker der Berliner Heimatstuben. Seit 1886 betreibt der Heimatverein Zehlendorf das Ortsmuseum im alten Schulhaus an der Clayallee. "Die Besucher können die historischen Räume des 19. Jahrhunderts und durch die Sammlungen die Geschichte Zehlendorfs erleben", sagt Klaus-Peter Laschinsky, der Vereinsvorsitzende.

Keine Rütlimützen sind in Zehlendorf ausgestellt, sondern die Highlights der historischen Sammlung. Zum Beispiel eines von drei erhaltenen Exemplaren der "Dorfordnung" von 1665. "Damit wollten die Brandenburger Kurfürsten nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder zum geregelten Alltagsleben zurückkehren", erklärt Laschinsky. In den beiden Räumen des Museums knarren die Dielen, an den Wänden hängen Karten und vergilbte Fotos. Ganz offensichtlich ist die Zehlendorfer Heimat in die Jahre gekommen. Und ganz bis in die Gegenwart reicht sie auch nicht: "Die Ausstellung endet mit der Kaiserzeit und der Eingemeindung Zehlendorfs nach Groß-Berlin 1920", so Laschinsky. "Für mehr hätten wir auch gar keinen Platz."

Festhalten und loslassen

Das Zehlendorfer Museum will festhalten. Neukölln hat dagegen losgelassen. Die Sammlungen des 1897 gegründeten Heimatmuseums lagern im Magazin. Statt des ehrwürdigen Plunders von einst gibt es nun eine selbst gebastelte Bombe zu sehen, mit der der Rudower Lackierer Arno Funke zum Kaufhauserpresser "Dagobert" wurde.

Ganz neu ist diese Entwicklung nicht: Das erste große Aufräumen hatte schon in den achtziger Jahren begonnen. Der auf Sozialgeschichte und Alltag fokussierte Blick löste vielerorts die gewohnte Präsentation der Sammlungen ab. Der Mensch rückte in den Mittelpunkt der Museumsarbeit, stellt Harald Bortz fest, der an der Humboldt-Universität über "Heimat Berlin. Großstadtkultur, Regionalgeschichte und Materielle Kultur in kleinen Museen" promoviert hat. Das gelte bis heute, so Bortz: "Geschichte soll so vertraut gemacht werden, dass sie Rückschlüsse auf Gegenwart und Ausblicke auf Zukunft ermöglicht."

In Neukölln war es die Ausstellung "Spuren jüdischen Lebens" von 1988, die den Paradigmenwechsel einleitete. Museumschef Gößwald erinnert sich noch gut an die Debatten von damals. "Die Devise lautete: Weg von der Sammlung, hin zur Ausstellung." Dazu gehörten auch die thematische Forschung und der gezielte Ankauf von Ausstellungsstücken. "Das war ein Meilenstein", findet Gößwald, "mit der alten Museumsarbeit hatte das nichts mehr zu tun."

Mit einer Neubestimmung des Heimatbegriffs ging die Neuausrichtung der Heimatmuseen allerdings nicht einher, hat Harald Bortz in seiner Dissertation herausgefunden. Vielmehr strichen die meisten Einrichtungen den Begriff einfach aus ihrem Namen. Auch das Neuköllner Heimatmuseum wurde 2004 zum Neukölln Museum. "Mit dem Begriff Heimat schreckte man Leute ab. Wir wollten neue Wege gehen", sagt Udo Gößwald. Heute sieht er sein Haus eher als "Stadtmuseum": "Wir spielen in einer Liga mit dem Märkischen Museum oder dem Deutschen Historischen Museum."

Dabei hat sich der Heimatbegriff inzwischen wieder den Weg in die Museen gebahnt. Allerdings als Plural: Heimaten statt Heimat. Nicht mehr die Identität des Ortes gilt es heute zu bewahren, sondern die der Menschen, die immer wieder neue "Wahlheimaten" aufbauen müssen. Das ist der zweite Paradigmenwechsel der vergangenen Jahrzehnte: die Sozial- und die Alltagsgeschichte, mit denen die Heimatstuben ausgefegt wurden, weichen nun der Darstellung kultureller Differenz. Auch im Neukölln Museum findet sich dieser hybride Heimatbegriff, etwa das Modell des Ganesha-Tempels, eines der 99 Neuköllner Dinge. Nach seiner Fertigstellung wird der Sakralbau in der Hasenheide, das verrät der Monitor, sobald er die Miniatur in der Vitrine erfasst, "religiöse Heimat für 6.000 Berliner Hindus sein, die aus Indien, Sri Lanka und Bangladesch stammen. 300 von ihnen leben in Neukölln."

Wer in Marzahn-Hellersdorf nach Heimat und Heimatgeschichte sucht, wird im örtlichen Museum gleich etliche Jahrtausende zurückgeschickt: Die Dauerausstellung zur Bezirksgeschichte zeigt ein Feuersteinbeil aus der Jungsteinzeit und einen eisenzeitlichen Angelhaken. Den Jägern und Sammlern, die das Wuhletal zuerst besiedelten, folgten nach der Völkerwanderung die Slawen. Mit der Ostsiedlung kamen vom 12. bis zum 14. Jahrhundert Kolonisten. Damals wurden die Dörfer Marzahn, Hellersdorf, Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf gegründet.

"Uns war wichtig, zu zeigen, dass Marzahn und Hellersdorf eine Geschichte haben, die nicht erst mit dem Bau der Großsiedlungen begann", erklärt Museumsleiterin Dorothee Ifland die Idee hinter der Schau. "Damit wollen wir auch dem negativen Image des Bezirks etwas entgegensetzen."

Überraschung am Anger

Passend dazu stehen die beiden Häuser des Museums - im zweiten wird gerade die Schau "Marzahn-Hellersdorf 1933-1945" gezeigt - am idyllischen Dorfanger Alt-Marzahn. "Für alle, die von außerhalb kommen, ist sowohl die Geschichte als auch der Ort eine Überraschung", freut sich Ifland.

Anders als im Westteil der Stadt sind die Bezirksmuseen im Osten erst im Zusammenhang mit der 750-Jahr-Feier von 1987 entstanden. Eine konzeptionelle Debatte wie im Westen hatte es nicht gegeben. Dennoch scheiden sich die Museen heute nicht in Ost und West. Eher ist es so: Dort, wo die Bevölkerung stabil geblieben ist, wird Geschichte als Ortschronik ausgestellt. Wo es dagegen Zuwanderung gab, stieg die Lust auf Neues. Nicht mehr die Orte stehen in Neukölln oder in Friedrichshain-Kreuzberg im Mittelpunkt, sondern die Menschen, ihre importierten Heimaten, die vielsprachige Identität eines Multikultibezirks.

Dorothee Ifland weiß, dass auch sie ihre Dauerausstellung anders hätte aufziehen können. Die 775-Jahr-Feier Berlins im vergangenen Jahr hat es gezeigt. Als "Stadt der Vielfalt" und "Stadt der Einwanderung" wurde Berlin da präsentiert. "Auch wir hätten die Geschichte von Marzahn und Hellersdorf als Migrationsgeschichte zeigen können", sagt Ifland und nennt mögliche Stationen einer solchen Zeitreise. "Die Slawen hätten den Anfang gemacht, weitergegangen wäre es mit den Kolonisten bis hin zu den Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion."

Etwas Bedauern schwingt bei dieser Aufzählung mit - schließlich weiß Ifland, dass sie damit auf der Skala der Bezirks- und Ortsmuseen eher in der Liga von Neukölln und Kreuzberg-Friedrichshain gespielt hätte als in der von Zehlendorf. Und warum ist es anders gekommen? "Wir müssen auch an unser Publikum denken", sagt Ifland und richtet den Blick nach vorne. "Demnächst bauen wir das Obergeschoss der alten Schule aus", freut sie sich. "Dann können wir endlich auch die Ausstellung um das Thema Großsiedlungen erweitern."

Bisher nämlich endet die museale Geschichte von Marzahn und Hellersdorf im Jahr 1970. Da waren die Schlafstädte, die sich heute rings um den Dorfanger erheben, noch nicht Geschichte, sondern Zukunft.


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